DAS GEDICHT UND SEIN DOUBLE
Eine Polemik
Ich habe es mir in diesem Aufsatz zum Ziel gesetzt, die Dinge so einfach darzustellen
wie möglich. Jedenfalls so weit solche Vereinfachungen, die »Probleme
der Lyrik« betreffend, einer Erhellung von Zusammenhängen dienen.
Sobald man zum Beispiel interdisziplinäre Erkenntnismodelle heranzöge,
um gerade wirksame, das heißt noch nicht tradierte Kommunikationsweisen
des Gedichts zu untersuchen, könnten die Ergebnisse ja auch ziemlich kompliziert
ausfallen. Ich habe zwar ein großes Faible für jede durch die Sache
gedeckte Kompliziertheit, bei unserem Thema aber führt sie, wie ich inzwischen
einsehe, nirgendwohin.Wenn wir das Gedicht unter überzeugender Einbeziehung
der dafür geeigneten Theorieflut reflektieren, entlüften wir den Diskurs
nur ein weiteres Mal in jene Höhen, in denen er akademisch sich ausrandaliert,
um schließlich als Schnee von gestern auf den Boden der Tatsachen zurückzusinken
oder in die leeren Patronenhülsen der nächsten Kritikergeneration
zu schmelzen.
Gerade die Prozesse dauernder und nachhaltiger Entschärfung kultur- oder
systemkritischer Diskurse durch hochkomplexe Regel- und Steuerungssysteme, die
allen nonkonformistischen Zugriffen individuellen Denkens entzogen sind, sowie
der Umstand, dass diese Diskursverfahren und ihre Ergebnisse, um philosophisch
anschlussfähig zu sein, »so hoch aufgehängt sein müssen«,
dass damit wirksam verhindert ist, dass sich das Blumengießen in ein Blutvergießen
verwandelt, machen die ausgefeilten Theorien immer mehr zu Endlagern für
die potentielle Durchschlagskraft des Gedankens.
Wenn man über Gedichte spricht oder schreibt oder zu verstehen versucht,
wie – für wie lange, auf wen und warum – sie wirken, ist es
sicher angebracht, die drei generellen Instanzen in ihrer gegenwärtigen
Ausprägung zu definieren: den Dichter, den Kritiker und den Leser.
Bevor ich das versuche, möchte ich vorausschicken, dass in der durch den
Band »Lyrik von Jetzt« auf den Weg gebrachten Dichtergeneration
derzeit wohl doch die wahrscheinlich interessantesten Dinge der jetzigen Literatur
passieren, angestoßen und wirklich geschultert zwar von wenigen nur, aber
wahrgenommen und weidlich ausgekostet von fast allen Beteiligten.
Die poetischen Verfahren dieser Generation und ihr Ausdrucksglanz beruhen zu
einem erheblichen Teil auf von mir in den 80er Jahren bis zu dem Band »wemut«1
entwickelten Sprechweisen.
Diese Sprechweisen wurden von der Kritik beschrieben als: »Durchbrechen
des ideologisch motivierten Pathosverbots; Engführung von Sprache und Körper;
Genauigkeit und Prägnanz als Wertkategorien; Nobilitieriung ästhetischer
Bewertungskriterien; Operationen am Wort- und Satzkörper nicht unter dem
Primat von Mechanik und Experiment, sondern als Steigerung von poetischen Aussagemöglichkeiten.«2
Ausgenommen von diesem Einfluss sind natürlich die auf dem Mayröcker-Pastior-Komplex
beruhenden Recycling- und Sinneindämmungsverfahren, welche weiterhin die
Bruchstücksemblematik, das atonale, am Grammatikgerippe nagende Gedicht
und das Werkstattgetöse von Altavantgarden favorisieren.
Jene Klippen also, auf denen bevorzugt Vögel nisten, die nicht fliegen
können, stumm und in bedrückender Wesensverwandtschaft bewundert von
jenen Fischen, die im Wasser unter ihnen stehen und das gleiche Problem mit
dem Schwimmen haben.
Die Kugeln dieses »neuen Tons und neuen Materials«, die »wemut«
vorlegte, wurden ab Ende der 80er Jahre in ein paar wenigen Fällen direkt,
öfter per Karambolage, in den meisten Fällen aber über Bande
gespielt und schließlich klammheimlich und gut vermummt in die jeweils
eigenen Texte eingelocht. Den genialsten Effet beherrschte der damals allerdings
auch bei weitem Begabteste, Durs Grünbein. Aufgrund meiner vollkommenen
Abwesenheit von allen Literaturbordellen, Umschlagplätzen, Hebebühnen
und Lyrikbörsen war es mir versagt, meine Anteile zu reklamieren.
Unterstützt wurden die sprachlichen Anverwandlungen und die hierarchischen
Umbildungen und mithin Verzerrungen von den kinetischen Kräften der Wende
und Nachwendezeit, wo eine der gefühlten Inferiorität geschuldete,
ästhetisch retardierte Imitationskultur, die allerdings uneingeschränkt
auf den Zaubertrank der Solidarität zurückgreifen konnte, eine solipsistisch
entartete, inhumane, aber damit eben auch realistische Konkurrenzkultur mühelos
überwucherte und übertrumpfte.
Der Kritik jeglicher Provenienz blieb es versagt, Einblick in solche Zusammenhänge
zu gewinnen, weil solche Einblicke »kontraproduktiv« zu diesen im
geistlosen Getöse der Kapitalismusverherrlichung vernebelten, knallharten
Abräuminitiativen der Wirtschaft und den damit verknüpften Intentionen
des westlichen Überwältigungsdiskurses gewesen wären.
Die Kunst der ehemaligen Ostblockstaaten, egal wie versumpft in kitschigen und
verlebten Traditionen, wurde von einem geistlosen Medienapparat überall
als widerständischer Underground nicht nur gefeiert, sondern regelrecht
nachproduziert und gleichzeitig von den depersonalisierten Strategien des »freien«
Marktes so gründlich ausgehöhlt, dass sie heute, wo sie nicht eins
zu eins auf Westkurs umgeschult ist, gerade mal noch als Christbaumschmuck taugt.
Was heute nun, in der Dichtungsgeneration, über die wir hier sprechen,
neu ist und quasi hinzugekommen, und was neben den veränderten Verkehrsformen
als faszinierend wahrgenommen wird, ist jener bis in kleinste Bewegungsabläufe
hinein ausgekostete Schritt von der Postmoderne in die Post-Postmoderne, wie
er derzeit auch im amerikanischen Roman von den Findungen Pynchons, Coovers
oder DeLillos zu ihren Ausfächerungen etwa bei Danielewski stattfindet.
In unserem Fall eben auf dem kleineren Format der Lyrik, die ja, zumindest für
die Meister, noch enormere Flächen zu bieten hat als die Prosa. Natürlich
gelingt dieses Spiel nur den Besten, bei den meisten verharrt es in Anklängen
oder erstirbt in gebastelten oder absichtsvollen Unterlagen.
Die Vision einer kosmologischen Dimension des Austauschbaren, aufeinander Verweisenden
und im Antiklimax implodierenden, welche die Postmoderne dem Rüttelfieber
und der Übertrumpfungsgeste der Moderne entgegensetzte, wurde weiter minimiert.
Da herrschten die gleichen Gesetze wie bei Nokia, nämlich das Primat von
Design und Miniaturisierung. Die Vision ist einem Verknüpfungszwang noch
kleinteiligerer Diskurse gewichen und einem nochmals neuen Sampling von Codes,
die inzwischen selbst wiederum Codes von Codes von Codes geworden sind.
In Verbindung mit den schon angedeuteten neuen Verkehrsformen, und zwar einer
extremen Fokussierung auf die eigene Generation, Netztreue, Dauerkommunikation
und die unermüdliche gegenseitige Berichtigung, welche ich allesamt als
»literaturbetriebstechnisch« zwar sehr nützlich, aufs Ganze
gesehen aber als pure Zeitverschwendung betrachte, könnte sich diese Lyrik
durchaus irgendwann, wie andere post-postmoderne Themen auch, begünstigt
überdies vom Zusammenbruch der Lesepopulationen, zu einem jener so genannten
»campus hypes« entwickeln, die weitestgehend via Internet rezipiert
werden.
Um nun genauer zu verstehen, warum Lyrik so sinnlos ist – alle »Obwohls«
ihrer Bewunderer, deren Zahl sich mehr und mehr mit der ihrer Betreiber zur
Deckung gebracht sieht, einmal dahin gestellt, um zu verstehen, warum sie lediglich
die sublimste Form der Zeitverschwendung darstellt, wiewohl sie gerade die eindrucksvollste
Zuspitzung eben dieser Zeit sein könnte, und um zu verstehen, warum sie
als die einzige intelligente Unzurechnungsfähigkeit im totalen Marktgeschehen
gelten muss, trotzdem aber ein »Hype« sein kann, der ein gewisses
»Publikum« zeugt und nährt, müssen wir nicht nur wissen,
ob etwas falsch oder richtig gedichtet, sondern auch, ob es falsch oder richtig
gerichtet, also vermittelt wird.3
Dazu ist es notwendig, die Kritik einer Kritik zu unterziehen, den Charakter
der Bündnisse aufzudecken, die neuen Verkehrsformen zu entschlüsseln
und mithilfe der gewonnenen Einsichten die Spreu vom Weizen zu trennen. Bei
der hier zur Debatte stehenden Lyrik, dies vorweg, könnte es sich durchaus
um eine so genannte »Intelligenzmode« handeln, wie sie immer wieder,
wie zum Beispiel im 14. Jahrhundert in den Klöstern, im Rokoko oder in
der Nach-Goethe-Zeit aufgetreten ist:
Diese führt gewöhnlich zu einer Überfeinerung der Wahrnehmung,
die unverhältnismäßig wird zum Wahrgenommenen selbst, sie führt
zu den berüchtigten Idiosynkrasien und zur künstlerischen Nervosität,
fällt dann aber rasch der Dekadenz und der Selbstreferentialität anheim,
bis sie schließlich von nachrückenden, vitaleren Formen abgelöst
wird.
Die Bedingungen der Selbstreferentialität sind bereits weitgehend erfüllt.
Monika Rinck und Daniel Falb, Steffen Popp, Crauss, Ann Cotten, Hendrik Jackson,
Ron Winkler, Gerald Fiebig, um wenigstens ein paar der ausschlaggebenden Namen
zu nennen, auch Jan Wagner und natürlich Marcel Beyer, der ja ebenfalls
in »Lyrik von Jetzt«, diesem Stammbuch der neuen Szene, noch zu
finden ist, den ich aber, auch weil er ein anderes Stammbuch besitzt, eigentlich
einer anderen Umgebung zuordne, das sind ja unübersehbar alles Menschen
von »betonter« Intelligenz.
Und Intelligenz geht niemals spurlos an einem Körper vorüber.
Auch an dem des Gedichts nicht.
Allerdings geht an mancher Intelligenz das Gedicht spurlos vorüber.
Dann haben wir es, im Falle eines Autors von »Versen«, mit einem
(poetisch behinderten) Intellektuellen zu tun, nicht mit einem Dichter.
Auch hierfür gibt es eine Handvoll prominenter Beispiele in »Lyrik
von Jetzt«.
Würde ich fünf Namen hier nennen, hätte ich fünf Feinde
mehr.
Das wäre der ganze Effekt.
Es ist wie im Urwald.
Und dass es in dieser interessantesten und erregendsten Kunst zugeht wie im
Urwald, liegt vorwiegend an einer Kritik, die nicht oder fast nirgends mehr
aus einem unbestechlichen Respekt für die Dichtung hervorgeht, sondern
aus dem Verlangen, sich mit dem Dichter in eine Beziehung zu setzen und zu schunkeln.
Einer Kritik, die nicht aus der Kompetenz von Urteil und Maßstab entsteht,
sondern einem burlesken Aufspringen auf Trends, die von Buschtrommeln ausgelöst
werden eher denn von den neuronalen Interpretationsleistungen eines so genannten
Denkens.
Insbesondere dieser Umstand gewährt den zuckenden, singenden, zischenden,
auch brüllenden oder sogar demonstrativ schweigenden »Rampensäuen«,
die bevorzugt von den Literaturhäusern und Festivals als Remedien gegen
die selbstverschuldete Langeweile gefeiert werden, eine Aufmerksamkeit, welche
die häufig inkommensurable Stupidität der Texte überhaupt nicht
zur Kenntnis nimmt.
Dass diese vom Betrieb geklonten Witzbolde in »Lyrik von Jetzt«
fast nicht in Erscheinung treten, verdankt sich gewiss auch dem Umstand, dass
die Zusammenstellung in der Hand von zwei Dichtern lag, Jan Wagner und Björn
Kuhligk, welche beide, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise, Ansprüche
stellen konnten, gerade weil sie sich in der Lage gezeigt haben, diese auch
selbst einzulösen.
Bei der Kritik von Lyrik gilt es aber, ein Phänomen im Auge zu behalten.
Das Gedicht scheint, über seine eindrucksvolle Positivität hinaus,
auch ein Behältnis für besonders abstruse, persönliche Phantasien
bereitzustellen.
Ein Behältnis, das wegen der vermeintlichen seligen Verschwommenheit, die
man seinem Inhalt gerne andichtet, als ein Gefäß betrachtet wird,
in welches Menschen, die das »Poetische« als Selbstumrahmung missbrauchen
möchten und die sich auf Grund ihrer Beziehungen diesen Rahmen leisten
können, glauben, ihre schalen Säfte von Verschrobenheit, Künstlerthum
oder Selbstpoetisierung abschlagen zu können.
Von oben oder von außen betrachtet sieht das etwa so aus: in einem Riesenstadion
und vor so gut wie leeren Rängen toben die Poeten in die unterschiedlichsten
Richtungen, der eine spielt Fußball, der zweite trainiert Aufschläge,
ein dritter schleudert den Diskus, dazwischen jede Menge Hoch- oder Weitspringer
ohne Latte oder Ziellinie; Punkt-, Schieds- und Linienrichter gestikulieren
und pfeifen wild durcheinander, und dazwischen jagt der unermüdliche Michael
Braun immer wieder einem anderen Spieler hinterher, um ihm ein Abo seiner Hauszeitung
anzudrehen. Da schält sich plötzlich eine Gruppe heraus, deren Bewegungen
sich koordinieren, und spielt Golf. So etwas Ähnliches war es wohl mit
den »Lyrikern von Jetzt«.
Als die Kritik bemerkte, dass da Golf gespielt wird, reagierte sie erst einmal
ungehalten, wo nicht mit Empörung. Sie kapierte nicht, dass es sich ja
schließlich nicht um Kricket oder Polo handeln würde, sondern um
etwas bereits durch die Zahl der Spieler und ihrer engeren Beobachter unter
der Hand Deexklusiviertes.
Wie kommt es nun, dass insbesondere bei der Lyrik so sehr die Maßstäbe
fehlen, dass jeder mit seinem selbstgebastelten Urmeter seinen urigen Bewertungskosmos
absteckt und dann quasi auf Stimmenfang ausgeht, um diesen zu legitimieren?
Wie kann es, um nur mal ein Beispiel zu nennen, dazu kommen, dass das literarische
»Preis-Leistungsverhältnis« so katastrophal auseinanderklafft,
dass der Peter-Huchel-Preis, der ja schließlich kein Förderpreis
ist, an ein Debütantenwerk mit einem Umfang von gerade mal dreißig
bis vierzig insgesamt ja recht hübschen Gedichten geht, von denen keines,
deswegen natürlich auch der ad-hoc-Erfolg, auch nur im Entferntesten das
allenthalben Durchgesetzte besonders eindrucksvoll durchdringt, geschweige denn
in irgendeinem Sinne übertrifft.
Die Verleihung des Preises an Hans Thill oder die posthume an Nicolas Born zeigen
in etwa das gleiche Kaliber. Die Preisbegründungen sind Dokumente für
den sprachlichen Slapstick vollkommen desorientierter Schwätzer.
Im angeführten (ersten) Fall liegt die Ursache aber sicher auch an außerliterarischen
Treibstoffen, in diesem Falle am kookbooks-Syndrom, auf das ich noch zurückkommen
werde.
Wie ist es möglich, dass die Kritik in diesem Lande nicht einmal dazu fähig
ist, wenigstens die Grobsortierung sicherzustellen?
Die Antwort ist eigentlich gar nicht so schwierig, deswegen aber gewiss nicht
weniger bedrückend.
Schlechte Literatur hat eine den Verstand und die Nerven zerrüttende Wirkung.
Schlechte Literatur aber ist überall.
Schlechte Literatur sickert durch alle Ritzen.
Schlechte Lyrik im Besonderen ist vielleicht sogar noch schlimmer als schlechte
Literatur im Allgemeinen, ein Emetikum par excellence.
Die so genannten Großkritiker (und dieser Name ist angesichts der Resultate
wirklich irreführend), durch die der Schund von Jahrzehnten, wie man sieht,
nicht spurlos hindurchgegangen ist, sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Dies gilt natürlich ebenso für die Großlektoren und die Großveranstalter.
Die Sträucher, wenn man sie schon nicht als Gebüsche bezeichnen will,
wissen das durchaus als ihre Chance zu nutzen. Sie profitieren von dieser in
einem fast klinischen Sinne feststellbaren Desorientiertheit.
Einen unwiderlegbaren Beweis dafür liefert der Lyrikkritiker Michael Braun.
Er hat nun wirklich mit allen Mitteln (und auch mit einigem Erfolg) versucht,
es der vielleicht ersten antizipierenden Anthologie überhaupt, nämlich
»Lyrik von Jetzt«, so schwer wie möglich zu machen. Er hat
allen Autoren, besonders denen, die noch völlig ungeschützt waren
von einem gewissen Bekanntheitsgrad, in Bausch und Bogen und mit beträchtlichem
Hohn auch nur die geringste Relevanz abgesprochen, darunter vielen, die er wirklich
eine unseriös kurze Zeit später versucht, mit anmutigen Besprechungen
in die eigenen Taschen fließen zu lassen.4
Man muss ja schließlich nicht fürchten, dass in diesem Lande irgendjemand
irgendetwas merkt.
Sein Generalverriss, ausgeführt mit den Ellenbogen eines blindwütigen
Konkurrenzdenkens, war durchaus im Detail geführt, also mit Stellen belegt,
die ihm für seine schlechten Noten besonders geeignet erschienen. Er hat
also ganz genau und ohne Zweifel mehrmals gelesen.
Worauf es mir aber ankommt, ist Folgendes: einer der so genannten »ausgewiesensten«
Lyrikkritiker dieses Landes hat nicht im blinden Eifer einer Pauschal-ablehnung
und in Unkenntnis des Abgelehnten gehandelt, was ihn in gewisser Weise sogar
rehabilitieren würde, sondern er hat sehenden und suchenden Auges nicht
einen einzigen Text, nicht ein einziges Gedicht dieser zahllosen, inzwischen
mit Preisen überhäuften Autoren erkannt, die sich heute in allen Literaturhäusern
tummeln. Nicht einen Einzigen – man muss sich das angesichts dieser Anzahl
an inzwischen als erstklassig gehandelten und preisverwöhnten Autorinnen
und Autoren einmal vorstellen!
Dieses Verschwimmen von Text und Urteil durch kulturbetriebstechnische Overkills
im Falle von Lyrik findet sich insbesondere in den dieser Gattung besonders
zugeneigten Organisationsformen, und gerade die vermeintlichen »Kenner«
entpuppen sich bei näherer Betrachtung zumeist als vollkommen abgestumpfte
Jongleure von Namen, ohne dass je noch die Wirkung eines Gedichts oder wenigstens
einer Gedichtstelle auf ein reagierendes Empfindungssystem oder ein der individuellen
Person zuordenbares Wahrnehmen noch erkennbar wäre.
Wer aber findet denn nun diese Dichter und leistet die Arbeit, zu der die etablierte
Kritik nicht fähig ist?
Zuerst einmal sind es natürlich die Dichter selbst.
Aus ihren Bündnissen und Selbstbeförderungen schälen sich im
Laufe der Zeit ein paar »Bewunderte« heraus, die ihrem engeren Kreis
entrissen werden und sich »herumsprechen«. Es sind die, die dafür
sorgen, dass es knistert in der Szene und auf deren Sprache man sich verständigt
wie auf eine Konspiration. Mit diesen von der Begeisterung von Kollegen innerhalb
der eigenen Generation Gekürten liegt man so gut wie nie falsch. Alle wollen
im Grunde so gut sein wie die ganz wenigen, die es sind.
Das ist ein schöpferisches Naturgesetz.
Und obwohl keiner gerne irgendjemand über die eigenen Fähigkeiten
stellt und damit oft den Grundstein für eine lebenslange und am Ende sogar
todsichere Verblendung legt, so streckt sich doch keiner nach unten. Irgendwann
kommt aber heraus, wer gemeint ist, trotz aller Verheimlichungskunst aus dem
Geiste der »Einflussangst«.
Zum Zweiten sind es oft junge, noch wenig oder gar nicht bekannte Kritiker,
häufig solche, die gerade eben durch die Filter großer Feuilletons
wie die der FAZ oder der SZ gegangen sind, die sich im Sinne ihrer Karriere
noch »die Arbeit machen«, zu ihrem Gegenstand aufzuschließen,
die der Sache mehr Zeit und Aufmerksamkeit einräumen, als sie an ihrem
Artikel über diese Sache verdienen, und die quasi den Ochsen noch als Tier
im Auge haben und nicht als Lebensmittel.
Am Eindrücklichsten aber sind inzwischen, wenn man den Müll beiseite
geräumt hat, sehr oft Artikel im Netz: hier findet man äußerst
kompetente, scharfsinnig argumentierende und eindrucksvoll unverquaste Essays,
geschrieben von Leuten, die nicht dafür bezahlt und nicht dazu verdonnert
werden, die sich ihren Gegenstand selbst aussuchen und ihn ohne Zeitdruck und
mit der Verve eines höchstpersönlichen Anliegens bewältigen.
Gerade hier stößt man umwerfenderweise auf Kundschafter, für
die Gedichte nicht bloß das Schwarzgedruckte und Abgehackte auf dem weißen
Papier sind, sondern Texte, die als geistiger und emotionaler Anstoß erlebt
werden – als cool und modern, als Elixier, Aufputschmittel oder Stoff.
Dass diese Kritiken/Rezensionen aus eigenem Antrieb geschrieben werden, nicht
unter Termindruck entstehen, nicht von einer Redaktion zugeteilt sind, nicht
als lästige Pflicht erledigt werden und nicht von der Berechnung des Kritikers
getrübt sind, seine Herde zu vergrößern und gelegentlich einen
Bauern abzuknallen, macht diese Beiträge oft so bemerkenswert und so wohltuend
frei von diesen Phrasen und geistigen Engpässen, die einem in den Rezensionen
der Großkritiker oft so bleiern aufs Gemüt schlagen.
In diesen drei Sphären – im Internet, bei den Dichtern selbst und
bei den noch nicht arrivierten Kritikern (die meist für wichtige Zeitungen
schreiben) – wird die eigentliche Erkenntnis- und Bewertungsarbeit geleistet.
Da der Literaturbetrieb weitgehend auf großen Ohren fußt, mehr denn
auf gute Augen, entwickeltem Geschmack und einem scharfen Verstand, kann man,
wie dies einige Kritiker sehr geschickt tun, sich viel Arbeit und Ärger
sparen, indem man nicht als Gehirn in Erscheinung tritt und so sich Angriffen
aussetzt, sondern als Geschmacksverstärker.
Um das Verhältnis zwischen Lyrik und Kritik transparent zu machen und möglicherweise
falschen Entwicklungen gegenzusteuern und die Position der Dichtung zu stärken,
sind Zeitschriften wie BELLA triste von unschätzbarem Wert, weil sie diesem
Thema einen Raum zur Verfügung stellen, den es nirgends sonst noch in Anspruch
nehmen kann. Themenhefte wie die BELLA triste Nr. 17 liefern auf breiter Front
poetische und poetologische Positionen, zu denen sich immerhin Stellung nehmen
lässt, egal ob pro oder contra. Damit wird das Gedicht in eine beispielhafte
Position gebracht und die Kommentare, die sich nicht strecken, decouvrieren
sich selbst.
Jedenfalls auf längere Sicht.
Ob sich allerdings wirklich etwas bewegen lässt, bleibt abzuwarten. Und
zwar vorwiegend deshalb, weil die neue Generation zwar Eleganz besitzt, aber
keine Zivilcourage.
Unter den Lyrikern von Jetzt würde man sich eher die Zunge abbeißen,
als sich durch echte Kritik eine Beziehung verscherzen. Gerade dies aber gestattet
es den ollen Onkels, die etwas anzubieten haben, obwohl sie selbst nichts zu
bieten haben, »mit von der Partie zu sein«. Mithilfe ihres Einflusses,
ja, »ihrem schieren Vorhandensein«, tragen sie wirksam dazu bei,
dass keine Kriterien Fuß fassen können, die sie selbst sofort aussortieren
würden und sichern sich ihre Macht (soweit man auf diesem jämmerlichen
Felde von so etwas überhaupt sprechen mag), durch eine hemmungslose und
im Grunde entwürdigende Heiratspolitik.
Ob daher die Paarungen »Dichter – Interpret« in BELLA triste
Nr. 17 eine glückliche Lösung darstellen, ebenso wie die an den Schluss
gestellten Scharfrichter, sei dahingestellt.
Immerhin war den meisten abgedruckten Gedichten bereits durch die Namen ihrer
Verfasser eine Qualität zu unterstellen, die eingelöst wurde, und
darüber hinaus sind sogar ein paar bemerkenswerte neuere Dichterinnen und
Dichter dazugekommen.
Damit ist eigentlich das Wichtigste erreicht.
Die Texte zu den Gedichten habe ich erst gelesen, nachdem ich diesen Aufsatz
entworfen hatte, ich hätte ihn sonst vielleicht anders oder gar nicht geschrieben.
Zum Teil handelt es sich unübersehbar um peinliche Andienungen und Verbündungsangebote
mit einem immer wieder höchst bizarren Wortschatz. Wie die von mir als
Lyrikerin wirklich sehr verehrte Kathrin Schmidt in ihrem Aufsatz über
die ebenso verehrte Monika Rinck so unter ihr Niveau rutschen und diese Purzelprosa
schreiben konnte, ist mir nicht nachvollziehbar. Man hätte, wie übrigens
in anderen Fällen auch, der Adoration immer auch ein paar auf feinerer
Beobachtung beruhende Einwände beifügen können, in diesem Falle
zum Beispiel, dass manchmal eine leichte Überdüngung der Sinnlichkeit
mit Schrillität und Quatsch ausm Netz stattfindet.
Oder im Falle Ron Winklers entdecken können, dass diese tendenziell ebenfalls
sehr schönen und interessanten Gedichte keine Oasen idyllischer Korrespondenzen
zwischen Sender und Empfänger entwerfen, sondern dass es auch ein Jammer
und manchmal nicht mit anzuschauen ist, wie der Dichter immer mehr in Grünbeinsche
Schablonen sich hineinkniet. Eigentlich hat nur Ulrike Draesner ein faires Verhältnis
zwischen angemessener Beurteilung, beigefügter Kritik und unübertriebener
Selbsteinfädelung geschafft.
Das soll nicht heißen, dass nicht eine ganze Reihe interessanter Positionen
entwickelt wurden. Die aber sind auf der Basis von Blutsbrüderschaften
und Klubmitgliedschaften wertlos.
Besonders skurril wird’s am Schluss.
Wenn Czernin in der Lage wäre, eben jene Vorbehalte, wie er sie bei Sabine
Scho anmeldet, auf seinen eigenen Text anzuwenden, sein Urteil müsste einer
vollkommenen Selbstauslöschung gleichkommen. Einer Ausradierung der Czernin’schen
Sprachidendität. »Insgesamt zuviel Schaum« würde für
einen den wunderbaren »Monsieur Teste« entsetzlich missbrauchenden
Text mit diesem komischen Baum in der Mitte und jenen ihn umgebenden Wüsten
der Faselei nicht reichen, hier müsste es in der Tat heißen: Alles
Schaum!
Für solche literarischen Phantasien sollte man sich vielleicht eher an
Stanley Laurel halten denn an »Monsieur Teste«.
Mit preziös-prätentiösen Poetismen, wie er sie Ulrike Almut Sandig
unterstellt, wartet er in dieser Sonderausgabe auf, wie wirklich kein anderer
auch nur annähernd. Emotive Verbosität! Es ist ja wirklich prima,
dass wir jetzt endlich ein Wort dafür gefunden haben. Aber wofür gleich
wieder?
Tja, und Henning Ahrens. Sein Text kommt mindestens genauso wenig auf den Punkt
wie seine Gedichte. Ein Luftschwinger nach dem anderen wird ausgeteilt, und
der immerzu Aufgeregte wundert sich anscheinend gar nicht, dass nie jemand zu
Boden geht. S’geht ja schließlich um nichts hoch vier?
Ulf Stolterfoht hingegen hat einen wunderschönen Aufsatz geschrieben, der
aber in fast allen Punkten irrt. Enzensberger war einfach, als damaliges Überohr,
schon 1968, also ganz am Anfang der Postmoderne, bereits da, wo er selbst heute
noch nicht ist. Stolterfoht möchte, wie der in die verwandten Umfelder
gebettete, fanatisch unzeitgemäße Kritiker Kiefer, die Lyrik in die
Moderne zurückschicken. Auch noch und gerade in eine Moderne, die weiß
Gott Größeres hervorgebracht hat als Stramm, Holz oder Schwitters
und zu der die trostlosen Heißenbüttels in den 70er Jahren ja bereits
Paraphernalia waren.
Wir müssen uns, glaube ich, wirklich langsam entscheiden, ob wir die Avantgarde
als Argument jetzt nur noch für alles irgendwie scheppernd »Hinterherhinkende«
gebrauchen wollen, oder ob wir nicht endlich ihre Apologeten dem Dachverband
der Trachtenvereine überstellen und ihnen damit unsere Anteilnahme entziehen.
Dabei ist Stolterfoht fast der einzige aus dieser Ecke, die er sich in seinem
Aufsatz so gemütlich zurechtmacht, dessen Gedichte ich wirklich äußerst
amüsant finde und die sehr gekonnt gemacht sind, obwohl ich daran zweifle,
dass sich die Möglichkeit des Gedichts darin erschöpfen sollte, diese
kuriose und Heiterkeit auslösende Wirkung zu erzeugen.
So wie Brinkmann, gegen dessen Prädominanz ich mich Anfang der 80er Jahre
wandte, der einzig relevante Vertreter eines sich selbst zelebrierenden »beat-haufens«
war, der sich nach einem Jahrzehnt Feuilletonrummels sang- und klanglos der
Vergessenheit anheim gab, so scheint mir heute Stolterfoht in diesem Umfeld
als der einzig wirklich Bemerkens- und Auseinandersetzenswerte.
Ganz anders ist das mit Anja Utler. Auch hier hat Thomas Kling wieder einmal
zu hormisch gedacht, und, kein Wunder bei diesen Texten, wohl die Libido über
die Ratio gesetzt. Gesetzt den Fall, er hat überhaupt gedacht, denn seine
Aussage ist ein Dokument höheren Blödsinns, angefangen vom »bestürzenden
Reichtum« für etwas, das bis zum Abwinken immer das Gleiche ist,
bis hin zur komischen sibyllinischen »Klarheit«, welche ja im Sinne
der Weissagung gerade eben diesen Frauen im entschiedenen Sinne mangelt. Der
übliche Kling’sche Streusand für die Augen von Lyrikhoppern
im Kritiker- und Kulturbereich.
Würde ich diese (Utler’schen) Texte in Brailleschrift lesen, würde
ich denken, es handelt sich um die Geräuschkulisse eines Blindenporno.
Die davorgestellten Motti so prätentiös wie die Bücherwand, vor
der diese Pornos gerne sich abspielen.
Und dann kommt nur noch »lecken«, »Knospen«, »zucken«
– auch als Fluss, und dann Lippen und Härchen, nass, und dann auch
noch »sein sich in mich«, und dann »stoßen«, und
dann »schlucken«. Es ist wirklich in seiner Plattheit kaum auszuhalten.
Überhaupt nichts gegen eine sexuell aufgeladene Sprache. Die Gedichte der
großen Droste-Hülshoff strotzen vor Fellatio- und Cunnilingusphantasien,
aber dort sind sie eingebunden in ein machtvolles Bewegen von Sprache und ein
phänomenales Begehren von Welt. Bei Anja Utler ist es ein mühsames,
pseudokryptisches, effekthascherisches und die avantgardistische Ramschkiste
bedienendes, konstruiertes Konglomerat von beliebigem, binnenreimangehauchten
Sprachschrott.
Das wird insbesondere dadurch deutlich, dass es überhaupt keine Rolle spielt,
welch ein Titel über dem jeweiligen Gedicht steht, ob »Marsyas«,
»Micky Mouse« oder »Monteverdi«, das darunter sich ausbreitende
Gestöhne differenziert absolut nichts, weder seine Motti, noch seine durch
die Namen evozierten Inhalte oder Bedeutungen. Es schubst sich lediglich von
einer Bemühtheit zur nächsten.
Warum immer wieder Leute auf so etwas hereinfallen, liegt wohl daran, dass sie
irrtümlich glauben, etwas, das sie nicht verstehen, wäre gerade deswegen
vielleicht geheimnisvoll. Es ist aber meist nicht geheimnisvoll, sondern gründet
eher auf einem Mangel an Durchdringung.
Zum anderen sind solche Gedichte wahre Schatzkammern für eine ganz bestimmte
Sorte akademischer und vom »Lebensathem« nicht gerade verwöhnter
Kritiker, die ihre tiefinnere Biederkeit damit kompensieren, alles an Versündigungsphantasien
gegen Ordnungssysteme (wie zum Beispiel die Sinnhaftigkeit oder die Grammatik)
besonders gerne in Texte hineinzutragen, in denen ihnen sich nichts oder zumindest
keine Stringenz entgegenstellt.
Man kann in diese heruntergeratterten Worte, wenn man sie nur genügend
feucht oder splittrig gemacht hat, »ficken«, »Vergil«,
»Samstag«, »Osterei« oder »Einstein« einfügen,
ohne dass ihrem Gewicht etwas hinzugefügt oder dasselbe vermindert würde.
Und man kann durch unerklärliche Häufung des nur bedingt botanisch
zu verstehenden Wortes »Kiefer« erreichen, dass ein Kritiker gleichen
Namens sich angesungen fühlt und den Balzgesang erwidert.
Durch alle Zeiten hindurch ist unschwer zu übersehen, dass die Spaßmacher
und die Lyriker der provokanten, leichten Muse sich gerne verbünden. Dafür
sind die Dadaisten ein Beispiel, wie überhaupt die meisten »-isten«
oder die ehemalige Titanic/Der Rabe-Connection, die uns via Plebiszit einen
Robert Gernhardt vor die Nase gesetzt hat, den sie besser bei sich behalten
und auch mit sich selbst verabschiedet hätte.
Hölderlin, Benn oder Rilke; Baudelaire oder Wallace Stevens, eigentlich
fast alle großen Dichter überhaupt sind im Haufen aber eigentlich
gar nicht denkbar. Ob aber zehn an einem Seil ziehen oder einer, ergibt aufs
Ergebnis gesehen eine einfache Rechnung, und wenn drüben einer zieht, der
weiß, was es ist, und hier ziehen zwanzig, die nicht wissen, was es ist,
werden die Zuschauer den zwanzig Recht geben, denn das Auge triumphiert immer
über verborgene Zusammenhänge.
Wie also ist zu bewerten, wenn Dichterinnen und Dichter als »geschlossene
Formation« auftreten, was ja bis zu einem gewissen Grade jedenfalls auf
die kookbooks-Autoren, oder bedingt auf »Lyrik von Jetzt«-Autoren
zutrifft.
Berlin, Lychener Straße 73, unmittelbar nach der Wende.
Es gibt noch keinen Baum auf der Straße, aber es gibt am Ende dieser im
Osten erbarmungslos, aber schön gealterten Straße bereits einen Verlag.
Sascha Anderson, sein Gründer, der genau wusste, wie die platten und durchschaubaren
Zwangsvorstellungen des Westens zu bedienen waren, zäumte erst einmal alles
von hinten auf.
So entstanden das Druckhaus Galrev und das Café Kiryl.
Die entsafteten Westmenschen aus dem kulturellen Bereich kamen und fanden alles
»spannend« und »undergroundmäßig«.
Sie liebten die randvollen Aschenbecher, die verschrammten Inventars, die ollen
Ringelpullover und die speckigen Nappalederhosen, und deswegen liebten sie auch
die schmalen Bändchen, die vorwiegend Lyrik enthielten, die anders aussahen
als die Lyrikbände bei Suhrkamp oder Hanser, die plötzlich etwas vom
Geist der Zeit zu atmen schienen und deren Umschläge von Künstlern
entworfen waren.
Und eh man sich versah, war ein Hype entstanden.
Tout le monde redete vom Galrev Verlag, von Berlin sowieso, und vom Osten. Literaturwissenschaftler
aus aller Welt, bereits im Fieber des sich anbahnenden Aufarbeitungsdiskurses
und hungrig nach historischem Trophäen, mit denen die trockenen Literaturstoffe
oder German Departments sich aufpeppen ließen, gaben sich mit den Journalisten,
Kulturberichterstattern und Presseleuten aus ganz Deutschland die Klinke in
die Hand.
Trotz schwacher Verkaufszahlen, die da schon nicht mehr an die Auflagenhöhen
der gerade eben erst beendeten DDR anschließen konnten, wurde der Öffentlichkeit
ein Lyrik-Boom suggeriert. Mit dem programmatischen Bändchen »PROE«,
erschienen bereits 1991, wollte Anderson sich und seine Favoriten – Bert
Papenfuß, Peter Waterhouse, Durs Grünbein, Thomas Kling und Gerhard
Falkner – zum Grundstock seiner neuen Lyrikzentrale machen.
Die Lektorate der großen (West-)Verlage waren extrem verdrossen, und zu
Recht, denn ohne Zweifel wäre ihm das alles gelungen. Schon damals habe
ich ungläubigen Auges und zähneknirschend beobachtet, wie es den Beförderern
des Anderson’schen Projekts gar nicht um die Texte zu tun war, sondern
um Partizipation an einem diffusen Gruppenerlebnis.
Etwas noch Entscheidenderes aber kam hinzu.
Die ewig verlorenen, ewig verpeilten, ewig von ihrer Eitelkeit weich gekochten
und ewig nachzügelnden Kritiker hatten endlich ein geheimnisvoll verschnürtes
Päckchen, das man sich auch noch in Berlin abholen konnte, wo man eh gerne
hin wollte und wo sich gut ein paar lustige Tage anschließen ließen.
Man musste nicht erst umständlich durch die Republik reisen oder gar sich
selbst durch die Flut der Texte bemühen.
Anderson steuerte seine Verpackungs- und Verschnürungskünste sehr
geschickt, er hatte, wie schon zuvor immer wieder unter Beweis gestellt, durchwegs
den richtigen Riecher und verband immer die richtigen Leute (wobei es beim Verbinden
oft natürlich nicht blieb – aber das stellte sich erst später
heraus).
Der erfreuliche Nebeneffekt für ihn war, dass seine Gedichte über
den grünen Klee gelobt wurden und er, zusammen mit Bert Papenfuß,
als die Urzelle des frischen (Ost-)Winds mit underground-Aroma gefeiert wurde.
Seine literarische Bedeutung wurde ihm regelrecht angetragen.
Dann kam der vernichtende Radierschlag der Stasiaffäre, und alles war aus.
Die Kritiker, die eben noch Andersons literarische Bedeutung herausposaunt hatten,
und das waren nicht wenige, fügten sich in die politisch angeordnete Rücknahme
ihres literarischen Urteils nicht einmal kleinlaut, sondern stumm oder sogar
mit Kehrtwendung. Im Nachhinein ist dies ein exemplarisches Beispiel für
eine von außerliterarischen und szenedynamischen Kräften beeinflusste
Literaturkritik ohne übergeordnete Maßstäbe und ohne wirkliche
Kompetenz.
Fünfzehn Jahre später wiederholt sich das Ganze.
Ein Verlag wird gegründet, der wieder einige der besten »jungen Kräfte«
versammelt, wieder aus einer solidarischen Generationszelle hervor ging, wieder
auf Lyrik sich konzentriert und wieder auf den Multiplikationsfaktor eines inzwischen
zur Hauptstadt avancierten Berlins sich stützen kann. Die Bändchen
erscheinen ebenfalls in englischer Broschur, haben das gleiche Format und bestechen
ebenfalls durch ihre endlich wieder einmal zeitgemäße Ausstattung.
Die ursprüngliche Verlagsadresse, die Sonnenburger Straße, liegt
ebenfalls am Prenzlauer Berg, unweit der Lychener, nur gibt’s jetzt in
beiden schon Bäume.
Wieder entsteht ein Hype, und wieder geben sich die gleichen Leute die Klinken
in die Hand, nur haben sie jetzt andere Namen und klingeln nun bei Daniela Seel.
Wieder werden durch Vorsortiertheit Abkürzungen zu Literaturpreisen geboten
und wieder wird der Kritik die Möglichkeit gegeben, auf gesattelte Pferde
zu springen, statt sie selber aufzuzäumen. Und wieder wundern sich weder
die Verlegerin noch die Verlegten über die Genese dieser überproportionalen
Aufmerksamkeit und Adoration, welche tendenziell alle nicht in Berlin oder bei
kookbooks verlegten Dichterinnen und Dichter aus dieser Generation zu im Lande
verstreuten Randerscheinungen macht, die keinen der kookbook’schen Preisvorteile
genießen.
Wohlgemerkt, das sind alles keine Argumente, die dem Verlag kookbooks anzukreiden
wären. Überhaupt nicht. Die Verlegerin Daniela Seel hat wenig Ähnlichkeit
mit Sascha Anderson, außer vielleicht, dass beide wirklich die Lyrik im
Auge hatten oder haben. Eine Stasiaffäre steht nicht zu befürchten,
daher auch kein schnelles Ende. Und kookbooks ist sicher mit das Beste, was
der Lyrik passieren konnte.
Nun habe ich von den drei Instanzen, die ich eingangs erwähnte, eigentlich
nur die Leser vergessen. Aber die sind ja inzwischen vielleicht doch eher Zielgruppe,
und wer vielleicht nur eine Kugel hat, trifft eben wieder nur einzelne.
Gerhard Falkner