Stückwerk des Wunders
Nachruf auf Gennadij Ajgi


Das dichterische Werk Gennadij Ajgis, das seit den 1950er Jahren unter den Bedingungen der sowjetischen Öffentlichkeit und Zensur entstanden ist, hat niemals Konzessionen gemacht. In seinem Zentrum steht das Vertrauen in die Leser, und das verleiht ihm ein spezifisches Gewicht. Es handelt sich um ein Vertrauen in das Gleichgewicht von Schweigen und Sprache, von Schlaf und Poesie, von Naturlaut und Wort: ein Gleichgewicht, das Menschen und Dinge, Lebende und Tote benötigen.

und plötzlich mit den dingen fühle ich:
machen wir nicht etwas wie mit menschen
und fühlen wir mit den menschen
daß wir etwas machen wie mit dingen
und durch das leben der lebenden
wie von wirbelndem schnee
wird gleichsam betont
die totheit der toten
und
wie durch die arbeit der welt dein kopf
die sterne - reißend den verstand empor
die winde hinter den sternen - ausreißend licht
/immer weiter - nebligkeit/


Gennadij Ajgi (geb. 1934) entstammte dem Schamanengeschlecht einer alten Volkskultur am mittleren Lauf der Wolga, aus der Tschuwaschkaja, die als autonome Republik ihre Traditionen in die Gegenwart zu retten suchte. Auf Anregung von Boris Pasternak begann der junge Literaturstudent in Moskau 1953 in russischer Sprache zu schreiben. Ohne jede Möglichkeit der Publikation in der ehemaligen Sowjetunion ist in 50 Jahren ein Werk entstanden, das Kennern der russischen Dichtung im Ausland nicht verborgen blieb: "Beginn der Lichtung", (die erste deutsche Übersetzung von Karl Dedecius) erschien 1971 und wurde 1993 wiederaufgelegt. In den 90er Jahren erschien eine 2-bändige von Felix Philipp Ingold übersetzte und herausgegebene Ausgabe seiner Ausgewählten Werke (Wien-Lana 1995/1998).

Ein Dichter und ein Maler, Charles Baudelaire und Kasimir Malewitsch galten ihm als Fixsterne am Himmel seiner Poesie: Baudelaires brand/vom papier in die welt und Malewitschs arbeit um wie vom himmel gesehen zu werden. - Man könnte die Kräfte umschreiben, die sich zwischen diese Einflussgebiete spannen: - Leidenschaft für die Schwerkraft des Diesseits und Verlangen nach der gegenstandslosen Leichtigkeit des Jenseits. Damit hätte man den fragilen Rahmen für das dichterische Kraftfeld von Ajgi.
Ajgis Gedichte sind Felder des zuinnerst Lebendigen im Flussbett der Gegenwart. Das "Hier", das in der Gegenwart liegt, fließt aus der Stille ins Wort, sucht und findet, wenn es eine unerträgliche Bedeutung und Schwere zu gewinnen droht, Befreiung in Wort und Schweigen. "Lichtung", "Feld", "Rose", "Hügel", "Schnee", die immer wiederkehrenden Marken in den Textkörpern, erscheinen als die essenz der verstecke die menschen behüten.

Ajgis singender Gedichtvortrag bot für den, der ihm lauschte, ein seltenes Beispiel lebendiger Dichtung. Man nahm an ihm teil wie an dem Spiel von Kindern. Jedes Kind schafft sich einen unmittelbaren Raum seines Lebens im Vertrauen auf die Welt, gleiches tun die Gedichte Ajgis: Sie öffnen den unverbrauchten Raum des Hier mit seinen Quellen und zeigen, dass er durch nichts zu ersetzen ist. In Widmungsgedichten für seine Freunde und Kinder, z.B. in Veronikas Heft (1986/1993), einem Gedichtzyklus auf die ersten 6 Monate im Leben seiner Tochter Veronika, gewinnt etwas davon Gestalt, was man die Transzendenz der Kindheit nennen möchte.
Diese Welt rührt uns bisweilen an durch das bloße Stückwerk des ,Wunders' selbst - durch ihr eigenstes Wesen, und geschehen tut dies auf ganz schlichte Weise, so als legte einem jemand die Hand auf die Schulter, doch diese Schlichtheit ist etwas vom Allerunerklärlichsten unter dem, was wir für existent halten - schrieb Ajgi in einem Gesprächs-Essay, 1985 (Aus Feldern Rußland, Frankfurt am Main, 1991). Seine Gedichte sind mit ihren Chiffren und Intonationen sind "Welten-Gaben", die bleiben werden. - Am 21. Februar starb der Dichter Gennadij Ajgi mit 71 Jahren in Moskau.

Manfred Bauschulte