Ich, der Mythologe, glotze nur
Durs Grünbein schützt sich mit "Strophen für übermorgen" gegen die Furien


Wenn Dichter in den Pantheon des Ruhms aufsteigen, fürchten sie offenbar den Angriff der Furien. Daher wappnen sie sich präventiv mit Ironie, um die wütenden Angreiferinnen abzuwehren. Auch der Ausnahmedichter Durs Grünbein, der wegen seiner gelegentlich allzu schwärmerischen Antike-Verehrung längst nicht mehr jedermanns Götterliebling ist, hat nun eine solche programmatische Verteidigungsposition bezogen.
An einer Stelle seines neuen Gedichtbuchs hat sein lyrisches Ego unter einer aggressiven Redakteurin zu leiden. Sie tritt ihm als unbarmherziger Racheengel entgegen, eine magersüchtige Dogmatikerin, die kein gutes Haar an den mythologischen Neigungen des Dichters lässt. Sie fordert von dem verblüfften Verskünstler "Fakten statt Orakel" und statt Mythen "blutige, brutale Vorstadtdramen". Der Dichter ist konsterniert: "Und ich, der Mythologe, glotzte nur."

Vom Mythologisieren im Geiste seiner römischen Vorbilder hat sich Grünbein indes nicht abbringen lassen. Sein neuer Gedichtband, über 200 Seiten stark, ist ein Exerzitium in lyrischem Beharrungstrotz. In 100 Gedichten, nach Motivgruppen in sieben Kapitel gegliedert, übt sich Grünbein in poetischer Selbstbehauptung gegen den Ansturm verbissener Aktualitätspostulate. "Strophen für übermorgen": Das markiert den fortdauernden Anspruch des Dichters nicht nur auf poetische Zeitgenossenschaft, sondern auch auf die Fähigkeit zur Antizipation. Und tatsächlich überwindet der titelgebende Zyklus, der im Zentrum des Bandes steht, die antikisierenden Reflexe, die sich in seinen vorangegangenen Gedichtbüchern in den Vordergrund drängten. Ein sehr heutiges Ich, apostrophiert als "der Zeuge, nach dem keiner fragt", bewegt sich im Auto durch eine menschenleere, von Technikschrott verheerte Welt, in der alles Leben erloschen scheint. Dieses Ich befindet sich im traditionell "grausamsten Monat", verirrt in den imaginären "vierzigsten April". Das einsame Subjekt ist aus der Zeit heraus gefallen, die kurz zuvor noch vertraute Lebenswelt scheint in ihr apokalyptisches Stadium eingetreten zu sein. Doch am Ende löst sich der Albtraum auf, aus dem Finalitäts-Schwindel kehrt das zutiefst erschütterte Ich in die Routinen des Alltags zurück.

Schade nur, dass Grünbeins "müder Philosoph", der hier durch die mitteleuropäische Gegenwart nomadisiert, viel zu selten "den Faden verliert". Das Problem dieses Buches liegt nämlich nicht in der Unsicherheit, sondern eher in der Gewissheitsseligkeit des lyrischen Protagonisten. In den handwerklich tadellos geformten Oden und Elegien, lockeren Alexandrinern und Blankversen spricht ein Subjekt, das in seiner kontemplativen Behaglichkeit kaum zu erschüttern ist. Mit recht gefälligen Metaphern und Denkbildern bringt Grünbein sein lyrisches Subjekt in einen Zustand klassizistischer Abgeklärtheit, der von Selbstgenügsamkeit kaum zu unterscheiden ist. In einem Aufsatz des Bandes "Antike Dispositionen" (2005) ist dieses Dilemma unfreiwillig benannt: Der bewunderte Horaz, so steht da zu lesen, sei in seiner poetischen Darstellung des römischen Gesellschaftslebens "überlegen heiter" und "allseits aufgeräumt". Diese Überlegenheit und Aufgeräumtheit hat Grünbein auch in seine eigenen Verse implantiert.

In den "Strophen für übermorgen" finden sich denn auch wieder zahlreiche Reisegedichte, die geschichtsträchtige Orte im geliebten Italien oder Frankreich umkreisen. Hier hält sich der Dichter allzu oft an das Nächstliegende und winkt mit bildungstouristischen Standards. Etwa in der Nietzsche-Reminiszenz des Gedichts "Warum wir in Turin sind": "Den Philosophen,/Der hier zusammenbrach, wird man verstohlen grüßen/...Es ist sein Geist, der uns im Nacken sitzt, gewitzt, / Hier in Turin." Das wirkt poetisch ebenso flau wie die kumpelhafte Annäherung an Bismarck: "Er traf sie noch, er konnte viel erzählen, / Der alte Schnauzbart mit der Pickelhaube."

Bildungs-Smalltalk dieser Art schrumpft in einigen Gedichten zur fahrlässigen Stereotypie. So werden in einer Satire auf Adolf Hitler um des Reimes willen auch banalitätsverdächtige Einsichten nicht verschmäht: "Er hatte Prinzipien, tödlich die meisten, zumindest für andre./Choleriker - auf seine Wutausbrüche war immer Verlaß. /Rücksichtslos war er. Sein Trumpf: er verstand keinen Spaß."
Wie viel lebendiger und anrührender sind doch die poetischen Kindheitsbilder, die Grünbein im ersten Kapitel seiner "Strophen" gesammelt hat. Hier ist das Gedicht keine antike Flaniermeile, sondern ein Erinnerungspanorama von sinnlicher Bildkraft. Die Gedichte, die dem Großvater und der Großmutter gewidmet sind, weiten sich zu einem großen Porträt des Jahrhunderts der Extreme: "Einer von vielen Deutschen, seit Luthers Zeiten frustriert." Hier ist der formsichere Bewusstseinspoet Grünbein auf der Höhe seiner Kunst.
Das schönste Gedicht des Bandes zeigt den Dichter als jungen Museumsbesucher, der traumverloren vor einem Diaroma die dargestellten Tiere, Höhlenmenschen und Weltwunder der Vorzeit anstarrt. Eine poetische Grundtugend hat Durs Grünbein hier zurückerobert: das Staunen.

Michael Braun


Durs Grünbein: Strophen für übermorgen. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M.