Betäubt vom Lärm der Jahrhunderte
Die Weltaneignungsgeschicklichkeit des Dichters Ales Steger in seinem
"Buch der Dinge"
Ist eine Fußmatte poetisch? Oder ein "Händetrockner" mit
seinem eigenartigen Gebläse? Kann uns der "Bandwurm", kann uns
der "Scheibenwischer" im Gedicht zu neuen Weiterungen unseres Bewusstseins
verhelfen? Der junge slowenische Lyriker Ales Steger bietet eine ganze Menge
origineller Einfälle, überraschender Motiv-Verknüpfungen und
kleiner grotesker Bilder-Verkettungen auf, um uns von der Poetizität solcher
unauffälliger Dinge zu überzeugen.
Der 1973 geborene Steger ist bekannt geworden als charmanter und sehr polyglotter
Kommunikator auf großen internationalen Poesie-Festivals, ein Spiritus
Rector interkultureller Dichter-Begegnungen am südöstlichen Rand Europas.
Sein erster auf deutsch übersetzter Gedichtband Kaschmir erschien 2001
in der rührigen "edition korrespondenzen", ohne sonderlich aufzufallen.
Mit seinem vierten Gedichtbuch, dem Buch der Dinge, versucht er sich nun an
einem der schwierigsten Projekte, die in der modernen Lyrik möglich sind.
Ohne allzu viel Bescheidenheit signalisiert Steger, dass er sich an den großen
Elementarbüchern der Dinge messen will. Und hier gibt es durchaus Referenzgrößen,
die Werke von kaum überbietbarer Intensität vorgelegt haben.
Zum Beispiel der französische Dichter Francis Ponge (1899-1988). "Und
die Vielfalt der Dinge ist das, woraus ich eigentlich bestehe": So lautet
ein Schlüsselsatz aus Ponges lyrischem Evangelium der Dinge, das er vor
rund siebzig Jahren formuliert hat. Ponge gilt bis heute als der Pionier einer
Dichtung der Dinge schlechthin, der in hyperrealistischer Einkreisung sinnlich
fassbare Phänomene wie "Brot", "Kiesel", "Kerze",
"Tür" oder "Zigaretten" zu einer neuen Evidenz verhalf.
Und zu den Elementarbüchern in diesem Genre gehört auch Inger Christensens
grandiose poetische Schöpfungsgeschichte alfabet, die in zunächst
knappen, dann immer weiter ausgreifenden Sequenzen die Natur und die Dinge der
Menschenwelt heraufruft.
In sieben Kapiteln will nun Stegers zyklisch angelegtes Buch der Dinge die poetischen
Realien aus den Werken von Ponge neu akzentuieren. Auch Steger schreibt über
"Brot" und "Kerze", fügt aber noch allerlei Gebrauchsgegenstände
aus unserer Alltagswelt hinzu: den besagten "Händetrockner" etwa,
das "Aspirin", die "Sülze" oder die schlichte "Wurst".
Stegers Phänomenologie der Dinge ist jedoch alles andere als realistisch:
Nach einer ersten sinnlichen Kontaktaufnahme mit den einzelnen Gegenständen
gestattet Steger seinem lyrischen Alter Ego die Lizenz zu diversen Assoziationen
und Abschweifungen - bis zu dem Punkt, an dem er sich entschlossen von den Dingen
absetzt. In jedem dieser kunstvollen, manchmal auch sehr übermütigen
Ding-Gedichte wählt er einen anderen Weg der Einfühlung, Umkreisung,
Überhöhung oder Abstandnahme. es geht in diesen Gedichten nicht um
poetische Besitzergreifung des je spezifischen Gegenstands, sondern um das konkrete
Objekt als poetischem Glutkern, der die Dinge von innen heraus aufstrahlen lässt.
Steger entwickelt hierbei eine unbändige Forscherlust, diese Welt der Sachen
in Bewegung zu bringen, sie mit Phantasien aufzuladen.
Man staunt über die elegante Weltaneignungsgeschicklichkeit, mit der Steger
seinen Katalog der Dinge anlegt. Er erprobt die unterschiedlichsten Annäherungsformen:
Es gibt philosophische, sprachspiel-verliebte, zeithistorisch akzentuierte,
aber auch maniriert-groteske Gesten, mit denen er die Eigenheiten der Dinge
zur Erscheinung bringt.
In seinem Exkurs über "Brot" ist das Lebensmittel selbst das
aktive Subjekt, das seinem menschlichen Nutzer die Bedingungen seines Handelns
vorrechnet: "Jeden Abend wiederholst du dieses Spiel aus Mehl. / Es schuf
dich als Verbrennungsofen deiner Schuld." In solchen Gedichten bleibt er
nah am poetisch evozierten Gegenstand. In seiner Abhandlung über den "Regenschirm"
zieht er die Heiligenlegende vom heiligen Sebastian als Topos heran, um einen
etwas überinstrumentierten Vergleich zu legitimieren. Bereits hier treibt
er die metaphorische Kühnheit ziemlich weit. Das Prasseln der Tropfen auf
den Regenschirm erscheint als existenziell-medizinische Grenzsituation: "Ihr
bleibt stehen und lauscht dem dumpfen Dröhnen zwischen seinen Rippen. /
Ein Kammerflimmern zweihundert Pädophiler vorm Infarkt." Mit erkennbarer
Leidenschaft für eine grelle Bildlichkeit versucht Steger seine Dinge zu
illuminieren. Wo er nah an den Objekten bleibt, lässt man sich überzeugen
und auch faszinieren von den Gedichten. In den stärksten Momenten seiner
Ding-Poesie erweisen sich die Gegenstände als Zeit-Kerne, in denen unzählige
dramatische Geschichten und Menschenschicksale verkapselt sind. Wie zum Beispiel
im "Mantel": "Erinnerst du dich an den Archivar, der Selbstmord
beging / Wegen eines einzigen verlegten Blatts? / An die drei Bibliothekarinnen,
die nie aus dem Magazin zurückkehrten ? / An den Geschichtsstudenten, der
dem Dozenten bei der Prüfung die Kehle durchbiß, / Weil er sich an
den Preis von Kartoffelsuppe im Mai 1889 nicht / erinnern konnte?" Auch
auf einem schlichten "Stuhl" kann sich die Zeitgeschichte abgelagert
haben - als ein ständig sich wandelnder Sitzriese, der einen aber auch
enervieren kann: "Betäubt vom Lärm der Jahrhunderte. Du beginnst
zu schnarchen."
Man sieht an solchen Beispielen, wie wenig Steger an kohärenter Bildlichkeit
oder thematischer Strenge gelegen ist. Hier ist ein metaphorisch übermütiger
Ding-Forscher am Werk, der, wenn er sich seinen Gegenständen nähert,
immer auch sein Materialbewusstsein und seine Formen-Virtuosität vorführt.
Bei so viel Spiellaune und Pointierungslust missraten in einigen Fällen
die Metaphern, etwa wenn er die "Wurst" in die Geschichte der politischen
Jahrhundertverbrechen einschreibt: "Sechs Millionen vergaste Salami, koschere,
im Zweiten Weltkrieg / Und eine Million niedergemachte feurige Würstchen
vom Balkan fünfzig Jahre danach. / Zugleich herrscht Sorge. Die Zahl der
dicken Mortadellas wächst."
Ja, manchmal gibt es wirklich Anlass zur "Sorge" in diesen Gedichten.
Wenn nämlich der phantastische Esprit des Dichters wie hier in eher untauglichen
Humor umschlägt. Dieser hochbegabte, alle Register der modernen Poesie
virtuos beherrschende Dichter Sloweniens - er berauscht sich mitunter allzu
bereitwillig an seinem lyrischen Großmeistertum.
Michael Braun
Ales Steger: Buch der Dinge. Aus dem Slowenischen von Urska P.
Cerne und Matthias Göritz. Mit einem Nachwort von Matthias Göritz.
Frankfurt am Main 2006