Die Farben der Stimmgabel
Trakl statt Traktoren: Der tschechische Lyriker Petr Borkovec
Die traditionelle Regel sagte, daß tschechische Lyriker, die Großstädte,
Neonlichter und den Surrealismus bewunderten, immer links von der Mitte zu finden
waren, und die anderen, auf den Dörfern des flachen Landes, gläubig
und an der Scholle haftend, immer rechts. Petr Borkovec, der nach der "sanften
Revolution" 1989 zu publizieren begann, hält sich nicht mehr an diese
traditionellen Einteilungen. Er kommt vom Lande her, ohne "Ruralist"
zu sein, und weiß seine imaginative Freiheit zu verteidigen.
Gewiß: Sein Bezirk, zumindest in seinen frühen Gedichten, ist das
böhmische Dorf, sind Fluß und Garten mit Apfel und Thuja, Wild und
Wolke, aber er drängt uns diese Welt nicht auf wie seine apologetischen
Vorfahren, sondern hält sie uns geradezu ferne, selbst die "Dämmerstunde"
hat ihre Unwirtlichkeit, "der Garten klirrt, mit kantigen Mustern / umwickelt
der Wind das schroffe Gelb ... / aus den schrägen Scharten bricht Kälte
hervor. / Ein stechender, leerer Strahlenkranz", und wo der lyrische Spaziergänger
noch auf neue Gedanken hoffte, trifft ihn die Monotonie eines Herbsttages, "die
Eingebung / die du tagsüber auf durchnäßten Feldern / verspürtest
- das braune, fleißige Licht -, / ist weg. Fensterscheiben, Tisch und
Bett. / Mehr nicht, nichts Anvertrautes, abermals Regen".
Petr Borkovec ist kein lockerer Rhetoriker oder Wortverschwender, eher ein Lyriker
der gedrängten Prägnanz. Er artikuliert lakonisch und fast wider Willen
und beginnt das einzelne Gedicht oft, unterhalb des eigentlichen Titels, mit
einem einzigen Satz oder einem Wort, das die Tonart oder Schwingungszahl des
Ganzen definiert und begrenzt, eine Art Stimmgabel-Effekt - "von den Hochständen
kommt Schnee", "Wölfe dampfen zum Himmel", oder noch einfacher:
"Ocker die Kirche". Er sieht seine Dorfwelt, in welcher die arbeitenden
Bauern und ihre Traktoren schon wieder programmatisch fehlen, wie hinter einer
geschliffenen Glasscheibe, hinter der Häuser, Türme und Bäume
allein und fremd zum Himmel ragen. Er geht auf Distanz; "verliere dich
an eine Landschaft, und schon ist sie dir verloren", sagte er in einem
Interview.
Die vorliegende Publikation "Fünfter November und andere Tage"
hat allerdings gar nicht die Absicht, die neuere oder ganze Entwicklung ihres
Autors vorzustellen, und versteht sich, wie die editorische Notiz verrät,
als Anthologie aus drei frühen Gedichtbänden (1991 bis 1996), um die
Aufmerksamkeit auf jene Lyrik zu lenken, in welcher er auf die Erfahrung seiner
mittelböhmischen Heimat antwortete. Die Publikationsgeschichte ist einigermaßen
kompliziert, denn die Mehrzahl dieser frühen Gedichte wurde schon in bibliophilen
Drucken der Thanhäuser Buchwerkstatt (einer erprobten Freundin tschechischer
Lyrik) publiziert, ehe sie, "nochmals durchgesehen und überarbeitet",
in der neuen Edition erschien.
Nichts wäre also abwegiger, als den sechsunddreißigjährigen
Borkovec als Poeten zu klassifizieren, der sich dem Schatten seines Dorfkirchturms
nicht zu entziehen vermag. Das ist eine poetische Rolle, die er gerne auf sich
nahm; er ist zwar im kleinen Lounovice geboren, hat aber in Prag das Gymnasium
absolviert, an der Karlsuniversität studiert und mehr als ein Jahrzehnt
als Kulturredakteur, auch an einer christlichen Zeitschrift gearbeitet, ehe
er sich in Cernosice, einem desolaten Prager Villenvorort (wie er selbst sagt),
niederließ, um sich auf seine selbständige literarische Arbeit und
seine Übersetzungen, vor allem aus dem Russischen und dem antiken Griechisch,
zu konzentrieren.
Er selbst hat sich dazu bekannt, in seinen frühesten Versen den südmährischen
Poeten Jan Skácel nachgeahmt zu haben, aber er fügt auch hinzu,
wie wesentlich für ihn die deutschen Expressionisten waren, vor allem Trakl,
Heym oder auch der Maler Schmidt-Rottluff. Das intensiviert die Farben seiner
Landschaftsbilder, anstatt sie zu mildern, in der Nacht "fließt Tusche
vom Turm", selbst bei einem Begräbnis setzt "Musik ein, orangen,
satt", und ein Weg "schleppt sich fleckig braun, wie trunken / zum
Horizont". Deutlich wird die Erinnerung an Trakl gerade im deutschen Wortlaut,
"Befremden auf einem nahen / Gesicht, ein Schatten. Kerzen auf den Gräbern,
/ vorbei am Mauerschimmel ... führt der Zug des verstummten Wildes, / schon
nächtliche, niedrige Stuben".
Wir sind also gut darauf vorbereitet, die Arbeiten des späteren Borkovec
zu lesen, etwa seine Sammlung "Feldarbeit" (2001) oder sein "Nadelbuch"
(2004), beide auch schon (im selben Verlag) ins Deutsche übersetzt, und
es wäre hoch an der Zeit, auch jene anderen, noch späteren Gedichte
und Prosaskizzen zu publizieren, die aus Dresden, wo er Lyrikvorlesungen hielt,
und Berlin, wo er ein Jahr lang als Gast des DAAD zu finden war. Es ist zu hoffen,
daß Christa Rothmeier ihn zu übersetzen fortfährt. Er hat Glück,
denn sie läßt sich von seiner Handhabung des komplizierten tschechischen
Verbsystems und seinen zuzeiten so raren Worten durchaus nicht abschrecken und
findet immer das wunderbarste Äquivalent.
Peter Demetz
FAZ vom 8.6.06
Petr Borkovec: "Fünfter November und andere Tage".
Gedichte 1990-1996. Aus dem Tschechischen übersetzt von Christa Rothmeier.
Wien 2006.