Über einige Probleme in Sebastian Kiefers Entwurf eines Literaturbauhauses
Was kann Literatur, fragt Sebastian Kiefer in einem jüngst
erschienenen Pamphlet. Die Fragestellung geht von einer beobachteten Differenz
zwischen dem Potential an Komplexität und Innovation aus, das er durch
eine bestimmte, vereinzelt fortgeschriebene poetische Tradition erarbeitet sieht,
und den aktuellen Diskursen, die für sein Empfinden weit hinter dieses
potentiell erreichte Niveau zurueckfallen. Kiefer fordert also etwas von der
Gegenwartslyrik (den Beispielen nach zu schließen kommt alleine Lyrik
als Trägerin des Fortschritts in Frage), aber auch von der Literaturkritik
ein und muss erklären, was genau das ist und woran es seiner Meinung nach
mangelt. Dabei muss er sich wohl selbst dem Anspruch stellen, zu demonstrieren,
wie Literaturkritik aussehen sollte.
Die Einleitung seines Essays beginnt mit einer pittoresken Gegenüberstellung
der Todesarten von Musik, Bildender Kunst und Literatur, welche die behauptete
Unfähigkeit der Literatur zu phönixhafter Essenzakrobatik eigentlich
eher untergräbt als untermauert. Sie endet mit der Ankündigung einer
wertenden Inventur. Im Anschluss daran würde man eine aufgeklärte
und textbezogene Sichtung der Gegenwartsdichtung erwarten. Tatsächlich
lässt Kiefer in einer historischen Tiefensichtung seine Lieblinge paradieren,
kontrastiert mit einigen Negativbeispielen: Von Klopstock und Hölderlin,
auf dessen Periodentheorie Kiefers eigene zentrale These beruht, springt er
in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dort werden Brecht und Celan
als Beispiele für unterkomplexen Satzbau Gertrude Stein und der ihren Ansatz
in der Nachkriegszeit wiederaufgreifenden Avantgardebewegung, vertreten von
Gomringer und Priessnitz, gegenübergestellt. Mit Bobrowski versucht er
den Horizont von der "Wiener" Avantgarde etwas zu erweitern, kommt
aber schließlich bei seinen Helden Czernin und Schmatz zur Ruhe. Von der
restlichen Gegenwart ist nur insofern die Rede, als sich Kiefer eine Art Bauhaus
für Literatur wünscht, damit höflich insinuierend, dass es für
ihn mit den Poetiken der Gegenwart nicht weit genug her ist.
Kiefer gehört zu den wenigen Kritikern, die überhaupt genaue Satzanalyse
betreiben. Man könnte sich viel von einer Literaturkritik erhoffen, die
um eine solchermaßen detailversessene Analyse von Vokalharmonik und Satzbau
kreist. Er zeigt allerdings in weiten Teilen seiner Kritiken allzugroße
Schlichtheit in seinen Schlussfolgerungen und Begründungen. Es ist schade,
wenn er sich zwar visionär zu einem Futurismus der Literaturkritik aufschwingt,
doch im Augenblick, wo er zu virtuosen Interpretationsarien anheben möchte,
an haltlosen Anwendungen seiner Satztheorie ausrutscht. Er scheint diese Theorie
des Satzes - als Darstellungszentrum nicht nur der Sprache, sondern auch der
Kognition - wie eine Art Lichtschwert zu betrachten, mit dem sich auf einen
Schlag Klarheit in ein finsteres Mittelalter der Literaturtheorie und -produktion
bringen lässt, und sich selbst als Gründer einer neuen Schule von
Kritik, die mit dieser Wunderwaffe befähigt sein soll, die Dichtung mit
bislang ungekannter Klarheit zu durchschauen.
Betrachten wir etwas genauer das Lichtschwert. "Moderne Linguisten (z.B.
Peter Eisenberg in seinem Standardwerk Grundriß der deutschen Grammatik,
Stuttgart 1994) nennen den Satz – und eben nicht das Verb oder das Nomen
oder das Morphem – die kleinste »kommunikativ selbständige
Einheit« der Sprache. Das philosophische Standardwerk zu dieser Thematik
ist Ernst Tugendhat: Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische
Philosophie, Frankfurt 1976." begründet Kiefer seine Überzeugung
in der ersten Fußnote auf Seite 7. Nun braucht man sich nur ein wenig
mit der Sprechakttheorie und vorallem mit jüngeren auf sie aufbauenden
Untersuchungen auseinanderzusetzen, um zu sehen, dass sie sich fast ausschließlich
mit sogenannter Alltagssprache beschäftigen und mit literarischem Sprechen,
wenn sie es denn versuchen, eher schlecht zurechtkommen. An späterer Stelle
spickt Kiefer seinen Diskurs mit Vokabeln aus der analytischen Sprachphilosophie
und der Aussagelogik, deren Unfähigkeit, mit Literatur umzugehen, so beständig
ist wie ihr Bemühen darum. Trotz der wissenschaftlichen Anklänge bleibt
Kiefers Auffassung davon, was ein Satz ist, recht diffus. Um alles zu können,
was er sich von dieser "Formel" (165) verspricht, muss die Satztheorie
im Grunde alles aufgeben, was sie von einer Worttheorie unterscheidet. Bestenfalls
ist es gleichgültig, ob man als Grundeinheit der Sprache einen weiten Satzbegriff
setzt, dessen Möglichkeiten nicht mit denen der normativen Grammatik erschöpft
sind, oder einen weiten Wortbegriff, der die grammatischen Möglichkeiten
und Wertigkeiten der Wörter sowie ihre gallertig variablen Assoziationsräume
anerkennt. Es stechen allerdings die Probleme ins Auge, die mit der Annahme
von Sätzen als Grunddenkeinheit aufkommen und sich nicht zuletzt anhand
der Widersprüche manifestieren, in denen sich der Kritiker im Lauf seines
Buchs verheddert.
Mit Texten konfrontiert, die nicht die Form grammatischer Sätze annehmen,
bietet sich für einen satzversessenen Denker zunächst eine Ellipsentheorie
an. Eine Ellipsentheorie ist immer eine Hilfskonstruktion, und zwar eine der
offensichtlichsten und unelegantesten. Wenn Kiefer angesichts eines bekannten
Gomringergedichts Sätze durch den Kopf gehen wie "»Aha, die
Leere im Zentrum soll offenbar das >Schweigen< exemplifizieren«"
(51), ist nicht verwunderlich, dass er die Konkrete Poesie als kaum erträgliche
Zumutung empfindet. Allerdings räumt Kiefer ein paar Zeilen weiter ein,
dass dem nicht ganz so ist: sondern man denkt sich mitunter bloß "»Ach
so« und »empfindet« dabei das Verhältnis von freiem und
beschriebenem Raum". Das erscheint schon plausibler, es fragt sich nur,
wo hier der Satz hingekommen ist.
Für die im Folgesatz nachgelieferte Behauptung, dieses synthetisch und
blitzartig empfundene "Ach so"-Verständnis sei "satzartig",
bleibt Kiefer eine Erklärung schuldig.
Es lässt sich nicht abstreiten, dass die Konkrete Poesie in ihren rein
sinnlichen Spielarten von bedingtem Interesse ist, allerdings handelt es sich
bei ihnen um Nebengleise einer Dichtung, die sich in ihren wichtigeren Werken
mit den Grundlagen der Kognition auseinandersetzt. Wenn man Dichtung als Kompositionskunst
des Satzes auffasst, ist es keine unlogische Schlussfolge, die Konkrete Poesie
nicht als Dichtung zu klassifizieren – darüber müsste man gesondert
streiten, meiner Ansicht nach regrediert eine solche Auffassung zu einem ziemlich
biedermeierlichen Kunstverständnis. Kiefer lässt die Frage aber gar
nicht akut werden, indem er die Konkrete Poesie in zwei Kapiteln über visuelle
und Lautpoesie behandelt und den interessanteren Rest einfach unter den Tisch
kehrt.
Bei einer solchen Vorstellung von Verständnis – sei dieses nun "letztlich"
satzartig oder nicht – verwundert die Häme, mit der er etwas früher
einer Formulierung von Herwarth Walden "Absurdität" bescheinigt
hat: "»Das künstlerische Verstehen ist keine Verständigung,
[...] ist das Fühlen. [...] Wir geben uns die Hand und wir fühlen,
wir wissen das Fühlen. [...]«"(44) Der Sachverhalt kommt Kiefer
natürlich zu Recht absurd vor, handelt es sich doch um die existentielle
Absurdität der Isolation des Ichs, an der wir alle oft verzweifeln, gegen
die wir anschreiben, und die Wittgenstein mit dem Bild illustriert hat, wir
sprechen, wenn wir über Käfer sprechen, jeder über einen jeweils
eigenen Käfer in einer Schachtel, die nur uns selbst einsichtig sei. Kiefer
bringt dazu das entsprechende Bild eines Kabbalisten und eines Physikers, die
über Feuer sprechen. Dazu erwähnt er Lakoffs und Johnsons in "Metaphors
We Live By" dargelegte These der metaphorischen Durchstrukturiertheit unserer
Sprache. Hier befinden wir uns an einer entscheidenden Kippe. Kiefer stimmt
Lakoff und Johnson zu, aber verwirft Nietzsches ähnliche Beobachtung ("Über
Lüge und Wahrheit im außermoralischen Sinn", 44) als vom Wort
ausgehend. Das Komische – und zwar schon an Lakoffs und Johnsons Buch
– ist dabei eigentlich die Annahme, die Wirkung dieser Sprache und Denken
strukturierenden Metaphorizität sei derart begrenzt, dass man sich durch
Umsicht, Reflexion und den Gebrauch von wörtlichen, also wahrheitsfähigen
Sätzen vor ihr in Sicherheit bringen könne. Kiefer: "Nur wo das
Nicht-Selbstverständliche der Annahmen, die notwendig gemacht werden müssen,
um überhaupt etwas »meinen« oder »darstellen« oder
»bezeichnen« zu können, im aktuellen Satzgebrauch mitgedacht
oder im Sprechen zur Disposition gestellt oder zum Quell der Inspiration werden,
besteht (in der »Moderne«) überhaupt die Möglichkeit,
ästhetische Universalität erreichen zu können."
(22) Ich dachte eigentlich, Universalität sei ein Mythos, von
dem sich spätestens die "Postmoderne" endgültig und mit
gutem Grund verabschiedet hatte.
Kiefer verwirft also Nietzsches Auffassung von Sprache an sich als metaphorisch
und erratisch im frühen Aufsatz "Über Wahrheit und Lüge
im außermoralischen Sinn" sowie seine "Nachfolger" Mauthner
und Cassirer in einem Atemzug (44) als mystisch und tut auch den Chandosbrief
als geschwätzige Befindlichkeitshysterie ohne Spracharbeit ab (76). Offensichtlich
möchte Kiefer mit Wittgenstein davon ausgehen, dass alles, was sagbar ist,
in ganzen Sätzen, eindeutig und klar verständlich sagbar ist. Das
ist eine Theorie, die kaum widerlegbar ist, nachdem es eine unendliche Zahl
möglicher Sätze gibt. Sie ist aber durch die in ihr enthaltene Auffassung
des Satzes als Universalie genauso in unentscheidbare Glaubensfragen verstrickt
wie das umgekehrte Postulat eines Außersprachlichen und das Postulat eines
Zwischenbereichs von Dingen, auf die sich, satzartig oder nicht, sprachlich
hindeuten lässt.
Wittgenstein inkludiert hier aber alle möglichen Formen der Kommunikation
als "Sätze". Kiefer dagegen bleibt als Praktiker im Baukasten
der deutschen Normgrammatik stecken, wie man beispielsweise an seinem Faible
für die Ergänzung von Präpositionalpräfixen sieht. (Mag
sein, dass das, wie einige der Punkte, die ich kritisiere, nicht seiner Theorie,
sondern nur seiner Anwendung davon anzulasten ist.)
Das heißt, wenn wir uns verständigen wollen – und das können
wir, egal ob alles sagbar ist oder nur manches, ob wir immer oder nur manchmal
metaphorisch sprechen, und ob wir jeweils die Halbsätze und Andeutungen
der anderen im Kopf zu ganzen Sätzen ausformulieren oder nicht –
wäre es sinnvoll, diese Frage als Privatsache aus dem Spiel zu
lassen.
Zumindest taugt die Metaphernfrage nicht als Argument in Fragen der Grammatik.
Kiefer setzt sie ein paar Mal so ein, es gelingt ihm aber nicht, zu erklären,
wie er genau den Zusammenhang sieht. Es geht um Klopstocks Partizipien (25),
und zwar um die Frage, ob etwa "Das Hingegossene" als Ellipse (und
somit praktisch als Synonym) des Ausdrucks "die hingegossene Flüssigkeit"
verstanden werden muss. Kiefer bringt sofort mit einem plantschenden Riesensatz
die Ontologie ins Spiel, ohne irgendeine der beteiligten Fragen zu klären
oder sich auch nur luzide zu positionieren: es handle sich um die "substantivierte
Verwendung von Partizipien also als Metapher für den adjektivischen Gebrauch".
Die Klassifizierung der Substantivierung als Metapher erscheint relativ weit
hergeholt (es sei denn, man betrachtet mit Nietzsche und, später, De Man
jede Abstraktion als metaphorisch, wovon sich Kiefer als Anhänger der satzlichen
Bezugnahme als Voraussetzung für Wahrheitswerte, wenn ich ihn richtig verstehe,
distanzieren würde) und keineswegs zufriedenstellend erklärt. Man
weiß nicht genau, was diese Verlagerung der Fragestellung vom Satzbau
zu den Grundlagen der Sprachbeschaffenheit für die Argumentation bringt.
Kiefer fragt dann selbst, warum die oben in Frage stehende Differenz zwischen
adjektivischer und substantivischer Partizipverwendung, die im 18. Jahrhundert
als eine Sache der Wirkung angesehen wurde, "heute eine ontologische Differenz
ausmachen soll"(25f). Die Antwort scheint uns indessen ganz klar: weil
wir, wie die postmoderne Philosophie bereitwillig Auskunft gibt, in unserer
Medienwelt langsam kapiert haben, dass Wirkung alles ist, was wir an Wirklichkeit
kennen. Klopstock und die "Participianer" entnahmen das Bedürfnis
nach der Art von Entitäten, die von Partizipien denotiert werden, aus der
griechischen Philosophie, wo das Griechische für Abstrakta eben ein breites
Spektrum von substantivierten Verbformen bereithält. Sie wollten solche
Begriffe, um über die Wirkung auf eine außersprachliche und nichtkonkrete
Wahrheit abzuzielen, während wir in einer sprachrelativistisch oder –deterministisch
gesehenen Welt davon ausgehen, dass wir die Welt oder den Zugriff auf sie überhaupt
erst sprachlich erschaffen. Wenn eine Dichterin nun in ontologischen Termini
über ihre grammatischen Entscheidungen Auskunft gibt, mag das vielleicht
etwas preziös wirken, aber bullshit ist es nicht, und im Grunde wäre
das eine Form des Ernstnehmens der Erkenntnisse der Sprachphilosophie, die Kiefer
gerade einfordert. Nachdem er aber die These der Metaphorizität der Sprache
nur teilweise akzeptiert, also sehr wohl von der Möglichkeit nichtmetaphorischen
Sprechens ausgeht, möchte er scheinbar an einer klopstockschen Sicht des
sprachtheoretischen Stellenwerts grammatischer Möglichkeiten festhalten,
die diese als ontologisch kontingent ansieht. Eine solche Sicht von Sprache
nimmt der ganzen Frage viel von ihrer Relevanz, da sie der Literatur eine kontingente
Rolle in einer Realität einräumt, die aber gemäß der sprachrelativistischen
oder –deterministischen Philosophie der meisten relevanten Dichtung von
ihr erst erzeugt oder jedenfalls mitbestimmt wird. Hier wird die Problematik
akut, mit einer an Hölderlin entwickelten Theorie nicht nur an die sprachliche
Erscheinungsform, sondern auch an die sprachtheoretischen Grundlagen moderner
Dichtung herangehen zu wollen, denn diese lassen sich eben gerade seit Hölderlin
nicht mehr von der "Wirkung" der Dichtung trennen.
Kiefer geht also mit der Formulierung "Weil (nicht) vom Darstellungszentrum
aus gedacht" (114, 118, 3x 119, 120; "Vom Sprachgebungsakt aus denken"
120; "Kompositionskunst des satzartigen Bezugnehmens" 60, 165) an
die Analyse von Dichtungen heran. Er meint vermutlich, seine Theorie in den
Anfangskapiteln so ausreichend erklärt zu haben, dass er nicht im Einzelnen
ausführen muss, was damit gemeint ist. Tatsächlich scheinen die Formeln
oft als Begründung für alle möglichen Behauptungen herhalten
zu müssen, was an einem Gedicht gelobt oder getadelt werden soll, und so
gerade zum Gegenteil einer genau artikulierten Kritik zu verleiten. Es tauchen
hier und da doch zu persönlich motiviert scheinende Verstiegenheiten in
der Kritik und im Lob auf. So wertet Kiefer bei Hölderlin, Czernin oder
Schmatz alles im Zweifel für den Autor und bei Celan oder Brecht alles
gegen ihn. Beispielsweise unterstellt er Celan Mehrdeudigkeit "aus Versehen"
(120) oder behauptet zur Konkreten Poesie: "Sie kann sich zu dieser Gattung
[Literatur] nicht verhalten, weil sie, wie die Lautpoesie, keinen eigenen Begriff
der sprachlichen Bezugnahme entwickelt: die Konkrete Poesie lässt unseren
Begriff der sprachlichen Bezugnahme selbst unmodifiziert" (tatsächlich
handelt es sich um eine geradezu revolutionäre Modifikation, die allerdings
den Rahmen von Kiefers Satztheorie sprengt und deswegen in seinem Denken nicht
anerkannt werden kann). Interessanter sind die Kritiken von weniger klar in
seiner poetischen Weltkarte verorteten Autoren wie Bobrowski; interessant sind
die Kritiken immer dann, wenn sie konkret am Text bleiben und sich nicht bloß
lose auf die Satztheorie berufen, sondern diese wirklich als Denkwerkzeug für
genaue Analyse verwenden.
Es wird nach und nach ersichtlich, dass Kiefers Ablehnung einer Worttheorie
sich auf eine zu primitive Theorie des Bedeutens bezieht: er grenzt sich ab
von einer "traditionellen Vorstellung [...], der sprachliche Weltbezug
würde durch die Verwendung des Einzelwortes und der damit verknüpften
»Vorstellung« geleistet – und nicht durch die Funktion dieses
Wortes im Satz oder dem »Sprechakt« (46). Nun inkludierte jede ernstzunehmende
Worttheorie selbstverständlich die Funktion eines Wortes in seinem Kontext,
sei dieser satzartig oder räumlich, zeitlich oder assoziativ, was seine
Einwände entkräftet. Kiefers Überlegungen münden aber sogar
in die absurde Annahme, Anhänger einer Worttheorie müssten in ihrer
Ausdrucksweise den Satz scheuen, und wenn sie es nicht täten, seien sie
inkonsequent. Wer alles, was auf dem Blatt steht, als elliptischen Satz liest,
kann dann freilich Futuristen vorwerfen, inkonsequenterweise in elliptischen
Sätzen zu komponieren, auch wenn sie bloß einen einzigen Buchstaben
aufs Papier setzen (46).
Abgesehen davon müssten aber Kiefers Interpretationen generell etwas subtiler
auftreten, um seine Meinungen plausibel zu stützen. Es unterlaufen ihm
zuviele Ungenauigkeiten und Grobheiten, um von der Superiorität der Satztheorie
ein überzeugendes Bild zu geben. Die Behandlung der Konkreten Poesie ist
stellenweise widersprüchlich. So "sollte die prinzipielle Überwindung
hergebrachten satzartigen Aufbaues der Textur ein utopisch Neues ermöglichen.
Nur eben: Diese Utopie pflanzte man der traditionellen Vorstellung ein, der
sprachliche Weltbezug würde durch die Verwendung des Einzelwortes und der
damit verknüpften »Vorstellung« geleistet – und nicht
durch die Funktion dieses Wortes im Satz oder dem »Sprechakt«. Die
Irrtümlichkeit jener Sprachtheorie erklärt zugleich, weshalb die allermeisten
expressionistischen Texte ja gegen die steilen Programme von »Syntaxzertrümmerung«
und »parole e libertà« ganz herkömmlich als Sprechakte
und Satzaussagen komponiert sind." (46) Hier muss dringend einiges unterschieden
werden. Trifft der Vorwurf ganzer Sätze teilweise auf den Expressionismus
zu, so mitnichten auf die Konkrete Poesie, die sozusagen dieses Feststecken
der Avantgarde im Satz vor und zwischen den Kriegen wahrnahm und korrigierte.
Es ist richtig, dass die Satzfrage eine Zeitlang einfach nicht wahrgenommen
wurde; es kann sogar sein, dass eine Worttheorie dazu beitrug, den Satz an sich
nicht zu problematisieren, wenn sich in expressionistischen Stilen beispielsweise
kurze, parataktische Sätze als "unmittelbarer" präsentierten,
vgl. zum Beispiel Arno Holz und sogar noch den von Kiefer ganz gut beschriebenen
Nominalstil Brechts. Allerdings führt der Weg aus der Satzgefangenschaft
sehr wohl über das Einzelwort und glückte.
Aus der Luft gegriffen scheint indessen Kiefers nächste kausale Verknüpfung:
"Dieser Widerspruch von Programm und Realisation rührt nicht zuletzt
von einem Nicht-Durchschauen der elliptischen oder metaphorischen Natur bestimmter
alltäglicher Sprachgewohnheiten her." Mit der Wendung"nicht zuletzt"
oder "letztlich" (Klappe, 18, 19, 21, 52) wird immer eine Art blackbox
in eine Argumentation eingeschaltet, die auch hier scheinbar notwendig ist.
Jedenfalls gelingt Kiefer nicht, den behaupteten Zusammenhang zwischen der metaphorischen
Strukturierung unserer Sprache und der Unmöglichkeit einer Wortbedeutung
plausibel zu machen. Wie es scheint, unterstellt er allen, die einer Worttheorie
anhängen, dass sie einfach der geläufigen Metapher des Worts als "meinendes"
oder "denotierendes" Subjekt auf den Leim gegangen sind. Dies ist
zwar ein hübsches Bild, aber darauf eine Refutation der Worttheorie zu
stützen ist ein Akt genau der Naivität, die er kritisiert.
Kiefer stürzt daraufhin in eine etwas unbeholfen wirkende Interpretation
eines konkreten Gedichts von Eugen Gomringer. "Der Leser"
stellt dort "jenes Netz von satzartigen Bezugnahmen her, das der Text in
seinem Minimalismus glaubt, durch eine Konstellation von Einzelworten ersetzen
zu können" (49). Der Autor wollte also, erklärt uns Kiefer, mit
"du blau" eigentlich ausdrücken: "»du bist blau«
oder »du bist jetzt blau« oder »du, da ist blau!« usw."
(49). Man sollte dem Tarzan aus der Schweiz ja direkt einen Sprachkurs anbieten!
Nein, in Wirklichkeit handelt es sich um einen interpretatorischen Zirkel, wenn
Kiefer dem Autor unterstellt, die von ihm (Kiefer) gedanklich ergänzten
Sätze ausgelassen zu haben. Und es liegt in diesem Kapitel noch ein tieferer
Widerspruch. Kiefer bescheinigt der Konkreten Poesie nur bedingte Relevanz,
weil sie, indem sie das Satzbilden den Rezipienten überlässt, unseren
Satzbegriff unangetastet lässt (50). Derart mit der Folie von Kiefers Satztheorie
gesehen könne uns die Konkrete Poesie gar nicht weiterhelfen. Tatsache
ist aber, dass sie uns sehr weitergeholfen hat, das sagt auch Kiefer selbst,
und belegt es anhand der Traditionslinie Priessnitz, Czernin und Schmatz. Sie
kann uns aber, wie Kiefer zeigte, nicht mit den Mitteln des Satzes geholfen
haben. Somit muss es eine relevante sprachliche Welt außerhalb des Satzes
geben, wo sich das abgespielt hat.
Kiefer hat an zahlreichen anderen Stellen mit seinen satzlichen Interpretationen
Anlass zu Heiterkeit gegeben, beispielsweise als er die Klimax der Genialität
eines Steinschen Zweizeilers in einer frei erfundenen englischen Bezeichnung
für Regenmantel ansiedelt, (rubber-coat, 137 – ja wohin verirrt man
sich nicht beim Umschiffen weiblicher Geschlechtsorgane) und in seiner grandiosen,
zwei Absätze füllenden Ausführung, warum man von einem Haus nicht
"unter Bäumen" sagen kann. Erst in der Bemerkung, nur von einem
Puppenhaus könne man das gerade noch sagen (157-158) findet der aufgewühlte
Kritiker Ruhe.
Das Problem an Kiefers Interpretationen ist, das er bei allen scharfsinnigen
Beobachtungen mit einer bierernsten Pedanterie an die Analyse herangeht, die
mit der Leichtigkeit und Versatilität der Objekte nur mühsam zurechtkommt.
Vorallem aber widersprechen die satzartigen Resultate dieser Untersuchungen
oft der vorher von Kiefer selbst bestätigten Tatsache, dass ein Gedicht
keine zusammenfassbare "Aussage" hat; man müsste ergänzen:
auch nicht zwei oder drei.
Kiefer hat also einen Aspekt der Gedichtanalyse an Hölderlin herausgearbeitet
und befragt unter diesem Aspekt die Gegenwartslyrik. Der ungewöhnliche
Ansatz führt über eine versuchsweise Aufhebung der historisierenden
Sicht zu Gedankenspielen wie dem, ob man dieses oder jenes Gedicht von Benn
beispielsweise wie ein kontemporäres lesen könne. Dazu lautet die
komplementäre Frage: Was passiert, wenn ich heute Sonette schreibe? Die
analytische Fähigkeit, die Sebastian Kiefer von uns einfordert, hat nicht
einmal so viel mit historischem Bewusstsein zu tun, als dass sie vielmehr Texte
aus verschiedenen historischen Kontexten auf eine synchronistische Ebene des
Verstehens holt, der sie in bestimmten Hinsichten als vergleichbar setzt.
Das macht den eigentümlichen Reiz von Kiefers gespreizter Beispielauswahl
aus, eine gewisse Chuzpe und Unverfrorenheit, die allerdings unter der Vorherrschaft
spezieller Vorlieben und dem vorhersehbaren Bashing von Lieblingslosern verflacht.
Die durchaus interessante Traditionslinie, die Kiefer entwirft, lässt sich
indessen auch über Hölderlin hinaus zurückverfolgen. "Dialektiker"
wie Andreas Gryphius oder Gottfried von Straßburg, bis hin zu Johannes,
Ovid, Platon, Sappho haben das Substrat für Hölderlins Technik der
syntaktischen Gegenläufigkeiten gelegt, wenn man eine metaphorische Anwendungsweise
der "Satztheorie", wie sie implizit schon bei Kiefer am Werk ist,
setzt, die nicht nur grammatische, sondern auch semantische Finten und Haken
bezeichnen mag. Steckt doch eine solche syntagmatisch und paradigmatisch kalkulierende,
"komponierende" in Kiefers Formulierung, Vorgehensweise schon in der
Urmetapher des Texts als Gewebe der Arachne: Wer einmal versucht hat, einen
Teppich zu weben, also die Übersicht und Kontrolle über gewünschte
Farbfelder im Wellengang der zeilenartig kreuzenden Bewegung des Schiffchens
zu behalten, denkt so. So denkt auch jemand, der gleichzeitig Sätze konstruiert,
ein Sonett konstruiert und ein Sinngebäude konstruiert. Man kann dafür
auch Metaphern der Architektur oder des Maschinenbaus bemühen: simultanes
Arbeiten an mehreren ontologischen Ebenen, das Konstruieren von interferierenden
und interdependenten semantischen und syntaktischen Systemen, das Herstellen
von Programmen mit Interfaces und andere Balanceakte mit unterschiedlichen Faktoren
in unterschiedlichen Dimensionen.
Und man muss dabei durchaus nicht zwangsläufig mit Sätzen arbeiten.
Wenn Kiefer vom Satz auch als "ewiges Hindernis" (30) spricht, hat
er schon genau das erfasst, worauf ich mit meiner Kritik hinauswill, nur übersieht
er scheinbar, dass die Revolution der "Syntaxzertrümmerer" doch
in dem Maß geglückt ist, in dem diese Revolution eben glücken
kann: das satzartige Denken ist zur Option geworden (sofern sie das nicht immer
schon war, man braucht eigentlich nur einen Blick auf andere Literaturen wie
fernöstliche zu werfen, um sich von diesem Fortschrittsdenken zu verabschieden).
Verzichtet man auf sie, lässt man, sofern man sich im Abendland bewegt,
eine relativ hochverfeinerte Werkstatt liegen, um roh und nackt mit primitivem
Sprachgerät auf die Ontologie zuzustürmen. Das ist eine berechtigte
und mitunter genauso subtile Tätigkeit, deren Qualität sich nicht
mit der Frage, ob sie in der Satzarbeit mit Hölderlin mithalten kann, bemessen
lässt.
Problematisch bleibt bei Kiefer aber auch der wiederholt vorgetragene triadische
Vergleich von Musik, Bildender Kunst und Literatur. Meist beruht hierbei die
postulierte Sonderstellung der Literatur auf Behauptungen, deren Gegenteil genausogut
zutrifft. So beispielsweise in der Einleitung, in der als selbstverständlich
postuliert wird, ein leeres Blatt könne keine Literatur, jedoch schon Kunst
sein. Die Verweigerung künstlerischer Betätigung ist ein superorigineller
Einfall, der sich relativ schnell abnützt und trotzdem untilgbar in der
Kunst- und Literaturgeschichte herumgespenstert. Das hat es natürlich auch
in der Literatur alles gegeben, nicht nur in Form von Gappmayrs Leerbuch, bestimmter
Cabaretverweigerungen der Wiener Gruppe oder jüngst Ruth NN, die aus einem
in kodiertem Streifenmuster gestrickten Schal vorlas, sondern gewissermaßen
schon als schwarze Seite in Tristram Shandy, oder man denke an spätmittelalterliche
Bücher, die leere Schatullen sind (man kann darüber streiten, aber
mir scheint da unter anderem schon ein verwandter Gedanke dahinterzustecken).
Schließlich wird durchwegs nicht klar, was Kiefer mit diesen Vergleichen
eigentlich will: Zeigen, dass es einen ontologischen Unterschied zwischen der
Literatur und anderen Künsten gibt, weil ihr keine Metasprache zur Verfügung
steht, an der sie nicht selbst teilhat? Zu bedenken geben, dass die Avantgardisten,
die Zertrümmerer herkömmlicher mimetisch-harmonischer Formen, es deswegen
besonders schwer hatten, ihnen eigentlich gar keine solche Revolution wie in
den anderen Künsten möglich war? Oder, und das impliziert gar keinen
Unterschied als Voraussetzung, den Heutigen (die wir jetzt, dank Kiefers Einführung
der Satztheorie in die Literaturkritik, endlich nach Jahrhunderten der grammatischen
Unmündigkeit in der Lage sind, Gedichte ordentlich zu verstehen, 27) vorwerfen,
in Bezug auf die nun doch wieder stattgefunden habende Avantgarderevolution
in Ermangelung von Akademien ignorant zu sein? Jede dieser Propositionen, das
muss anerkannt werden, hat immerhin etwas für sich. Das Phänomen,
dass die institutionalisierte Metaebene, also die Literaturkritik und Literaturwissenschaft,
mit ihren Mitteln und ihrer Klugheit regelmäßig weit hinter ihre
Objekte zurückfällt, gibt es in den anderen Künsten nur aufgrund
grassierender Dummheit, nicht aus medialen Gründen. Kiefer beobachtet zutreffend
ein Gefühl, etwas nachholen zu müssen, bei den Dada wiedererweckenden
Tätigkeiten beispielsweise der Wiener Gruppe oder der Oulipo. Und schließlich
ist die Frage, ob wir als postmoderne, mit allen Wassern der Moderne gewaschenen
Wesen, die nun auch noch die Satztheorie begriffen haben, besser befähigt
seien als jemals zuvor, Gedichte zu verstehen, eine herausfordernde, und eine
Herausforderung ist immer gut.
Ann Cotten
Sebastian Kiefer – Was kann Literatur, Graz 2006