WIE SCHNELL VERDIRBT DAS HEIL
Zur Wiederentdeckung des katholischen Dichters und Mystikers Konrad Weiß



Im Jahr 1920 kommt es zu einer Schlüsselszene im Widerstreit der literarischen Revolutionen und Gegenrevolutionen. Während Kurt Pinthus in seiner „Menschheitsdämmerung“-Anthologie die tonangebenden Dynamiker des Expressionismus versammelt und die „Symphonie jüngster Dichtung“ orchestriert, treffen abseits der Boheme-Treffpunkte zwei Außenseiter des literarischen Lebens aufeinander. Carl Schmitt, der konservative Staatstheoretiker und spätere Kronjurist des „Dritten Reiches“, begegnet dem Dichter Konrad Weiß, einem schwäbischen Mystiker und christlich-theologischen Antipoden des Expressionismus. In einem Brief aus dem Gefängnis schilderte Schmitt später diese Begegnung als einen der weltanschaulichen Wendepunkte seines Lebens. Denn er habe sich damals Konrad Weiß zu seinem Lieblingsdichter erkoren, er sei zu einem der wenigen Bundesgenossen geworden in seinem „Ringen um die eigentlich katholische Verschärfung“.

Der Theoretiker der Entscheidung und kurzzeitige Apologet von Hitlers Terror-Justiz und der fromme Marien-Dichter – wie passt das zusammen? Um einen Zusammenhang zwischen autoritärer Staatslehre und katholischer Mystik herstellen zu können, muss man sich der geistigen Strömungen vergewissern, die im Tohuwabohu der damaligen Kunstrevolutionen prägend waren. Faszinierend widersprüchliche Gestalten wie Carl Schmitt, Konrad Weiß oder Hugo Ball bildeten in den 1920er Jahren das Kraftfeld eines ästhetischen und politischen Katholizismus, der in der intellektuellen Öffentlichkeit im Gegensatz zu heute noch auf eine enorme Resonanz stieß. Im Zentrum dieses katholischen Kreises stand der Publizist Carl Muth, der 1903 in München die Zeitschrift „Hochland“ gründete, eine „Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und der Kunst“, die sich die Rekonstruktion eines anspruchsvollen literarischen Katholizismus zur Aufgabe gemacht hatte. 1905 gewann Muth den damals noch unbekannten Theologen Konrad Weiß für seine Redaktion; Weiß wurde „Hochland“-Redakteur für bildende Kunst. In den folgenden Jahren kam es immer wieder zu Streitigkeiten mit dem Chefredakteur; 1920 entschloss sich Weiß, zu den „Münchner Neuesten Nachrichten“ überzuwechseln, einem Vorläufer der „Süddeutschen Zeitung“.

Dazwischen liegt 1914 das dichterische Erweckungserlebnis des Kunstkritikers Weiß, das Gedicht „Nachtlied“ formuliert sein poetisches Erwachen: „die Seele tritt aus ihrem dunklen Bild heraus.“ Hier beginnt nun der einzigartige literarische Entwicklungsweg des Dichters Konrad Weiß, hier formt sich die Stimme eines tief religiösen Dichters und christlichen Mythologen, der aus den Motivbeständen der Bibel und Heiligenlegenden schöpft. Der erste Gedichtband mit einer klassischen Gebetsformel als Titel: „Tantum dic verbo“ („Und sag nur ein Wort“) erschien 1918, danach folgten noch zehn weitere Sammlungen mit Gedichten und lyrischen Prosadichtungen. Im Gewimmel der selbsternannten Literaturrevolutionäre ging Weiß einen sehr einsamen Weg. Der Sohn eines schwäbischen Kleinbauern war am 1.5. 1880 in dem winzigen Flecken Rauenbretzingen bei Schwäbisch-Hall in ärmlichste Verhältnisse hineingeboren worden. Den Plan, Priester zu werden, gab der Student der Theologie und Germanistik bald auf.

Aber an seiner religiösen Berufung hielt er fest – als, wie man posthum wohl sagen darf, bedeutendster geistlicher Dichter und Marien-Mystiker des 20. Jahrhunderts. Rudolf Borchardt hat die wohl prägnantesten Worte für Weiß´ Dichtkunst gefunden: „jawohl, ein Dichter, dunkel aus Demut, und undurchdringlich aus echter Bescheidenheit.“ Die geistlichen Dichtungen von Weiss sind gänzlich theologischen Bildern und den biblischen Urszenen von der Gottesmutter Maria und der Heiligen Familie hingegeben. Was heute kaum ein Autor mehr wagen würde, hat Weiss zu seinem lyrischen Grundsatzprogramm gemacht – die direkte Ansprache der Heiligengestalten, das Gedicht als inniges Gebet. Als dunkle Melodien, murmelnde Beschwörungen, die als Selbstgespräche der Seele nach innen gerichtet sind, strömen diese Verse dahin, bis sie im semantischen Innenraum ihren theologischen Glutkern erreichen. Und immer wieder geht es dabei um „Mangel“ und „Hunger“ des Menschen, um die Schuldhaftigkeit seines Daseins. „Wie schnell verdirbt das Heil“, heißt es im Gedicht „Bittgang“. So arbeiten die Dichtungen von Weiss an der Rekonstruktion des Verlorenen, an der Wiederherstellung der zerspaltenen Welt und der poetischen Neubegründung von „Heilsgeschichte“.

Konrad Weiß hat zu seinen Lebzeiten und auch nach seinem Tod im Januar 1940 nur einen ganz kleinen Kreis von Lesern gefunden. In Deutschland war es der große Übersetzer Friedhelm Kemp, der für ein Weiterleben des Dichters sorgte, indem er 1961 die Dichtungen und Briefe edierte, eine Ausgabe, die längst vergriffen ist. Vor drei Jahren hat Botho Strauß für die Wiederentdeckung des „Sprachkünstlers“ Weiß geworben – ein Projekt, das nun Norbert Hummelt in der von ihm neu konzipierten „Lyrikedition 2000“ in bewundernswerter Weise realisiert hat. Hummelt hat aus allen Werkphasen des Autors 59 Gedichte zusammengetragen, nach Motiven geordnet und mit einem ausgezeichneten Nachwort versehen. Es ist überaus beschämend und blamabel für den Literaturbetrieb, dass Hummelts grandiose Ausgrabung eines vergessenen Dichters bislang kaum bemerkt worden ist. Wer aber einmal in den Lichtkreis der Rätselbilder des schwäbischen Mystikers Konrad Weiß geraten ist, den wird ihr geheimnisvolles Glimmen noch lange begleiten.


Michael Braun


Konrad Weiß: Eines Morgens Schnee. Gedichte. Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Norbert Hummelt. München 2006