Anmerkungen zu Felix Philipp Ingolds "Randnotizen zu Beispieltexten"
Ingolds Aufsatz enthält treffende Beobachtungen, die noch etwas genauer
ausgeführt werden müssen. Zum Beispiel in Kombination mit dem von
Ingold ebenfalls erwähnten, in letzter Zeit ziemlich häufig bemühten
Topos, dass die Lyrik gerade eine Art "Boom" oder "Hausse"
erfährt, allerdings gewinnbilanzmäßig neutral als ein Markt
unter KollegInnen. In Hinblick auf das Soziotop dieses möglicherweise von
Berlin und einigen anderen deutschen Städten ausgehenden Aufschwungs –
Ingold schreibt ja aus der Perspektive der vielen, die die Lyrik seit vielen
Jahrzehnten unabhängig von dieser Entwicklung pflegen, und folglich bei
aller Höflichkeit mit einer verständlichen skeptischen Distanz –
ist augenfällig, dass das Phänomen mit sozialen Strukturen zusammenhängt,
nämlich der verstärkten Verquickung von Arbeit und Freizeit, worüber
schon von anderen genug geredet wird. (Wir nennen es Arbeit, usw.) Der Sonderfall
einerseits im Kontext der Literatur, andererseits gegenüber der an sich
eigentlich nicht neuen Bobo-Kultur besteht also, sofern die Theorie Substanz
hat, darin, dass der Plauderton so massiv in die literarische Arbeit eingeht
(launige Gesellschaftstücke gab es vereinzelt ja immer schon); dass nicht,
wie im schönen Bild von Reich-Ranicki im Anzug am Schreibtisch, sauber
getrennt Gedicht Gedicht und Arbeit ist, Gespräch meta und salopper –
und ich glaube, dass mit dieser Entscheidung, auch wenn sie aus Situationszwang
- oder aber konsequenter Gelegenheitsbeobachtung - entsprungen sein mag, ganz
bewusst eine Programmatik, vielleicht sogar eine Utopie verfolgt wird. Dies
hat mehrere Gesichter, einerseits ist es Popularisierung, andererseits Popularisierung.
Ingold hat sicherlich keineswegs Unrecht, wenn ihn der augenscheinliche Einklang
mit einer allgemeinen Flapsigkeit, die sich heutzutage in allen Bereichen ausbreitet,
bedenklich erscheint. Auch wenn er dies nicht ausdrücklich sagt, sondern
bemüht scheint, die Neutralität der Beobachtung zu betonen, prägt
den ganzen Aufsatz ja doch ein etwas naserümpfender Ton. Verständlich
auch, dass nicht nur Begeisterung aufkommt als Reaktion darauf, die hohe Kunst
von Stimmen, die sich wie Halbwissende und Barbaren geben, kapern zu sehen.
Es handelt sich hierbei, neutral betrachtet, um Leute, die aus welchen Gründen
auch immer vorziehen, ihren teils immens hohen Anspruch in nonchalantem Ton
zu bearbeiten. Popularisierung (ein größerer Begriff als Plauderton,
hier wegen relevanter Merkmale) birgt aber neben der Gefahr der Verblödung
immer auch wertvolle Möglichkeiten, nicht zuletzt etwa das Spiel mit Hall,
Schwung und Reverb und das Horchen auf poesieferne Diskurse.
Fußnote: Ich würde formal monieren, dass, wo weite Strecken von Ingolds
Text aus Zitaten bestehen, unter Verlass auf ein Einverständnis zwischen
Verfasser und LeserInnen bezüglich Geschmack und hoher Qualität auf
jegliche Analyse oder Begründung verzichtet wird, warum die Zitate als
Beispiel für dies oder jenes dienen sollen, oder sie mit teils ziemlich
oberflächlichen Begründungen versehen werden, die etwa bei Monika
Rinck mit dem Eingeständnis bloßen persönlichen Unverständnisses
enden, ohne das kurz davor geäußerte vernichtende Urteil in irgendeiner
Weise zurückzustufen. Was etwa an "super MUTZ" (Rinck) weniger
verständlich sein soll als "Wenn der Mond mit dem Wort / das ihn wechselt"
(der mir unerklärlicherweise als einziger hoch gelobte Wolfram Malte Fues),
leuchtet mir nicht ein. Das zitierte Gedicht von Fues scheint mir ein Beispiel
für, harsch gesagt, ausgelatschte, wichserische, fade, sehr statische Lyrik,
die ohne Notwendigkeit, aus bloßer Konvention die als lyrisch würdig
bekannten Topoi wie Himmelskörper, Stilleben, Dorfansicht etc. mit der
Eintrittskarte in was sich für Avantgarde hält, der Selbstreflexion
des Sprachlichen, kombiniert und ein wenig umrührt. Da kommt etwas so Weihnachtliches
zustande wie "geh'n sieben / silbenfingrige Schlussreihen blattwärts
/ im Sternanis auf. Last / minute." Um noch etwas geistige Schärfe
in den Pudding zu bringen, wird ein wissenschaftlich definiertes Wort eingestreut
und an einer harmlosen Stelle plaziert: "Algorithmen am Wind". Da
beutelts mich! Ein weiteres Beispiel für unbegründete Behauptung wäre
die Charakterisierung von Rincks englischen Gedichtteilen als unbegründete
Sprachwahl, während die von Rues, wie auch seine altertümliche Apostrophkultur
– ich würde Sprachwahl und Interpunktionskultur als verwandte Kategorien
ansehen, beide haben starke Effekte, mit denen sehr zart und fein umgegangen
werden muss - kommentarlos durchgehen.
Sehr eigenartig: Ich verstehe nicht, wie Ingold, den ich für einen sehr
klugen Dichter und Leser halte, die "Algorithmen am Wind" gut findet
und Rinck behauptet nicht zu verstehen. Das ist persönlich und möchte
ich nicht antasten, vielleicht aber gelingt eine genauere Kartierung der von
Ingold bemerkten Entwicklung. Denn mir scheint, wie erwähnt, klar, dass
ein "intellektueller Plauderton" nicht ohne bewusste Gründe eingeführt
wird. Zunächst ist zu klären: Was meint Plauderton? und: Was meint
intellektuell?
Plauderton verweist wohl einerseits auf die streifende, flaneurhafte Art, wie
diese Texte sich durch ihre Themengebiete oder Modi bewegen, dieses und jenes
Mittel aufgreifend, verschiedene Sprachen verwendend, ohne auch nur zu behaupten,
sie insgesamt perfekt gemeistert zu haben. Ein Vorläufer wäre etwa
das Anekdotische bei Heiner Müller: Jemand rufe ihn an und das lasse sich
häufig eins zu eins in den Text einbauen, an dem er gerade arbeite –
ein Geständnis, das vielleicht erst salonfähig machte, was immer schon
heimliche Praxis gewesen sein mag. Wahllos oder beliebig, lautet dazu der Vorwurf,
doch verleugnet er die sehr scharfe Urteilskraft, die, sofern eben gut gearbeitet
wird, zur Anwendung kommt: wieder eine Sache, die im Einzelfall entschieden
werden muss und nicht der Schreibtechnik an sich angelastet werden kann. Letztlich
ist der Vorwurf genau jener, der dem Etikett "eklektizistisch" eine
pejorative Färbung gegeben hat. Eine alte Windmühle, wobei klar sein
dürfte, dass wieder einmal die ungenaue Arbeit und das schlechte Plagiat
mancher Großmäuler der ganzen Sache einen schlechten Ruf eingebracht
haben. Zum anderen, denke ich, ist das, was den Plauderton etwas unverschämt
erscheinen lässt, mangelnder Respekt vor den wissenschaftlichen Diskursen,
wenn er ihre Begriffe auf die gleiche Weise importiert wie Auszüge oder
Ideen aus Songtexten, Gesprächen, Witzen. Es wird nicht ordentlich zitiert!
Mit diesem akademischen Juckreiz kann ich sehr sympathisieren, doch gefällt
mir die eben in der Literatur mögliche Anarchie, die sich auch die Verballhornung
und den Missbrauch von in der Wissenschaft gesicherten Termini erlaubt. (Der
blöde Kalauer und überhaupt das Bescheuerte an sich, meine ich übrigens
persönlich, sind, richtig dosiert, das poetischste aller Mittel, weil sie
am meisten weh tun und die Erkenntnis beim Reizen nicht "poetisch"
vernebeln, aber das will ich niemandem anderen einreden. Es wäre aber die
Erklärung für die Reime im Nematodensonett.) Sie ist nebenbei –
unter Gefahr, hier möglicherweise allzu neophil zu reden – ja durch
die technisch rasant angeschwollene Verfügbarkeit zumindest grober Nachschlagewerke,
die weitere Hinweise liefern, zum Teil auch praktisch gesehen weniger problematisch
geworden. Dafür, dass auch das vom groben weltweiten Netz nicht erfasste
Detailwissen nicht verlorengeht, muss freilich auf andere Weise gesorgt werden,
weiterhin so solide und mechanisch nachvollziehbar, wie es der Vorzug der Wissenschaft
ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Wissenschaft durch die Googlisierung
der jungen deutschsprachigen Lyrik ernsthaft gefährdet sein könnte.
Eher schiene es mir für beide Seiten eine anregende Liaison, wenn die Lyrik,
ein Wesen mit Vergangenheit, mit dem König des Halbweltwissens flanieren
geht, leichtfüßiger, aufmerksamer und präziser, als wir es etwa
vom Grünbeinschen Bildungsverarbeitungswerk kennen. Übrigens: Die
am gründlichsten und am härtesten mit Wissen, Understatement und Plauderton
arbeitende Dichterin ist dabei sicherlich derzeit die unterpublizierte Sabine
Scho.
Was der Plauderton, insofern er als Art aus der gesprochenen Rede, dem Gespräch
und dem Alltag kommt, für die Lyrik tun kann, trifft inzidentiell mit Sebastian
Kiefers Forderung an gute Lyrik zusammen: Arbeit am Satz, Nutzung und Missbrauch
eines breiteren Spektrums dessen, was uns an grammatischen und syntaktischen
Möglichkeiten zur Verfügung steht, und zwar nicht nur gemäß
Duden, sondern in der lebendigen Sprache. Der Ton ist inhomogen,. der Verlauf
der Gedichte mithin erratisch und unregelmäßig, disharmonisch, die
Gestik – ich hoffe es ist deutlich, was ich damit meine, mit der Gestik
eines Gedichts, sonst frage man Lisa Spalt – schon überhaupt. Das
könnte der Grund sein, warum die zitierten Gedichte für Ingold nicht
Gedichte, sondern Text sind. Vielleicht wird hiermit intellektuell und zwar
nicht nach streng durchgezogenen Konzepten, wie in der konkreten Poesie, sondern
weniger systematisch, in einer Art skrupelloser Chuzpe, nicht nur Jedem Gedichte,
sondern auch Alles der Poesie zuzumuten, mit aller fetten Emotion und sogar
in Ermöglichung reflektierter mimetischer Bezüge das klassische, theoretisch
längst verworfene Schönheitsideal überwunden. (Dies, bitte, abseits
der detaillierteren Untersuchungen dessen, was Schönheit sei, die es in
allen Jahrhunderten gegeben hat) Wenn dieser Versuch auch Ausbuchtung wäre,
Quichotterei, so sicherlich eine produktive und bereichernde.
Intellektuell bedeutet hier im Grunde intertextuell: es wird aus aller Welt
anzitiert, auf alles Mögliche verwiesen, sei es in Form von wissenschaftlichen
Begriffen oder Fremdwörtern auf Fachdiskurse, sei es, dass mit idiomatischen,
fremdsprachlichen oder dialektalen Einwürfen und Fetzen aus durch sie angedeuteten
Redesituationen verschiedene Welten angerissen werden. (Ob die Verweise fundiert
oder oberflächlich sind, wird von Fall zu Fall entschieden werden müssen
und dient, wieder, sicherlich nicht als Generalvorwurf an die Schreibweise.)
Dies ist nichts Neues seit den ersten Montage- und Cutup-Texten; neu ist allenfalls
(auch das stimmt nicht ganz), sie in Form gepflegter kleiner Gedichte, die sich
in anderen ihrer Eigenschaften mehr auf Benn als auf Dada beziehen, vorzufinden,
von denen offenbar eben ein Kammerton und nicht derart wilde Denkforderungen
und Zitate erwartet werden. Diese Gedichte funktionieren nicht, wie, kann ich
mir vorstellen, Ingold von einem Gedicht erwartet, indem sie ein in sich abgeschlossenes
System beackern, sondern sie ragen in die Welt hinaus und kommen aus ihr. Die
Welt, wohlverstanden, als zum Mindesten teilweise sprachliches Gebilde und eben
nicht klar vom Gedicht abgegrenzt, sei es durch naive Mimesis oder durch Abstraktion.
Wenn Ingolds durchaus treffsichere (und fett und kursiv gedruckte) Satz stimmt:
"Diese Art von Lyrik bringt nicht Gedichte, sondern Texte in Form von Gedichten
hervor", dann muss ich gestehen, dass mich das, was ein Gedicht nach Ingold
von dieser Art von Text unterscheidet, ein Unterschied zuungunsten des Gedichts
dünkt.
Ann Cotten
(Der vollständige Titel des Aufsatzes von Felix Philipp Ingold lautet "Von
einem neuerdings in der deutschsprachigen Lyrik gepflegten intellektuellen Plauderton.
Randnotizen zu Beispieltexten", erschienen in manuskripte 177 / 2007)