In Polyphems Höhle



Ein alter Traum der Literatur ist es, das Korsett aus Raum und Zeit zu sprengen. Die Dinge aus dem öden Nacheinander des täglichen Sprechens zu lösen und sie in die Schwebe zu bringen – für Novalis war es der Geist, der dieses Vermögen hat, Robert Musil nannte es schlicht „Möglichkeitssinn”. Als wären die Texte kleine Kraftfelder, in welchen sich die Gedanken und Sätze anziehen und abstoßen, ohne feste Hierarchien, ohne Anfang und Ende.
Die Dichterin Barbara Köhler geht in ihrem neuen Buch dorthin zurück, wo es mit dem Sprechen einmal seinen Anfang nahm. In Homers „Odyssee” sucht sie nach einer Sagweise, die unsere vertrauten Kategorien unterläuft und die Zeit aus den Angeln hebt: „Sage mir muse wer Es ist was Er wer Homer & warum / ist Es wichtig & Es zu wissen sag mir wer du bist / was Ich ist”.

Die Umschreibung von Homers berühmten Eingangsversen führt mitten hinein in die Frage, was die Verwendung der Wörtchen „ich”, „er” und „sie” eigentlich ausmacht.
Mit kleinem Webschiffchen
Doch Köhlers wuchtiges Gegenepos ist weit mehr als eine semantische Fingerübung. Listig folgt die Dichterin dem Homerschen Helden in Polyphems Höhle. Und wird Zeuge, wie Odysseus den Zyklopen ausspielt. Auf Polyphems Frage, wer ihn denn geblendet habe, vernuschelt Odysseus den eigenen Namen so, dass die Antwort im Griechischen wie „Niemand” klingt. Dieses „Niemand” setzt für Köhler gleichsam den Nullpunkt aller Ich-Vorstellungen, allen Denkens und Sprechens, wobei in diesem Nukleus nicht nur versteckt ist, was einmal die abendländische Rationalität werden soll, sondern noch eine zweite Welt, ein nichtlineares, vielstimmiges Sprechen, „das gegenspiel die gegen / spielerin das andre aus dem einen”.

Jener Spielerin einer anderen Welt, sie mag Penelope heißen, Kirke, Kalypso oder eben „Niemands Frau”, leiht Barbara Köhler ihre Sprache. „Niemands Frau” erschreibt sich die Motive der Odyssee nicht nur über das Sprechen der weiblichen Gestalten, es buchstabiert das „gegenspiel” auch in die Sprache hinein. Schon in ihren beiden ersten Gedichtbänden „Deutsches Roulette” und „Blue Box” zeigte Barbara Köhler sehr genau das Kollern und Holpern der Sprache. Auch das „Gewebe des Grundes”, den Raum der Lyrik, einen Simulationsort gewissermaßen für die Stimme des Gedichts selbst. Nun verschiebt sie immer wieder Redewendungen oder nimmt sie beim Wort, biegt die Satzteile auf und verdrahtet sie neu. So potenziert sie die Bezüge und erzeugt ein Geflecht, das in sich beweglich bleibt, nicht unähnlich jenem Leichengewand, das Penelope täglich knüpft und am Abend wieder auftrennt.

Das kleine Webschiffchen, das Barbara Köhler den großen Schiffen der männlichen Helden entgegensetzt, arbeitet aber nicht immer so, wie es sich die Dichterin wünscht. Nicht nur gibt es allerlei Kanten und unreine Nähte zu entdecken, es werden auch Unmengen von Diskursen aufgerufen. Neben der Gender-Diskussion, den „stimmen / der verblichenen” von Homer bis Thomas Kling, neben Fachsprachen aus der Computerwelt oder Kinozitaten fügt Köhler ihren 21 Gesängen noch drei kommentierende Nachworttexte an, die offenbar Teil des Gesamtgefüges sein sollen. Und hier wie schon in einigen Texten zuvor wird das Material nicht verwoben, sondern nur lose in den Text eingezogen, die Sprache zur reinen Mitteilung benutzt.

So wirkt die Suche nach Gleichzeitigkeit bisweilen didaktischer, als es das linearste Schreiben sein könnte. Ein Glück, dass man als Leser jederzeit zurückblättern kann. Zu jenen Stücken von „Niemands Frau”, die mit ihrem Klang und ihrer Stimmführung tatsächlich suggestiv pulsende Gesänge sind.

Nico Bleutge



Barbara Köhler – Niemands Frau. Gesänge. Mit einer CD. Frankfurt am Main 2007

Dies ist eine vereinfachte Darstellung der Rezension von Nico Bleutge vom 07-03-2008 in der SZ wie sie auch unter
http://sz-shop.sueddeutsche.de/mediathek/shop/catalog/ShowMediaDetailVP.do?pid=4259432
abrufbar ist.