Über einige Probleme in Sebastian Kiefers Entwurf eines Literaturbauhauses


Was kann Literatur, fragt Sebastian Kiefer in einem jüngst erschienenen Pamphlet. Die Fragestellung geht von einer beobachteten Differenz zwischen dem Potential an Komplexität und Innovation aus, das er durch eine bestimmte, vereinzelt fortgeschriebene poetische Tradition erarbeitet sieht, und den aktuellen Diskursen, die für sein Empfinden weit hinter dieses potentiell erreichte Niveau zurueckfallen. Kiefer fordert also etwas von der Gegenwartslyrik (den Beispielen nach zu schließen kommt alleine Lyrik als Trägerin des Fortschritts in Frage), aber auch von der Literaturkritik ein und muss erklären, was genau das ist und woran es seiner Meinung nach mangelt. Dabei muss er sich wohl selbst dem Anspruch stellen, zu demonstrieren, wie Literaturkritik aussehen sollte.

Die Einleitung seines Essays beginnt mit einer pittoresken Gegenüberstellung der Todesarten von Musik, Bildender Kunst und Literatur, welche die behauptete Unfähigkeit der Literatur zu phönixhafter Essenzakrobatik eigentlich eher untergräbt als untermauert. Sie endet mit der Ankündigung einer wertenden Inventur. Im Anschluss daran würde man eine aufgeklärte und textbezogene Sichtung der Gegenwartsdichtung erwarten. Tatsächlich lässt Kiefer in einer historischen Tiefensichtung seine Lieblinge paradieren, kontrastiert mit einigen Negativbeispielen: Von Klopstock und Hölderlin, auf dessen Periodentheorie Kiefers eigene zentrale These beruht, springt er in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dort werden Brecht und Celan als Beispiele für unterkomplexen Satzbau Gertrude Stein und der ihren Ansatz in der Nachkriegszeit wiederaufgreifenden Avantgardebewegung, vertreten von Gomringer und Priessnitz, gegenübergestellt. Mit Bobrowski versucht er den Horizont von der "Wiener" Avantgarde etwas zu erweitern, kommt aber schließlich bei seinen Helden Czernin und Schmatz zur Ruhe. Von der restlichen Gegenwart ist nur insofern die Rede, als sich Kiefer eine Art Bauhaus für Literatur wünscht, damit höflich insinuierend, dass es für ihn mit den Poetiken der Gegenwart nicht weit genug her ist.

Kiefer gehört zu den wenigen Kritikern, die überhaupt genaue Satzanalyse betreiben. Man könnte sich viel von einer Literaturkritik erhoffen, die um eine solchermaßen detailversessene Analyse von Vokalharmonik und Satzbau kreist. Er zeigt allerdings in weiten Teilen seiner Kritiken allzugroße Schlichtheit in seinen Schlussfolgerungen und Begründungen. Es ist schade, wenn er sich zwar visionär zu einem Futurismus der Literaturkritik aufschwingt, doch im Augenblick, wo er zu virtuosen Interpretationsarien anheben möchte, an haltlosen Anwendungen seiner Satztheorie ausrutscht. Er scheint diese Theorie des Satzes - als Darstellungszentrum nicht nur der Sprache, sondern auch der Kognition - wie eine Art Lichtschwert zu betrachten, mit dem sich auf einen Schlag Klarheit in ein finsteres Mittelalter der Literaturtheorie und -produktion bringen lässt, und sich selbst als Gründer einer neuen Schule von Kritik, die mit dieser Wunderwaffe befähigt sein soll, die Dichtung mit bislang ungekannter Klarheit zu durchschauen.

Betrachten wir etwas genauer das Lichtschwert. "Moderne Linguisten (z.B. Peter Eisenberg in seinem Standardwerk Grundriß der deutschen Grammatik, Stuttgart 1994) nennen den Satz – und eben nicht das Verb oder das Nomen oder das Morphem – die kleinste »kommunikativ selbständige Einheit« der Sprache. Das philosophische Standardwerk zu dieser Thematik ist Ernst Tugendhat: Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt 1976." begründet Kiefer seine Überzeugung in der ersten Fußnote auf Seite 7. Nun braucht man sich nur ein wenig mit der Sprechakttheorie und vorallem mit jüngeren auf sie aufbauenden Untersuchungen auseinanderzusetzen, um zu sehen, dass sie sich fast ausschließlich mit sogenannter Alltagssprache beschäftigen und mit literarischem Sprechen, wenn sie es denn versuchen, eher schlecht zurechtkommen. An späterer Stelle spickt Kiefer seinen Diskurs mit Vokabeln aus der analytischen Sprachphilosophie und der Aussagelogik, deren Unfähigkeit, mit Literatur umzugehen, so beständig ist wie ihr Bemühen darum. Trotz der wissenschaftlichen Anklänge bleibt Kiefers Auffassung davon, was ein Satz ist, recht diffus. Um alles zu können, was er sich von dieser "Formel" (165) verspricht, muss die Satztheorie im Grunde alles aufgeben, was sie von einer Worttheorie unterscheidet. Bestenfalls ist es gleichgültig, ob man als Grundeinheit der Sprache einen weiten Satzbegriff setzt, dessen Möglichkeiten nicht mit denen der normativen Grammatik erschöpft sind, oder einen weiten Wortbegriff, der die grammatischen Möglichkeiten und Wertigkeiten der Wörter sowie ihre gallertig variablen Assoziationsräume anerkennt. Es stechen allerdings die Probleme ins Auge, die mit der Annahme von Sätzen als Grunddenkeinheit aufkommen und sich nicht zuletzt anhand der Widersprüche manifestieren, in denen sich der Kritiker im Lauf seines Buchs verheddert.

Mit Texten konfrontiert, die nicht die Form grammatischer Sätze annehmen, bietet sich für einen satzversessenen Denker zunächst eine Ellipsentheorie an. Eine Ellipsentheorie ist immer eine Hilfskonstruktion, und zwar eine der offensichtlichsten und unelegantesten. Wenn Kiefer angesichts eines bekannten Gomringergedichts Sätze durch den Kopf gehen wie "»Aha, die Leere im Zentrum soll offenbar das >Schweigen< exemplifizieren«" (51), ist nicht verwunderlich, dass er die Konkrete Poesie als kaum erträgliche Zumutung empfindet. Allerdings räumt Kiefer ein paar Zeilen weiter ein, dass dem nicht ganz so ist: sondern man denkt sich mitunter bloß "»Ach so« und »empfindet« dabei das Verhältnis von freiem und beschriebenem Raum". Das erscheint schon plausibler, es fragt sich nur, wo hier der Satz hingekommen ist.
Für die im Folgesatz nachgelieferte Behauptung, dieses synthetisch und blitzartig empfundene "Ach so"-Verständnis sei "satzartig", bleibt Kiefer eine Erklärung schuldig.

Es lässt sich nicht abstreiten, dass die Konkrete Poesie in ihren rein sinnlichen Spielarten von bedingtem Interesse ist, allerdings handelt es sich bei ihnen um Nebengleise einer Dichtung, die sich in ihren wichtigeren Werken mit den Grundlagen der Kognition auseinandersetzt. Wenn man Dichtung als Kompositionskunst des Satzes auffasst, ist es keine unlogische Schlussfolge, die Konkrete Poesie nicht als Dichtung zu klassifizieren – darüber müsste man gesondert streiten, meiner Ansicht nach regrediert eine solche Auffassung zu einem ziemlich biedermeierlichen Kunstverständnis. Kiefer lässt die Frage aber gar nicht akut werden, indem er die Konkrete Poesie in zwei Kapiteln über visuelle und Lautpoesie behandelt und den interessanteren Rest einfach unter den Tisch kehrt.

Bei einer solchen Vorstellung von Verständnis – sei dieses nun "letztlich" satzartig oder nicht – verwundert die Häme, mit der er etwas früher einer Formulierung von Herwarth Walden "Absurdität" bescheinigt hat: "»Das künstlerische Verstehen ist keine Verständigung, [...] ist das Fühlen. [...] Wir geben uns die Hand und wir fühlen, wir wissen das Fühlen. [...]«"(44) Der Sachverhalt kommt Kiefer natürlich zu Recht absurd vor, handelt es sich doch um die existentielle Absurdität der Isolation des Ichs, an der wir alle oft verzweifeln, gegen die wir anschreiben, und die Wittgenstein mit dem Bild illustriert hat, wir sprechen, wenn wir über Käfer sprechen, jeder über einen jeweils eigenen Käfer in einer Schachtel, die nur uns selbst einsichtig sei. Kiefer bringt dazu das entsprechende Bild eines Kabbalisten und eines Physikers, die über Feuer sprechen. Dazu erwähnt er Lakoffs und Johnsons in "Metaphors We Live By" dargelegte These der metaphorischen Durchstrukturiertheit unserer Sprache. Hier befinden wir uns an einer entscheidenden Kippe. Kiefer stimmt Lakoff und Johnson zu, aber verwirft Nietzsches ähnliche Beobachtung ("Über Lüge und Wahrheit im außermoralischen Sinn", 44) als vom Wort ausgehend. Das Komische – und zwar schon an Lakoffs und Johnsons Buch – ist dabei eigentlich die Annahme, die Wirkung dieser Sprache und Denken strukturierenden Metaphorizität sei derart begrenzt, dass man sich durch Umsicht, Reflexion und den Gebrauch von wörtlichen, also wahrheitsfähigen Sätzen vor ihr in Sicherheit bringen könne. Kiefer: "Nur wo das Nicht-Selbstverständliche der Annahmen, die notwendig gemacht werden müssen, um überhaupt etwas »meinen« oder »darstellen« oder »bezeichnen« zu können, im aktuellen Satzgebrauch mitgedacht oder im Sprechen zur Disposition gestellt oder zum Quell der Inspiration werden, besteht (in der »Moderne«) überhaupt die Möglichkeit, ästhetische Universalität erreichen zu können." (22) Ich dachte eigentlich, Universalität sei ein Mythos, von dem sich spätestens die "Postmoderne" endgültig und mit gutem Grund verabschiedet hatte.

Kiefer verwirft also Nietzsches Auffassung von Sprache an sich als metaphorisch und erratisch im frühen Aufsatz "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn" sowie seine "Nachfolger" Mauthner und Cassirer in einem Atemzug (44) als mystisch und tut auch den Chandosbrief als geschwätzige Befindlichkeitshysterie ohne Spracharbeit ab (76). Offensichtlich möchte Kiefer mit Wittgenstein davon ausgehen, dass alles, was sagbar ist, in ganzen Sätzen, eindeutig und klar verständlich sagbar ist. Das ist eine Theorie, die kaum widerlegbar ist, nachdem es eine unendliche Zahl möglicher Sätze gibt. Sie ist aber durch die in ihr enthaltene Auffassung des Satzes als Universalie genauso in unentscheidbare Glaubensfragen verstrickt wie das umgekehrte Postulat eines Außersprachlichen und das Postulat eines Zwischenbereichs von Dingen, auf die sich, satzartig oder nicht, sprachlich hindeuten lässt.

Wittgenstein inkludiert hier aber alle möglichen Formen der Kommunikation als "Sätze". Kiefer dagegen bleibt als Praktiker im Baukasten der deutschen Normgrammatik stecken, wie man beispielsweise an seinem Faible für die Ergänzung von Präpositionalpräfixen sieht. (Mag sein, dass das, wie einige der Punkte, die ich kritisiere, nicht seiner Theorie, sondern nur seiner Anwendung davon anzulasten ist.)
Das heißt, wenn wir uns verständigen wollen – und das können wir, egal ob alles sagbar ist oder nur manches, ob wir immer oder nur manchmal metaphorisch sprechen, und ob wir jeweils die Halbsätze und Andeutungen der anderen im Kopf zu ganzen Sätzen ausformulieren oder nicht – wäre es sinnvoll, diese Frage als Privatsache aus dem Spiel zu lassen.

Zumindest taugt die Metaphernfrage nicht als Argument in Fragen der Grammatik. Kiefer setzt sie ein paar Mal so ein, es gelingt ihm aber nicht, zu erklären, wie er genau den Zusammenhang sieht. Es geht um Klopstocks Partizipien (25), und zwar um die Frage, ob etwa "Das Hingegossene" als Ellipse (und somit praktisch als Synonym) des Ausdrucks "die hingegossene Flüssigkeit" verstanden werden muss. Kiefer bringt sofort mit einem plantschenden Riesensatz die Ontologie ins Spiel, ohne irgendeine der beteiligten Fragen zu klären oder sich auch nur luzide zu positionieren: es handle sich um die "substantivierte Verwendung von Partizipien also als Metapher für den adjektivischen Gebrauch". Die Klassifizierung der Substantivierung als Metapher erscheint relativ weit hergeholt (es sei denn, man betrachtet mit Nietzsche und, später, De Man jede Abstraktion als metaphorisch, wovon sich Kiefer als Anhänger der satzlichen Bezugnahme als Voraussetzung für Wahrheitswerte, wenn ich ihn richtig verstehe, distanzieren würde) und keineswegs zufriedenstellend erklärt. Man weiß nicht genau, was diese Verlagerung der Fragestellung vom Satzbau zu den Grundlagen der Sprachbeschaffenheit für die Argumentation bringt. Kiefer fragt dann selbst, warum die oben in Frage stehende Differenz zwischen adjektivischer und substantivischer Partizipverwendung, die im 18. Jahrhundert als eine Sache der Wirkung angesehen wurde, "heute eine ontologische Differenz ausmachen soll"(25f). Die Antwort scheint uns indessen ganz klar: weil wir, wie die postmoderne Philosophie bereitwillig Auskunft gibt, in unserer Medienwelt langsam kapiert haben, dass Wirkung alles ist, was wir an Wirklichkeit kennen. Klopstock und die "Participianer" entnahmen das Bedürfnis nach der Art von Entitäten, die von Partizipien denotiert werden, aus der griechischen Philosophie, wo das Griechische für Abstrakta eben ein breites Spektrum von substantivierten Verbformen bereithält. Sie wollten solche Begriffe, um über die Wirkung auf eine außersprachliche und nichtkonkrete Wahrheit abzuzielen, während wir in einer sprachrelativistisch oder –deterministisch gesehenen Welt davon ausgehen, dass wir die Welt oder den Zugriff auf sie überhaupt erst sprachlich erschaffen. Wenn eine Dichterin nun in ontologischen Termini über ihre grammatischen Entscheidungen Auskunft gibt, mag das vielleicht etwas preziös wirken, aber bullshit ist es nicht, und im Grunde wäre das eine Form des Ernstnehmens der Erkenntnisse der Sprachphilosophie, die Kiefer gerade einfordert. Nachdem er aber die These der Metaphorizität der Sprache nur teilweise akzeptiert, also sehr wohl von der Möglichkeit nichtmetaphorischen Sprechens ausgeht, möchte er scheinbar an einer klopstockschen Sicht des sprachtheoretischen Stellenwerts grammatischer Möglichkeiten festhalten, die diese als ontologisch kontingent ansieht. Eine solche Sicht von Sprache nimmt der ganzen Frage viel von ihrer Relevanz, da sie der Literatur eine kontingente Rolle in einer Realität einräumt, die aber gemäß der sprachrelativistischen oder –deterministischen Philosophie der meisten relevanten Dichtung von ihr erst erzeugt oder jedenfalls mitbestimmt wird. Hier wird die Problematik akut, mit einer an Hölderlin entwickelten Theorie nicht nur an die sprachliche Erscheinungsform, sondern auch an die sprachtheoretischen Grundlagen moderner Dichtung herangehen zu wollen, denn diese lassen sich eben gerade seit Hölderlin nicht mehr von der "Wirkung" der Dichtung trennen.

Kiefer geht also mit der Formulierung "Weil (nicht) vom Darstellungszentrum aus gedacht" (114, 118, 3x 119, 120; "Vom Sprachgebungsakt aus denken" 120; "Kompositionskunst des satzartigen Bezugnehmens" 60, 165) an die Analyse von Dichtungen heran. Er meint vermutlich, seine Theorie in den Anfangskapiteln so ausreichend erklärt zu haben, dass er nicht im Einzelnen ausführen muss, was damit gemeint ist. Tatsächlich scheinen die Formeln oft als Begründung für alle möglichen Behauptungen herhalten zu müssen, was an einem Gedicht gelobt oder getadelt werden soll, und so gerade zum Gegenteil einer genau artikulierten Kritik zu verleiten. Es tauchen hier und da doch zu persönlich motiviert scheinende Verstiegenheiten in der Kritik und im Lob auf. So wertet Kiefer bei Hölderlin, Czernin oder Schmatz alles im Zweifel für den Autor und bei Celan oder Brecht alles gegen ihn. Beispielsweise unterstellt er Celan Mehrdeudigkeit "aus Versehen" (120) oder behauptet zur Konkreten Poesie: "Sie kann sich zu dieser Gattung [Literatur] nicht verhalten, weil sie, wie die Lautpoesie, keinen eigenen Begriff der sprachlichen Bezugnahme entwickelt: die Konkrete Poesie lässt unseren Begriff der sprachlichen Bezugnahme selbst unmodifiziert" (tatsächlich handelt es sich um eine geradezu revolutionäre Modifikation, die allerdings den Rahmen von Kiefers Satztheorie sprengt und deswegen in seinem Denken nicht anerkannt werden kann). Interessanter sind die Kritiken von weniger klar in seiner poetischen Weltkarte verorteten Autoren wie Bobrowski; interessant sind die Kritiken immer dann, wenn sie konkret am Text bleiben und sich nicht bloß lose auf die Satztheorie berufen, sondern diese wirklich als Denkwerkzeug für genaue Analyse verwenden.

Es wird nach und nach ersichtlich, dass Kiefers Ablehnung einer Worttheorie sich auf eine zu primitive Theorie des Bedeutens bezieht: er grenzt sich ab von einer "traditionellen Vorstellung [...], der sprachliche Weltbezug würde durch die Verwendung des Einzelwortes und der damit verknüpften »Vorstellung« geleistet – und nicht durch die Funktion dieses Wortes im Satz oder dem »Sprechakt« (46). Nun inkludierte jede ernstzunehmende Worttheorie selbstverständlich die Funktion eines Wortes in seinem Kontext, sei dieser satzartig oder räumlich, zeitlich oder assoziativ, was seine Einwände entkräftet. Kiefers Überlegungen münden aber sogar in die absurde Annahme, Anhänger einer Worttheorie müssten in ihrer Ausdrucksweise den Satz scheuen, und wenn sie es nicht täten, seien sie inkonsequent. Wer alles, was auf dem Blatt steht, als elliptischen Satz liest, kann dann freilich Futuristen vorwerfen, inkonsequenterweise in elliptischen Sätzen zu komponieren, auch wenn sie bloß einen einzigen Buchstaben aufs Papier setzen (46).

Abgesehen davon müssten aber Kiefers Interpretationen generell etwas subtiler auftreten, um seine Meinungen plausibel zu stützen. Es unterlaufen ihm zuviele Ungenauigkeiten und Grobheiten, um von der Superiorität der Satztheorie ein überzeugendes Bild zu geben. Die Behandlung der Konkreten Poesie ist stellenweise widersprüchlich. So "sollte die prinzipielle Überwindung hergebrachten satzartigen Aufbaues der Textur ein utopisch Neues ermöglichen. Nur eben: Diese Utopie pflanzte man der traditionellen Vorstellung ein, der sprachliche Weltbezug würde durch die Verwendung des Einzelwortes und der damit verknüpften »Vorstellung« geleistet – und nicht durch die Funktion dieses Wortes im Satz oder dem »Sprechakt«. Die Irrtümlichkeit jener Sprachtheorie erklärt zugleich, weshalb die allermeisten expressionistischen Texte ja gegen die steilen Programme von »Syntaxzertrümmerung« und »parole e libertà« ganz herkömmlich als Sprechakte und Satzaussagen komponiert sind." (46) Hier muss dringend einiges unterschieden werden. Trifft der Vorwurf ganzer Sätze teilweise auf den Expressionismus zu, so mitnichten auf die Konkrete Poesie, die sozusagen dieses Feststecken der Avantgarde im Satz vor und zwischen den Kriegen wahrnahm und korrigierte. Es ist richtig, dass die Satzfrage eine Zeitlang einfach nicht wahrgenommen wurde; es kann sogar sein, dass eine Worttheorie dazu beitrug, den Satz an sich nicht zu problematisieren, wenn sich in expressionistischen Stilen beispielsweise kurze, parataktische Sätze als "unmittelbarer" präsentierten, vgl. zum Beispiel Arno Holz und sogar noch den von Kiefer ganz gut beschriebenen Nominalstil Brechts. Allerdings führt der Weg aus der Satzgefangenschaft sehr wohl über das Einzelwort und glückte.

Aus der Luft gegriffen scheint indessen Kiefers nächste kausale Verknüpfung: "Dieser Widerspruch von Programm und Realisation rührt nicht zuletzt von einem Nicht-Durchschauen der elliptischen oder metaphorischen Natur bestimmter alltäglicher Sprachgewohnheiten her." Mit der Wendung"nicht zuletzt" oder "letztlich" (Klappe, 18, 19, 21, 52) wird immer eine Art blackbox in eine Argumentation eingeschaltet, die auch hier scheinbar notwendig ist. Jedenfalls gelingt Kiefer nicht, den behaupteten Zusammenhang zwischen der metaphorischen Strukturierung unserer Sprache und der Unmöglichkeit einer Wortbedeutung plausibel zu machen. Wie es scheint, unterstellt er allen, die einer Worttheorie anhängen, dass sie einfach der geläufigen Metapher des Worts als "meinendes" oder "denotierendes" Subjekt auf den Leim gegangen sind. Dies ist zwar ein hübsches Bild, aber darauf eine Refutation der Worttheorie zu stützen ist ein Akt genau der Naivität, die er kritisiert.

Kiefer stürzt daraufhin in eine etwas unbeholfen wirkende Interpretation eines konkreten Gedichts von Eugen Gomringer. "Der Leser" stellt dort "jenes Netz von satzartigen Bezugnahmen her, das der Text in seinem Minimalismus glaubt, durch eine Konstellation von Einzelworten ersetzen zu können" (49). Der Autor wollte also, erklärt uns Kiefer, mit "du blau" eigentlich ausdrücken: "»du bist blau« oder »du bist jetzt blau« oder »du, da ist blau!« usw." (49). Man sollte dem Tarzan aus der Schweiz ja direkt einen Sprachkurs anbieten! Nein, in Wirklichkeit handelt es sich um einen interpretatorischen Zirkel, wenn Kiefer dem Autor unterstellt, die von ihm (Kiefer) gedanklich ergänzten Sätze ausgelassen zu haben. Und es liegt in diesem Kapitel noch ein tieferer Widerspruch. Kiefer bescheinigt der Konkreten Poesie nur bedingte Relevanz, weil sie, indem sie das Satzbilden den Rezipienten überlässt, unseren Satzbegriff unangetastet lässt (50). Derart mit der Folie von Kiefers Satztheorie gesehen könne uns die Konkrete Poesie gar nicht weiterhelfen. Tatsache ist aber, dass sie uns sehr weitergeholfen hat, das sagt auch Kiefer selbst, und belegt es anhand der Traditionslinie Priessnitz, Czernin und Schmatz. Sie kann uns aber, wie Kiefer zeigte, nicht mit den Mitteln des Satzes geholfen haben. Somit muss es eine relevante sprachliche Welt außerhalb des Satzes geben, wo sich das abgespielt hat.

Kiefer hat an zahlreichen anderen Stellen mit seinen satzlichen Interpretationen Anlass zu Heiterkeit gegeben, beispielsweise als er die Klimax der Genialität eines Steinschen Zweizeilers in einer frei erfundenen englischen Bezeichnung für Regenmantel ansiedelt, (rubber-coat, 137 – ja wohin verirrt man sich nicht beim Umschiffen weiblicher Geschlechtsorgane) und in seiner grandiosen, zwei Absätze füllenden Ausführung, warum man von einem Haus nicht "unter Bäumen" sagen kann. Erst in der Bemerkung, nur von einem Puppenhaus könne man das gerade noch sagen (157-158) findet der aufgewühlte Kritiker Ruhe.
Das Problem an Kiefers Interpretationen ist, das er bei allen scharfsinnigen Beobachtungen mit einer bierernsten Pedanterie an die Analyse herangeht, die mit der Leichtigkeit und Versatilität der Objekte nur mühsam zurechtkommt. Vorallem aber widersprechen die satzartigen Resultate dieser Untersuchungen oft der vorher von Kiefer selbst bestätigten Tatsache, dass ein Gedicht keine zusammenfassbare "Aussage" hat; man müsste ergänzen: auch nicht zwei oder drei.

Kiefer hat also einen Aspekt der Gedichtanalyse an Hölderlin herausgearbeitet und befragt unter diesem Aspekt die Gegenwartslyrik. Der ungewöhnliche Ansatz führt über eine versuchsweise Aufhebung der historisierenden Sicht zu Gedankenspielen wie dem, ob man dieses oder jenes Gedicht von Benn beispielsweise wie ein kontemporäres lesen könne. Dazu lautet die komplementäre Frage: Was passiert, wenn ich heute Sonette schreibe? Die analytische Fähigkeit, die Sebastian Kiefer von uns einfordert, hat nicht einmal so viel mit historischem Bewusstsein zu tun, als dass sie vielmehr Texte aus verschiedenen historischen Kontexten auf eine synchronistische Ebene des Verstehens holt, der sie in bestimmten Hinsichten als vergleichbar setzt.
Das macht den eigentümlichen Reiz von Kiefers gespreizter Beispielauswahl aus, eine gewisse Chuzpe und Unverfrorenheit, die allerdings unter der Vorherrschaft spezieller Vorlieben und dem vorhersehbaren Bashing von Lieblingslosern verflacht. Die durchaus interessante Traditionslinie, die Kiefer entwirft, lässt sich indessen auch über Hölderlin hinaus zurückverfolgen. "Dialektiker" wie Andreas Gryphius oder Gottfried von Straßburg, bis hin zu Johannes, Ovid, Platon, Sappho haben das Substrat für Hölderlins Technik der syntaktischen Gegenläufigkeiten gelegt, wenn man eine metaphorische Anwendungsweise der "Satztheorie", wie sie implizit schon bei Kiefer am Werk ist, setzt, die nicht nur grammatische, sondern auch semantische Finten und Haken bezeichnen mag. Steckt doch eine solche syntagmatisch und paradigmatisch kalkulierende, "komponierende" in Kiefers Formulierung, Vorgehensweise schon in der Urmetapher des Texts als Gewebe der Arachne: Wer einmal versucht hat, einen Teppich zu weben, also die Übersicht und Kontrolle über gewünschte Farbfelder im Wellengang der zeilenartig kreuzenden Bewegung des Schiffchens zu behalten, denkt so. So denkt auch jemand, der gleichzeitig Sätze konstruiert, ein Sonett konstruiert und ein Sinngebäude konstruiert. Man kann dafür auch Metaphern der Architektur oder des Maschinenbaus bemühen: simultanes Arbeiten an mehreren ontologischen Ebenen, das Konstruieren von interferierenden und interdependenten semantischen und syntaktischen Systemen, das Herstellen von Programmen mit Interfaces und andere Balanceakte mit unterschiedlichen Faktoren in unterschiedlichen Dimensionen.

Und man muss dabei durchaus nicht zwangsläufig mit Sätzen arbeiten. Wenn Kiefer vom Satz auch als "ewiges Hindernis" (30) spricht, hat er schon genau das erfasst, worauf ich mit meiner Kritik hinauswill, nur übersieht er scheinbar, dass die Revolution der "Syntaxzertrümmerer" doch in dem Maß geglückt ist, in dem diese Revolution eben glücken kann: das satzartige Denken ist zur Option geworden (sofern sie das nicht immer schon war, man braucht eigentlich nur einen Blick auf andere Literaturen wie fernöstliche zu werfen, um sich von diesem Fortschrittsdenken zu verabschieden). Verzichtet man auf sie, lässt man, sofern man sich im Abendland bewegt, eine relativ hochverfeinerte Werkstatt liegen, um roh und nackt mit primitivem Sprachgerät auf die Ontologie zuzustürmen. Das ist eine berechtigte und mitunter genauso subtile Tätigkeit, deren Qualität sich nicht mit der Frage, ob sie in der Satzarbeit mit Hölderlin mithalten kann, bemessen lässt.

Problematisch bleibt bei Kiefer aber auch der wiederholt vorgetragene triadische Vergleich von Musik, Bildender Kunst und Literatur. Meist beruht hierbei die postulierte Sonderstellung der Literatur auf Behauptungen, deren Gegenteil genausogut zutrifft. So beispielsweise in der Einleitung, in der als selbstverständlich postuliert wird, ein leeres Blatt könne keine Literatur, jedoch schon Kunst sein. Die Verweigerung künstlerischer Betätigung ist ein superorigineller Einfall, der sich relativ schnell abnützt und trotzdem untilgbar in der Kunst- und Literaturgeschichte herumgespenstert. Das hat es natürlich auch in der Literatur alles gegeben, nicht nur in Form von Gappmayrs Leerbuch, bestimmter Cabaretverweigerungen der Wiener Gruppe oder jüngst Ruth NN, die aus einem in kodiertem Streifenmuster gestrickten Schal vorlas, sondern gewissermaßen schon als schwarze Seite in Tristram Shandy, oder man denke an spätmittelalterliche Bücher, die leere Schatullen sind (man kann darüber streiten, aber mir scheint da unter anderem schon ein verwandter Gedanke dahinterzustecken).

Schließlich wird durchwegs nicht klar, was Kiefer mit diesen Vergleichen eigentlich will: Zeigen, dass es einen ontologischen Unterschied zwischen der Literatur und anderen Künsten gibt, weil ihr keine Metasprache zur Verfügung steht, an der sie nicht selbst teilhat? Zu bedenken geben, dass die Avantgardisten, die Zertrümmerer herkömmlicher mimetisch-harmonischer Formen, es deswegen besonders schwer hatten, ihnen eigentlich gar keine solche Revolution wie in den anderen Künsten möglich war? Oder, und das impliziert gar keinen Unterschied als Voraussetzung, den Heutigen (die wir jetzt, dank Kiefers Einführung der Satztheorie in die Literaturkritik, endlich nach Jahrhunderten der grammatischen Unmündigkeit in der Lage sind, Gedichte ordentlich zu verstehen, 27) vorwerfen, in Bezug auf die nun doch wieder stattgefunden habende Avantgarderevolution in Ermangelung von Akademien ignorant zu sein? Jede dieser Propositionen, das muss anerkannt werden, hat immerhin etwas für sich. Das Phänomen, dass die institutionalisierte Metaebene, also die Literaturkritik und Literaturwissenschaft, mit ihren Mitteln und ihrer Klugheit regelmäßig weit hinter ihre Objekte zurückfällt, gibt es in den anderen Künsten nur aufgrund grassierender Dummheit, nicht aus medialen Gründen. Kiefer beobachtet zutreffend ein Gefühl, etwas nachholen zu müssen, bei den Dada wiedererweckenden Tätigkeiten beispielsweise der Wiener Gruppe oder der Oulipo. Und schließlich ist die Frage, ob wir als postmoderne, mit allen Wassern der Moderne gewaschenen Wesen, die nun auch noch die Satztheorie begriffen haben, besser befähigt seien als jemals zuvor, Gedichte zu verstehen, eine herausfordernde, und eine Herausforderung ist immer gut.

Ann Cotten

Sebastian Kiefer – Was kann Literatur, Graz 2006