1 Mit Monsieur Teste
2 Fragmentarische Notizen zum ersten Teil dieser Ausgabe
1 Mit Monsieur Teste
Im Geiste, vielleicht, von Paul Valérys Monsieur Teste,
diesem übermenschlich anspruchsvollen Selbsterforscher, eine Art Gedankenexperiment
(vor dem BELLA triste 17 und meine Bemerkungen dazu Kontur gewinnen sollen):
Welchen Bedingungen müsste ein Gedicht für jemanden genügen,
der seiner selbst in einem Gedicht mächtig zu sein suchte, oder, sagen
wir (um dem Luciferischen an Monsieur Teste nicht allzu sehr nachzugeben): der
sich selbst in Gedichtform zu durchdringen suchte?
– Valéry:
»Der Dichter sucht ein Wort, welches sei:
weiblich
aus zwei Silben
p oder f beinhaltend
beendet mit einem stummen Buchstaben
synonym mit BRUCH, TRENNUNG DER BESTANDTEILE
nicht wissenschaftlich, nicht selten –
Mindestens sechs Bedingungen ... Syntax, Musik, Regeln des Verses, Sinn und
Takt.« Eine schwierige Suche? Zweifellos. Für einen nach schrankenloser
Selbstdurchdringung Strebenden jedoch eine starke Vereinfachung. Denn Valérys
Bedingungen sind vor allem durch Elemente sprachlicher und sprachbestimmter
Dimensionen erfüllt: zum einen durch bestimmte Laute, Buchstaben und Silben
ebenso wie durch einen bestimmten Rhythmus und ein bestimmtes Metrum (Musik,
Regeln des Verses) wie auch durch bestimmte grammatikalische Merkmale (Syntax);
und zum anderen auch durch bestimmte Begriffe (synonym mit), durch Elemente
einer Dimension also, die, wenn man sie auch nicht zur Sprache rechnen muss,
doch zumeist durch sprachliche Ausdrücke gegeben ist. Allerdings ist auch
von der Bedingung Takt die Rede. Wenn damit nicht wiederum etwas Versmusikalisches
gemeint ist, dann wohl etwas, das eine Werterfahrung des Dichters bezeichnet;
Takt in diesem Sinne wäre eine für die Dichtung ausserordentlich wichtige,
allerdings auch vage Bedingung.
Mit jenen sprachlichen und stark sprachbestimmten Dimensionen allein könnte
sich jener über die Maßen anspruchsvolle Geist keineswegs begnügen.
Denn es gibt ja noch Anderes, das Monsieur Teste, um sich selbst durchdringen
zu können, in seine Suche einzuschliessen hätte: etwa das, was wir
– so unterschiedlich die Dinge auch sein mögen, die zu dieser Kategorie
gehören – zusammenfassend psychische Zustände nennen:
Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen, sinnliche Wahrnehmungen usw. Wenn Teste
sich selbst in Gedichtform zu durchdringen sucht, dann müssen auch diese
Dimensionen zum Gedicht gehören, da sie doch auch Dimensionen seiner selbst
sind. Auch selbst das würde noch nicht hinreichen: Teste müsste auch
seine und seiner Rede Beziehungen zu jenen Dimensionen von Dingen erfassen,
die, wie es scheint, ausserhalb seiner selbst liegen und auf die er in dem Gedicht
Bezug nimmt – zu Menschen, Bäumen, gesellschaftlichen Verhältnissen,
historischen Ereignissen beispielsweise, vielleicht auch zu abstrakten Gegenstände
wie die Schönheit, wie Tugenden oder Zahlen. Denn wie sollte man sich selbst
durchdringen wollen, ohne die Beziehungen zu Dingen ausserhalb von sich selbst
einzuschliessen?
Monsieur Teste müsste also sehr hohe, ja, höchste Anforderungen an
ein Gedicht stellen. Er hätte alle wesentlichen Dimensionen, die im Umgang
mit einem Gedicht und im Umgang mit ihm selbst gegeben sein können, in
seine Suche einzuschliessen. Denn nur dann könnte er hoffen, sich nicht
nur – in Abwandlung eines berühmten Paulus-Wortes – in einem
dunklen Spiegel, sondern von Angesicht zu Angesicht zu sehen.
*
Die Bedingungen einer Selbstdurchdringung in Form eines Gedichts sind das eine.
Wenn sie nun erfüllt würden: welche Merkmale könnte dann die
Erfahrung jener Testeschen Selbstdurchdringung haben? Da ich eine solche
Erfahrung höchstens ahnen kann und hier vor allem als Gedankenexperiment
darlege, muss mein Bild davon wohl dunkel sein: erst jene Selbstdurchdringung
selbst, fände sie tatsächlich statt, könnte ja mein Bild erhellen
– oder ein anderes verlangen.
Ich stelle mir vor, dass jene gedichtgemässe Selbstdurchdringung oder selbstgemässe
Gedichtdurchdringung durch zwei Extreme zu gehen hat: In dem einen Extrem werden
jene Dimensionen als, sagen wir, ungeteiltes Ganzes erfahren. Monsieur Teste
also liest ein Gedicht und in diesem beispielsweise Baum – und
alle erwähnten Dimensionen sind ihm darin als ungeteilte gegeben: Buchstaben,
Laute, eine Silbe, das Wort selbst, aber auch die grammatikalische Dimension
des Substantivs, ebenso jene des Begriffs und in ihm weitere Begriffe und
damit auch etwas, das ich hier Sinn-Postulate nennen will: beispielsweise die
stillschweigende Annahme, dass alle Bäume Pfl anzen sind, Äste haben
und Wurzeln, dass ein Baum kein Tier ist usw.; dann auch Konnotationen,
die mit dem Wort Baum verbunden werden: etwa, dass das Wort Baum häufig
in Naturgedichten vorkommt oder in einem bestimmten Gedicht von Brecht usw.
Auch sind für Teste, ungetrennt davon, Vorstellungen, Erinnerungen und
sinnliche Wahrnehmungen gegeben, allgemeiner: psychische Zustände, und
endlich auch die Gegenstände und/oder Gegenstandsdimensionen, auf die sich
das Prädikat Baum bezieht.
In diesem Sinn also erfährt Teste im Gedicht Baum und damit auch
sich selbst als ungeteiltes Ganzes. Er vermag die unterschiedlichen Dimensionen
und damit auch sich selbst zu einer ungeteilten Einheit zusammenzuziehen. Die
Vieldimensionalität von Baum wie auch seiner selbst ist ihm, wie
man vielleicht sagen kann, potentiell geworden. Und ist eben dies nicht überhaupt
eine Funktion der Form von Gedichten? Dass sie uns wenigstens einiges von dem,
was sonst geteilt wäre, als Ungeteiltes zu erfahren gibt? Zeigt sich das
nicht auch in der zumeist selbstverständlichen und unrefl ektierten Rede
davon, dass Form und Inhalt eines literarischen Textes übereinzustimmen,
ja eines zu sein haben?
Und wie ist es denn, wenn wir selbst lesen, die wir so wenig Monsieur Teste
sind? – Wir lesen, und da ist immerhin manches ungeteilt gegeben, und
wir müssen erst Unterscheidungen machen, um etwa von uns selbst
das Wort Baum und von dem Wort die Folge von Buchstaben oder Lauten
zu unterscheiden, aus denen es besteht; oder um den Begriff des Baums von dem
Wort zu trennen und von diesem Vorstellungen, Gefühle und sinnliche Wahrnehmungen
zu unterscheiden, und endlich auch alle diese Dinge von dem, worauf wir das
Prädikat Baum in dem Gedicht beziehen, zum Beispiel also von den
Bäumen selbst. Doch auch wenn wir manchmal so lesen, sind wir noch lange
nicht Teste. Vielmehr müssten wir ganz im Gegenteil dann als Testes leibhafte
Antithese eingestehen: Je weniger wir beim Lesen unterscheiden, umso mehr ist
Dummheit unsere Stärke, ja, und auch Dunkelheit. Ob wir nicht auch deshalb
so gerne lesen, weil wir uns dabei so dumm stellen oder dunkel werden dürfen?
Emphatisches und überschwängliches Lesen von Poesie, wunderbares und
kindliches (und oft auch kindisches) ozeanisches Versunkensein im Ununterschiedenen.
Was unterscheidet also unsere, vergleichsweise triviale Erfahrung eines Ungeteilten
von jener Monsieur Testes, die doch ein Extrem seiner höchst anspruchsvollen
Selbst- und Gedichtdurchdringung sein soll?
*
Kein Versuch einer Antwort zunächst auf diese Frage, sondern vorerst das
andere Extrem jener Erfahrung der Selbstdurchdringung, wie ich sie Monsieur
Teste zumute: Er liest Baum in einem Gedicht, doch nicht nur Baum,
sondern er scheidet die erwähnten Dimensionen auch voneinander: er löst
beispielsweise die Buchstaben von den Lauten, die Laute und Buchstaben von der
Silbe, diese trennt er von dem Wort, das er wiederum von seinen grammatikalischen
Funktionen löst, etwa von jenen in einem Satz, den er wiederum als etwas
anderes erfasst als seine Komponenten; und von all diesen Dimensionen unterscheidet
er den Begriff des Baums (und dabei auch die Sinn-Postulate
und Konnotationen, die mit dem Wort Baum verbunden werden) und von
jenem Begriff seine Vorstellungen und Erinnerungen – allgemeiner: psychische
Zustände (die er selbst wiederum voneinander unterscheidet) – und
endlich von all dem die Dimension von Dingen, die ausserhalb seiner selbst zu
liegen scheinen und auf die sich etwa das Prädikat Baum bezieht.
Teste konstruiert also Baum als in vielerlei Hinsicht geteiltes Ganzes
in Bezug auf jene unterschiedlichen Dimensionen; er konstruiert womöglich
auch die wechselseitige Arbitrarität der Dimensionen; etwa im Sinne von
Mallarmés l’absence de toute rose oder von Magrittes Das
ist keine Pfeife. Intelligenz ist dann nicht gerade Testes Schwäche,
sondern ganz im Gegenteil. Und ist nicht eben dies auch die andere Funktion
von Form – dass sie uns wenigstens einiges von dem, was sonst als ungeteilt
erschiene, als Geteiltes erfahren lässt?
Und zeigt sich diese Funktion von Form nicht auch in der selbstverständlichen
und zumeist unrefl ektierten Rede über Form und Inhalt als Getrenntes,
und auch darin, dass häufi g von der Spannung, dem Gegensatz usw. zwischen
Form und Inhalt die Rede ist? Zeigt sich das beispielsweise nicht auch in der
Rede von der sogenannten Musikalität von Gedichten, die etwa den
Dimensionen Grammatik, Bedeutung und Gegenstandsbezug entgegengesetzt sei? Und
sind es nicht gerade auch manche modernistische Poetiken und Philosophien, die
darauf bestehen, dass zwischen den Dimensionen nicht-sprachlicher und jenen
sprachlicher Dinge ein unüberbrückbarer Abgrund besteht und ein Gedicht
eben dies auch zu bezeugen habe?
Und wie ist es denn, wenn wir lesen, die wir kaum Monsieur Teste sind? Da ist
es doch manchmal tatsächlich einigermaßen so: Beim Lesen eines Gedichts
(eher als etwa bei einem in geläufi ger Sprache verfassten Roman) mag es
geschehen, dass es uns Baum (vielleicht wie einst Lord Chandos’
modrige Pilze) zerfällt – und in unterschiedliche und wie unverbundene
Teile, die ihrerseits Elemente all der erwähnten Dimensionen sind. Können
wir aber, wenn wir uns so sehr als Unterscheidende (und damit auch als Unterschiedene)
finden, mit Teste behaupten, Intelligenz sei unsere Stärke? Sofern Unterscheiden
per se Intelligenz impliziert allerdings; angesichts Testes Anspruch auf gedichtgemässe
Selbstdurchdringung jedoch reicht diese Intelligenz nicht aus. Wenn wir vor
lauter Unterschiedenem nicht mehr das Ungeteilte erfahren, würden wir uns
gerade insofern an der Testeschen Selbst- wie auch an der Gedichtdurchdringung
hindern. Ob übrigens nicht so viele von uns gar nicht gerne Gedichte lesen,
weil wir, bedingt durch ihre ungewohnte und erschwerte Sprache, uns dazu aufgerufen
fühlen, jene Dimensionen und ihre Elemente so sehr auseinanderzuhalten,
dass wir uns und das Gedicht nicht mehr als Ungeteiltes erfahren können?
Was unterscheidet also unsere triviale Erfahrung des Geteilten von jener Testes,
die doch ein Extrem seiner höchst anspruchsvollen Selbst- und Gedichtdurchdringung
sein soll?
*
Bevor ich auch diese zweite Frage zu beantworten versuche, sei das Bild jener
Testeschen Gedicht- und Selbsterfahrung vervollständigt. Dabei bin ich
mir – selbst so wenig Monsieur Teste – dieses Bildes keineswegs
sicher. Ich ahne oder vermute also nur, dass jene Erfahrung der Extreme allein
nicht die ganze Selbst- und Gedichtdurchdringung wäre, sondern diese auch
wesentlich zwischen den Extremen läge: in dem Erfassen des Prozesses
der Vereinigung und Trennung der Dimensionen und ihrer Elemente, ihrer wechselseitigen
Annäherung und Zerstreuung, in gleichsetzender Übertragung aufeinander
und ihrem entzweienden Unterscheiden.
Monsieur Teste würde also den ganzen Prozess vollziehen: von jenem Zusammenfi
nden aller Dinge und Dimensionen des Gedichts zu einer Einheit, die geballte
Kraft aller für das Gedicht und für ihn selbst relevanten Unterscheidungen
enthält, bis zu den unterschiedlichen und wie unendlich differenzierbaren
Stadien und Modi ihrer Entfaltung, ja bis zur völligen Zerstreutheit aller
Dimensionen und ihrer Elemente, von denen dennoch jedes durch zahllose Abwandlungen,
Stadien und Modi wiederum zu jener ungeteilten Einheit zurückfi nden liesse.
Und Form wäre für Teste dann nicht nur das, was ansonsten Geteiltes
als Ungeteiltes und ansonsten Ungeteiltes als Geteiltes erfahren lässt;
Form ist ihm dann wohl vor allem die Kraft, die trennt und vereinigt, die Unterschiede
und Ununterschiedenes herstellen und erkennen lässt. Form ist also –
in Testes Selbstdichtung und erdichtetem Selbst – etwas Dynamisches.
Dieses Bild nun erlaubt vielleicht auch eine Art Antwort auf die beiden oben
gestellten Fragen. Was also unterscheidet unsere, vergleichsweise triviale,
Erfahrung des Ungeteilten von der gedicht- und selbstdurchdringenden Monsieur
Testes? Und was unsere ebenso triviale Erfahrung des Geteilten von den Erfahrungen
Monsieur Testes?
Weniger die Unfähigkeit, im notwendigen Maß durch jene beiden Extreme
zu gehen, sondern vor allem die Unfähigkeit, jene Ungeteiltheit wie jene
Geteiltheit in hohem Maß zu erfahren, sie aber dennoch als Momente jenes
Prozesses zu erfassen, der zu ihnen hin- oder von ihnen wegführt. Das,
was uns von Teste unterscheidet, wäre also unsere vergleichsweise geringe
Fähigkeit, jene beiden Extreme einander zu vermitteln. Das eine Extrem
des Ungeteilten macht uns dumm oder dunkel für uns selbst, das andere,
jenes des Geteilten, vielleicht in eingeschränktem, aber jedenfalls nach
Testeschem Maßstab trivialem Sinn intelligent; und das, was zwischen den
Extremen liegt, bleibt für uns, wörtlich verstanden, nur stückweis
gegeben, da wir es nicht hinreichend als Momente eines uns erhellenden Prozesses
erfahren können, das von den beiden Extremen weg – oder zu ihnen
hinführt.
2 Fragmentarische Notizen zum ersten Teil der bella triste
Diese Gedanken sind vor allem insofern meine eigenen, als ich mir die Ansprüche
Monsieur Testes vorstelle. Um diesbezüglich keine Missverständnisse
aufkommen zu lassen: Sehr wahrscheinlich, dass Monsieur Teste an meinen Gedichten
und an meinen Gedanken zur Dichtung nicht weniger auszusetzen hätte, als
ich (im Geiste von Teste) an einigen Gedichten und den Gedanken über Gedichte
in BELLA triste 17. Ich versuche hier eben, Gedichte von einem geahnten Ideal
aus zu erfassen. Ich behaupte nicht, man könne dieses in einem Gedicht
vollends realisieren. Meine Anmerkungen hätten nicht nur weniger skizzenhaft
geraten sollen, sondern eigentlich sollten sie sich auch aufsämtliche
Gedicht- und Kommentar-Beiträge in BELLA triste 17 beziehen. Krankheitsbedingt
war mir leider beides nicht möglich. Auf Wunsch der Redaktion werden meine
Auslassungen hier dennoch veröffentlicht. Meine Auswahl der Beiträge
aus BELLA triste 17 ist allein durch die zufällige zeitliche Reihenfolge
meiner Beschäftigung bedingt und drückt keine Bewertung aus.
*
Zu Daniel Falbs Gedicht [die messbare tiefe der organisation]
Der Satz ist die Einheit, diese Dimension zunächst dominant. Diejenige
des Verses, also auch des Metrums, bleibt, sagen wir, unterirdisch; denn gegeben
ist sie doch: vorgegeben, durch die Tradition des Gedichts. Etwas betontermaßen
vermeiden heisst, auf bestimmte Weise darauf hinweisen. Auch so, durch Verborgenes,
liesse sich im Sinne Testes etwas wirksam anbahnen, womöglich.
Linear-Narrativem ist man in Falbs Gedichten enthoben: eine wichtige Voraussetzung,
scheint mir, die Dimensionen, sprachliche und nicht-sprachliche, überhaupt
als solche erkennen zu können. (Natürlich kein unbedingtes Rezept.)
Das Lapidare des Gedichtes. Distanz, ihre Betonung, im Zusammenhang mit Nicht-Erzählung.
Das erweckt Hoffnung – worauf? Sagen wir: auf Elementares, im Sinne von
Bausteinen, auf die Fruchtbarkeit eines analytischen Moments (eines geteilten
Ganzen). Sie wiederum bestünde in der die Hoffung auf – oder vielleicht
in einer Ahnung von Totalität (von ungeteiltem Ganzen). Aber welche Sätze?
Worauf könnten sie sich beziehen? (Dimension: Gegenstände,
Merkmale jenseits des Sprachlichen und des eigenen Geistes).
Zum Beispiel: die messbare tiefe der organisation. Zunächst, oberflächlich:
der Eindruck wörtlicher und damit sachlicher Rede. Keinerlei Ausdruckswerte.
(Vergleiche weiter unten mit den Gedichten von Anja Utler. – Anderes Ende
der Skala)
Und der Ton macht die Musik: Kalte Sätze oder kalt angerichtete Sätze.
Was für eine Art von Entfremdung, Verfremdung? Alles, aber absichtsvoll,
wie aus zweiter Hand, wie vorgefunden; insofern Erinnerung an die modernistische
Technik der Montage. Übertragender Möglichkeitssinn: Was ist hier
metaphorisch: zum Beispiel tiefe? Kommt einer organisation
buchstäblich Tiefe zu? Wohl nicht. Man könnte aber auch ein Haus oder,
näherliegend, einen Organismus organisation nennen. Dann wäre
tiefe wörtlich zu verstehen, jedoch organisation nicht.
Darf man hier verallgemeinern? Das Verfahren lässt sich weiterverfolgen,
etwa in: geht das körpergewicht (metonymisch?) bekleidet
(metaphorisch?) hindurch. Die Form lässt die Dimensionen unterscheiden.
(Siehe Testes Vision.)
Ebenso zweifelhaft der ontologische Status von Ämtern: das Amt als abstrakter
Gegenstand oder als konkreter Ort, an dem Amtshandlungen stattfi nden? Ja, auch
das ist Nicht-Geteiltes. Man muss sich erst darauf stossen lassen, um die Unterscheidung
zu treffen; oder umgekehrt: darauf stossen lassen, dass man keine Unterscheidung
machen muss.
Überdeutlich und deshalb vielleicht hier kontraproduktiv (?): wenn
strukturen auf die straße gehen. Allzu festliegende Personifi zierung
von Abstraktem. Nur vermeidbar durch Sinnübertragung: gehen ist
dann nicht wörtlich gehen und strasse nicht
wörtlich Strasse. Schöner kleiner Kalauer: [...] und bekam das
geld am au- / tomaten zurück, das an den bäumen wächst.
Also auch tomaten, obwohl diese an Sträuchern wachsen. Und immerhin vom
strauch ist in der vorhergehenden Strophe die Rede. Funktion dieser
Verschiebung? Kalauer, in diesem Gedicht: Gewissermaßen hartes Aufprallen
an den Dimensionen Klang und Schrift. Das scheint hier ansonsten fernzuliegen
und ist also unvermittelt da.
In anderer Dimensionalität kehrt das aber vielleicht wieder, als seltsam
schief-witzige Zote womöglich: wir lagen übereinander, in der
generationszeit. auf mir befand sich / ein präsident und die endlose reihe
seiner lebendigsten darsteller. Generationszeit, der etwas (per Begattung)
generiert wird? Insulare Phantastik: die häuser bestehen aus kuchen. Oder
auch: durch öffentliche ämter mithin / geht das geerntete, geht das
körpergewicht bekleidet hindurch.
Dabei quasi-hölderlinsche Nachstellung. Lyrismus. Auch so ein Einsprengsel.
Findet kein Gegenstück im Text. Wäre das ein Fehler? Vielleicht aber
eher: Eben auch eines der Dinge, die der Text auf seine Fläche bringt.
– Jedenfalls ein Fremdkörper; eben wegen der ansonsten geradezu technokratischen
Kälte. Andersartig surreal und homogener: die nachschublinien sind
über und über / mit wohngebieten bedeckt. Das könnte aber
auch eine absichtsvoll unscharfe Formulierung sein.
Auffällige Häufung von, allerdings geläufigen, Wörtern lateinischer
Herkunft: organisation, animierte, produziert, generationszeit, präsident,
strukturen, konserviert. Das enthält: wie abgestande, fast tote Geläufigkeit:
Und es scheint auch davon die Rede zu sein. Also Ansatz zur Übertragung
der Dimension des Gegenständlichen auf die Wortwahl. Wieder: Monsieur Testes
Möglichkeit der Form, zur Nicht-Unterscheidung zu verführen. Oder
die Unterscheidung und die Nicht-Unterscheidung auseinander hervorgehen zu lassen.
Nicht, dass Sabine Schos Kommentar Daniel Falb: Science of Slapstick
gar nichts trifft, nein, durchaus einige Einsichten. Etwa die Bemerkungen zu
Vers und Strophe und zur Akausalität, auch jene zu den Tempora, zum Vergehen
von Zeit. Aber insgesamt zu viel Schaum, für mein Gefühl. Wozu etwa
diese Orgie von Anglizismen? Ist das Lebensgefühlsäusserung oder jugendbewegter
Austausch von Erkennungsmarken? Auch scheint mir Schos Text dann und wann großspurig
und jargondurchsetzt: »Falb entfaltet Einsichten, die auf der Höhe
von Wissen und Dichten sind, ohne die symbolischen Formen der Erkenntnis gegeneinander
auszuspielen. Das zeichnet einen klugen Kopf aus« ... etc. Das ist, fl
üstert mir Monsieur Teste zu, nicht belegt; da bahnt sich ein Feuilleton
allzu bodenlos an, ein wenig vertrauenserweckendes. Anderes ist vielleicht auch
deshalb für mich undurchschaubar und vage: »Die Frage nach dem Wogegen,
stets begleitet von dem Know-How des What-for, verbindet die formelhaft angeordneten
Zeilen zu einer Serenade für den Renegaten.«
Vielleicht ist das eher ein Ausprobieren von Konnotations-Tastaturen, ein ziemlich
wildes.
*
Zu Lars Reyers Gedicht Ausrufung der Arten
Dimension: Gegenstände und Merkmale, ausserhalb der Sprache, des Autors,
des Lesers. Deskription und Refl exion. Mehr oder weniger ungebrochenes Berichten;
Sprache in vorherrschend prosaischer Funktion. Keine Metaphern. Vielleicht ist
das Gedicht auch eine verborgene Parabel zur Dichterrolle, Musenfunktion, auch
zu Mimesis usw. Aber was hilft das, fragt mein Teste und antwortet: sehr wenig.
(Ebenso die anderen Gedichte Späte Kopie und Totensonntag.)
Fällt uns (Monsieur Teste und mir selbst) sehr schwer, an dem Gedicht etwas
zu finden.
Norbert Hummelt aber sieht in seinem Kommentar das Erzählerische als Stärke
und meint, dass das Gedicht dadurch Terrain gewinne; er spricht von
einer Erschliessung der erlebten und der erinnerten Welt. Das klingt
– vielleicht – gut.
Ob aber mehr oder weniger direkte (alltagsgemässe) Benennung zur Erschliessung
ausreicht? Wozu dann Literatur, insbesonders Poesie?
Und dass sich Reyers Gedichte »freiwillig an die außersprachliche
Wirklichkeit« binden, »immer in dem Bewußtsein, daß
diese nur in der Sprache bedacht und betrachtet werden kann«. –
Ist das wirklich so? Ich kann es in den Gedichten nicht entdecken. Auch wüsste
ich so gerne, was hier formale Balance und bewusste Komposition
heisst, die Hummelt Reyers Gedichten zubilligt.
Ich fürchte, ich verstehe die Kategorien überhaupt nicht recht, die
Hummelt an Reyers Gedichte heranträgt. Lyrische Ahnenforschung? Standhalten
vor den Gräbern?
Mir scheint, hier handelt es sich viel mehr um einige wiedererkennbare Requisiten,
die in eine, sagen wir, So-sind-die-Dinge-ja-wirklich-Stimmung versetzen. Hier
bin ich, Teste eingedenk, äusserst misstrauisch. Und wenn Hummelt behauptet:
»Ich lese Reyer und bin auf dem Feld, auf dem Hof, im Abraum« –
also mitten unter den Dingen, auf die sich das Gedicht bezieht: – Ist
das nicht die unreflektierte Weise, jene Dimensionen als ungeteiltes Ganzes
zu erfahren, gegen die Monsieur Teste dringenden Einspruch erheben würde?
*
Zu Ulrike Almut Sandigs Gedicht wenn du nicht da bist
Sagen wir etwas summarisch: Reimloser, ametrischer Rilke. Allzu heimeliges Innenleben;
ungebrochene und preziöse und prätentiöse Poetismen für
mein Ohr (Was der Feuilletonisten-Volksmund gerne »poetisch« nennt):
wenn du nicht da bist, bist du nirgends zu sehen [...] dein bild ist / mit
absicht im album verblättert.
Dimension: vor allem Gegenstände – nur etwas versifi zierter
Bezug auf sie; kaum ein Ahnen der Eigenmächtigkeit, der wechselseitigen
und wechselwirkenden Widerspenstigkeit der Dimensionen – sagt Teste. Damit
keine Möglichkeit, ihre Entfaltung zwischen den Extremen zu erfahren.
Hendrik Rosts Kommentar dazu: Manches über eine Dimension: die
Gegenstände (den Stoff , sozusagen), auch über Gedanken, die das Gedicht
enthalten mag. Aber auch hier wüsste ich so gerne mehr und Genaueres als:
»Sandigs Gedichte lese ich als selbstbewußte Kunstwerke, die auch
sprachlich raffi niert komponiert sind mit ihrem Gefl echt aus Querbezügen
und korrespondierenden Klängen, ›geräumt
ist der körperaltar / [...] quer über mein alterndes haar‹«.
– Gut, da ist ein Reim körperaltar / haar. Aber was tut
er in dem Gedicht, was tun die korrespondierenden Klänge sonst
noch? Sind sie mehr als Dekor oder Schmuck? Vielleicht entgeht ja meinem armen,
hochmütigen Monsieur Teste die subtile Meisterschaft.
*
Zu Anja Utlers Gedichten
Dimensionen, die vor allem wirksam sind: Klang und Begriff (Sinnfelder, ihr
Ausloten) und die Dimension der inneren Zustände, vor allem jene der Gefühle.
Da wird eine Eigensinnigkeit, die formierende und wechselwirkende Kraft dieser
Dimensionen, fühlbar. Insofern sind hier vielleicht Testesche Selbsterkenntnis
hervorrufende Energien angezettelt.
Rhythmus: vielfach stockend, dann wieder in Fluss geratend, nur um abzubrechen.
Körpersprache ist gleich Sprachkörper. Die Ungeteiltheit dieser Dimensionen
wird suggeriert.
Innenweltalpinismus, innenweltliches Gipfelstürmen. Poesie von Extremzuständen.
Mein leiser Testescher Zweifel an Mythologemen. Sind sie notwendig, sind sie
tragfähig?
Teste träumt von einer Mythologie ohne Mythologeme. Denn die anzuzettelnden
Kräfte sollten neue Namen hervorbringen. Die alten Namen schwächen
sie. Es sind bestimmte Eingeweide der Sprache, die mit solchen der Erfahrung
gleichgesetzt werden. Sprache erscheint hier wesentlich als Auslöser und
zugleich als Verkörperung von inneren Zuständen. Diese Ungeteiltheit
wird suggeriert oder auch hervorgerufen.
Ulrike Draesner sagt, glaube ich, Wichtiges und Präzises zu Utlers Gedichten,
ob man nun ihre Vorbehalte teilt oder auch nicht. Ihr Kommentar scheint mir
auf beispielhafte Weise, wenn auch – durch die Form des kurzen Essays
bedingt – punktuell, die Dimensionalitäten und ihre Zusammenhänge
abzutasten.
*
Zu Ron Winklers Gedichten
Gestus: Alltagssprachliche Redeweise, in der aber, als wäre es das Gewöhnliche,
Nicht-Alltagssprachliches gesagt wird: selbstverständlich kannst du
ein Weltall haben. Idiomatische Allgemeinplätze als Ausgangspunkt,
als zu Verfremdendes. Manches geht bis ins Formel- und Pointenhafte, und auch
in witzig Kalauerndes: So wird aus Logiergast Kopiergast, aus Halbschlaf
Halbschlamm. Auch entstellte Wissenschafstvokabel als punktuelles Abweichen
von alltäglichem Sprachgebrauch: Unschärfepopulation Rehe.
Dispropositionalitäten auf manchen Ebenen. Verfremdende Komposita (Vizesituation
für einen Kopiergast); auch innerhalb der Sätze: ungewöhnliche
Wörter und Termini.
Fast alles steht unter Metaphernverdacht: Korrekturschleife, Trostblüte
usw.
Aber der Verdacht wird weder klar entkräftet, noch klar bestätigt,
und das eröffnet Möglichkeiten, den eigenen Geist gleichsam in fl
agranti zu ertappen. Denn in jeglicher Selbstrefl exion (als ein Modus Testescher
Selbstdurchdringung) wird der Unterschied zwischen Wörtlichem und Metaphorischem
anheimgestellt: Moment eines formierenden Selbstbezugs, von Autopoesis. Deshalb
vielleicht unter anderem auch die Vokabel aus Neurophysiologie. Überhaupt
das kaleidoskopische Terminologienmischen.
Im Übrigen ist der Begriff Naturgedicht hier ziemlich leer. Man
könnte ebensogut von einem Gehirnwissenschaftsgedicht, von einem Physikgedicht
usw. reden. Es sind eben Vokabelmischungen, sie verweisen zurück auf ein
selbstreflektives Subjekt. Auf eines, das unterschiedliche Gegenstandsdimensionen
ineinander- oder auseinanderführt. Andere Dimensionen (Rhythmus, Klang,
Grammatik usw.) bleiben aber vergleichsweise unbearbeitet. Vielleicht ist dieses
Ich, das da spricht, allerdings allzu souverän und gewitzt; zu sehr verfügend
und allzu unangefochten. Und unangefochten eben auch von den weniger bearbeiteten
Dimensionen. Symptom dafür: geläufige Scheingebundenheit durch Alliterationen:
Gestelle, Geräusche und Geometrie.
Eine etwas überartikulierte Verbosität manchmal. Aber, passagenweise,
schöne Leichtigkeit und Freiheit. Tendenziell heitere Sprachrefl exion,
– weniger Selbstreflexion.
Brigitte Oleschinski folgt in ihrem Kommentar den Assoziations- bzw. Konnotationswegen
einzelner Worte. Sie spinnt fort und paraphrasiert, zweifellos mit Fingerspitzengefühl.
Als Hintergrund jedoch fungiert – so scheint mir im Sinne meines Monsieur
Teste – ein unbefragt emotives Konzept des Lyrischen; das Erkenntnishafte
wird einigermaßen ausgespart. Gedichte als Gefühlsauslöser.
Nun, das sind sie auch; Gefühle sind aber nur eine ihrer Dimensionen.
*
Zu Nico Bleutges Gedichten
Hier soll es vor allem zwei Dimensionen geben: Die der Gegenstände und
Merkmale (jenseits der Sprache und des eigenen Geistes) und die Dimension ihrer
Wahrnehmung. Das Gedicht will deskriptiv sein. Natürlich ist das gegen
die mögliche Eigenmacht der sprachlichen und sprachbedingten Dimensionen
(wie Laut, Rhythmus, Sinnfelder) gedacht. Das durch das Sprachsystem (Langue)
Bedingte wie auch das Anthropomorphe sind aber unvermeidlich. Und dies wird
dann auch in vielen Wendungen deutlich. – Zum Beispiel: hinter die
tangpfade / griffen vereinzelt zweige; und die töne wurden
leichter / von den büschen angelockt usw. [Hervorhebungen
FJC].
Wollen diese Gedichte das vergessen machen? Können Gedichte das vergessen
machen? Beispielsweise auch: sicherungskästen, dieses Wort kann
in einem Gedicht nicht verschwinden im Bezeichneten. Es ist auch ein Wortungetüm
und als solches von einer Gestaltqualität, die mir hier nicht mitempfunden
scheint; – in einem Gedicht sind Sicherungskästen eben nicht nur
Sicherungskästen, sondern auch etwas, das das Reflexivpronomen sich
enthält, vielleicht sogar (ein wenig) käs und natürlich
alles, was mit Sicherheit zu tun hat, mit den entsprechenden Konnotationen,
aber auch
psychischen Zuständen. (Man denke an Valérys eingangs zitierte Suche).
Und die wohl angestrebte Genauigkeit der Wahrnehmungswiedergabe? Gelingt sie
wirklich? Etwa: strömungslinien, schnurhaarfeine. Wie soll man
das sich vorstellen: haarfein ist idiomatisch; Schnurr(bart)haare sind aber
gerade nicht besonders fein, sondern eher grob und drahtig.
Ich frage mich: können Gedichte diese Art von Dingsuche oder gar Dingnähe
nicht nur vortäuschen? Vielleicht ist Bleutges Gedicht eher ein weiterer
Beleg für die ja auch im alltäglichen Sprachgebrauch verhohlene Eigenmächtigkeit
sprachlich-rhetorischer Dimensionen? Immerhin aber: die Gedichte versuchen da
etwas Bemerkenswertes; und auch jene Dingnähe ist eine, wohl in der Poesie
selbst angelegte, Utopie; die Utopie eines
bestimmten Ungeteilten, jene der Sprache-Gegenstand-Ungeteiltheit. Vielleicht
könnte man sie so konsequent verfolgen, dass man mittels dieses erfundenen
Gewands bei wirklichen Ärmeln herauskommt (Heimito von Doderer).
Lutz Seilers Kommentar charakterisiert eben jene Utopie: »Hier geht es
um Sprach- und Wahrnehmungszustände vor der Natur [...] – das ist
die Utopie, die diesem Schreiben innewohnt.« Sein Text scheint mir aber
durch einige schlechte Feuilletongewohnheiten beeinträchtigt: Schon die
metaphorische Rede von Texten, deren Blick auf Materialien und Substanzen
trifft, erklärt hier nichts, verdunkelt viel mehr. (Und dann ist die-
sem Blick, den Texte haben sollen, noch ein verborgener Wunsch abzulesen.)
Und warum spricht er von geschautem Material? Es geht doch um Dinge
und ihre sinnliche Wahrnehmung und, wie Seiler jedenfalls behauptet, um die
Möglichkeit, sie sprachlich wiederzugeben.
Und wie macht man das, sich bei den Dingen selbst einschreiben? (Wenn
die Feuilletons zur Lyrik doch nicht so voll von gefühligem Ungefähr
wären.)
Gut. Der Text ist eben eine Art Feuilleton, er enthält aber auch einige
Beobachtungen und Charakteristiken der Gedichte Bleutges, die, wie mir scheint,
treffend sind. Etwa, was er zur Wendung Lider einfädeln feststellt
und zu manchen klanglichen Merkmalen der Gedichte. Überhaupt nicht nachvollziehbar
sind mir allerdings die Reminiszenzen von Begegnungen mit Bleutge. Zwischen
den Zeilen scheint mir da peinlicherweise suggeriert:
So wars, als sich eine für die Literaturgeschichte folgenreiche Begegnung
ereignet hat.
*
Zu Carsten Heinrichs Gedichten
Das Gedicht lament: Erzählen und Reflektieren. Das geht alles
zu leicht und dahin. Anschauungsdetails, Anekdotik, sogenannte Erfahrungsfragmente
zusammenführen. Und auch die Zufälligkeit der Metaphorik. Hier geschieht
so wenig zwischen den Dimensionen. Ich fi nde da kaum etwas von
dem, was mein Monsieur Teste, und wie ich glaube zu Recht, verlangt.
Andreas Altmanns Kommentar: Sehr subjektive Bekundung, für meine Begriffe
viel zu wenige sachliche Beobachtungen an den Gedichten: »Mir gefällt
der Ton, der in seinen Texten angeschlagen wird, er ist mir nahe.« So
einen Satz kann man nur zur Kenntnis nehmen, aber er hilft wirklich nicht weiter.
Vielleicht ist Altmanns Text auch seine höfl iche Weise, sich genauerer
Befassung zu entziehen?
*
Zu Monika Rincks Gedichten
Das ist sehr schwankend geredet und aus wachem Möglichkeitssinn. Dass man
nicht zu wissen beanspruche, wo man steht, wer oder was spricht, worüber
und wodurch. Diese schöne Dunkelheit wäre sicherlich eine Bedingung
am Weg zu Monsieur Testes Ziel.
Was Rotziges, Widerborstiges ist an diesen Texten; bedingt durch freie Vermischung
von sehr Verschiedenartigem: Einsprengsel unterschiedlicher Redeweisen, modulierend
zwischen poppig rhythmisierten Kurzsätzen, stilisierter Song-Einfalt, englischen
Zitaten, seminaristischen Stichworten, Colloquialausdrücken und traditioneller
Vergleichs- bzw. Identifi kationsmetaphorik. Idiomatische Versatzstücke,
Bildungszitatfragmente, überhaupt freie Idiomenverschmischung. Manchmal
vielleicht allzu beliebig und jugendlich flott. Da verflacht das Ganze zu einer
Art Slam-Sound (Symptom: Anglizismen-Infl ation), zur Bekundung grossstädtischen
Lebensgefühls. Vielleicht ist der alt-modernistische Glaube an sprung hafte
Assoziativität überhaupt allzu ungebrochen. Das Assoziative hat, glaube
ich, von seiner Kraft viel eingebüsst.
Kathrin Schmidts Kommentar fährt Rincks Text selbst assoziativ nach, entfernt
sich aber auch sehr von seinem Gegenstand. Eigentlich ist ihr Kommentar ein
zweites Gedicht in Prosa.
*
Zu Steffen Popps Gedichten
Hoher Hymnen- oder Odenton, und stark poesie-traditionalistischer Satzbau und
entsprechende Wortstellung. Etwa vorangestellter Genitiv: des öligen
Dunkels vergebliche Boten. Widerspruch zwischen jenem Oden- oder Hymnenton
und diskontinuierlichen Assoziationen und zeitgenössischem Vokabular. (So
aus der Technik: Elektrogeräte der Neuzeit / stromsparende Lampen,
Wärmepumpen.) Und ist das ernstgemeint?:
Und weil, was der Frühling zu brechen sich vornimmt, dein Herz ist.
Nun, jedenfalls wird diese (scheinbare?) Peinlichkeit im nächsten
Vers vielleicht wieder einigermaßen zurückgenommen:
gehen die freundlichen Analogien zu Pflanzen und Tieren / hier in rhetorischen
Dunst auf.
Und so eine so wüste Personifi kations-Entgleisung wie: hinter
den Drehtüren geiferte grössere Müdigkeit. – Ist das
beabsichtigt?
Ich jedenfalls kann diese Gedichte nur als Gedichtparodien, vor allem als Parodien
auf Gedichte traditionellen hohen Stils lesen.
Etwas von weiträumiger Weltraum-Surrealität, wie in Cinemascope und
wie aus hallenden Lautsprechern. Und alles beruht auf einem ungebrochenen Rhetorik-Apparat,
der nur durch moderne Vokabulareinsprengsel ein wenig behelligt, aber erst recht
bestätigt wird.
Und deshalb kaum Eigenkraft der Einzelworte, auch kaum Verbindungen zwischen
den Begriffen, den Sinnbereichen, auf dieser Ebene ist mir kaum Organisation
ersichtlich.
Und die Dimension Klang, etwa die Alliterationen (Pan im Porzellantrakt;
Gesang ... Gedanken ... Gespräch; Dialoge, Dickhäuter usw.):
sie schaffen, wie es heute so häufi g in Gedichten geschieht, vor allem
eine glatte Oberfläche. Sie sind Firnis.
Was wäre Parodistisches von Teste aus gesehen? Unter anderem auch: Distanzierung.
Also das Teilen von Dimensionen; sich abstossen von etwas. Aber das allein könnte
ihm keineswegs reichen.
Raphael Urweiders Kommentar:
Zitiert Verse Popps und passt sie in seine Gedanken ein. Das trägt nicht
viel zur Erhellung der Gedichte bei, scheint mir. War wohl weit weg.
Franz Josef Czernin