Dialog oder Rache?
Zu Jean Bollacks Celan-Interpretationen
„Dichtung wider Dichtung“, der Titel sagt eigentlich alles. Paul
Celan hat nicht mit und nicht in der (deutschen) Literaturgeschichte geschrieben,
sondern gegen sie, um in dieser Auseinandersetzung – deutlicher gesagt:
in diesem Kampf – seine eigene, singuläre, hermetische Dichtersprache
zu erarbeiten. Jean Bollacks literaturwissenschaftliche Aufsätze sind komplex,
kompliziert, seine Sprache ist gewunden, die Argumentationslinien nicht immer
nachvollziehbar. Sein Nachdenken über und mit Paul Celan stützt sich
indessen auf einige wenige, gut nachvollziehbare Thesen. Im Vorläuferwerk
mit dem ebenfalls prägnanten Titel „Poetik der Fremdheit“ hatte
Bollack die unversöhnbare Stellung des Dichters gegen eine Welt nachvollzogen,
in der seine Familie ausgerottet wurde. Die Judenvernichtung war mit dem Kriegsende
nicht vorbei. Die Dichtung Celans bleibt in ihrer Gesamtheit und in jedem einzelnen
Text auf das historische Ereignis und bezogen. Dichtung wider Dichtung
beschäftigt sich mit Traditionslinien, literarischen Kontexten und intertextuellen
Beziehungen. Zu diesen Thesen kommt eine weitere, mehr sprachbezogene: im Kern
ist das dichterische Verfahren, das Celan beim Aufbau seiner Gegensprache verwendet,
ein Verfahren der Resemantisierung, also der Um- und Neuwertung von zumeist
deutschen Wörtern und Ausdrücken unter den Bedingungen des erfahrenen
und erlittenen Mißbrauchs der Sprache durch den Nationalsozialismus und,
darüber hinaus, den deutschen Militarismus, den Bollack nicht nur in militärischen
Kreisen am Werk sieht. „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“,
dieses berühmte Gedichtfragment wird auf die gesamte deutsche Geschichte,
Literaturgeschichte mit eingeschlossen, projiziert.
Auch wenn Bollack immer wieder auf die Singularität Celans pocht –
seine Untersuchungen unterscheiden sich nicht grundsätzlich von traditionellen
Studien zu Einflüssen, denen sich ein Autor geöffnet oder die er erlitten
hat. Es ist immer ein Spiel von Öffnung und Abwehr, die Einflüsse
können für den Autor und sein Werk bedrohlich werden, wie sie ihm
helfen können, den eigenen Weg zu finden. Im Grunde gelangt man von derlei
Überlegungen sehr schnell zum Plagiatsvorwurf, der in Gestalt der „Goll-Affäre“
Paul Celan niedergedrückt hat, der aber auch in seiner poetologischen Signifikanz
zu sehen wäre, nicht nur im Kontext antisemitischer Verfolgung, an den
Bollack die Angelegenheit festbindet. Die Goll-Affäre, ein fruchtbares
Feld für Positivisten der Literaturgeschichte, läßt sich als
„Argument“ gegen Celans Schreibpraxis leicht vom Tisch wischen;
Ingeborg Bachmann versuchte, wie man im unlängst veröffentlichten
Briefwechsel zwischen ihr und Celan nachlesen kann, ihren Freund davon zu überzeugen,
daß derlei Vorwürfe tief unter seinem Niveau waren und er ihnen nur
Nahrung gab, wenn er ihnen so viel Beachtung schenkte. Bollack bezeichnet Bachmanns
Verhalten als kompromißlerisch. Mag sein, daß die im männlichen
Literaturbetrieb sich Behauptende mehr zu Kompromissen bereit war. Mag auch
sein, daß Celan nicht anders konnte und sich immer tiefer in das paranoide
Dickicht begeben mußte. Die Spätwirkungen antisemitischer Verfolgung
und die persönliche, nicht durch Geschichtliches erklärbare psychische
Disposition sind miteinander verstrickt, beides läßt sich im nachhinein
nicht mehr trennen. Daß beide Faktoren gegeben waren, bestätigen
die Dokumente der Goll-Affäre und der Briefwechsel mit Bachmann.
Ist der Tod also ein Meister aus Deutschland? Soll man den poetischen Satz als
Schlußsentenz deutscher Geschichte interpretieren? Heißt das nicht,
sich in ein Fahrwasser zu begeben, das man eigentlich meiden will: das Fahrwasser
nationaler, gar „völkischer“ Genetik, des urdeutschen, unausweichlichen
Schicksals? Bei Rilke meint Bollack eine „tötende Sprache“
zu finden, der ewig kränkelnde Dichter, Verehrer slawischer und romanischer
Kultur, Verfasser zahlreicher französischer Gedichte, der 1914, als die
meisten deutschen Schriftsteller in Kriegsjubel verfielen, als einzigen „Kommentar“
zum ersten Weltkrieg seine eher distanzierten, nachdenklichen „Fünf
Gesänge“ schrieb, sollte den zweiten Weltkrieg mit vorbereitet haben?
Sein „Cornet“, in erster Linie eine große Liebesdichtung und
in mythisch-geschichtlicher Ferne schweifend, soll später die Wehrmachtsoldaten
angefeuert haben? Derlei Behauptungen findet man bei Bollack; daß Celan
ähnlich gedacht haben soll, ist anhand der beigebrachten Gedichtstellen
nicht nachzuvollziehen. Die „große Dichtung der Vergangenheit“,
liest man, hat „selber zur Vernichtung das Ihre beigetragen“. Bollack
suggeriert, daß es sich dabei um die deutsche Dichtung handelt (der er
die österreichische zuschlägt). Ein rascher Blick auf andere Literaturgeschichten
genügt, um zu erkennen, daß auch diese nicht gegen Gewaltverherrlichung
gefeit sind, auch wenn derlei Strömungen minoritär sind. Man denke
an Céline oder, um einen genuinen Dichter zu nennen, an Ezra Pound. Ein
wenig vorsichtiger als im Fall Rilkes wirft Bollack Friedrich Hölderlin
seinen Gebrauch durch die Nazis vor, der, selbst wenn man das Mißbräuchliche
dieses Gebrauchs zugibt, doch etwas über das Werk selbst aussage. Zusammenfassend
und mit wünschenswerter Deutlichkeit schreibt Bollack: „Die Gründe
für den der Todesfuge neu zugewiesenen Ort erfaßt man, wenn man erkennt,
daß das Morden, das Talent, der Hang und die Lust dazu, auf die frühere
kulturelle Tradition Deutschlands bezogen werden, zurück bis auf die Kunst
des Kirchenlieds und auf den 'Faust‘, aber auch auf die 'Walküre‘
und das 'Rheingold‘. Der Tod ist ein 'Meister', ein Meister der Dichtung
und des Gesangs. In dieser Tradition lernte man zu lieben und zugleich, Jüdinnen
zu töten.“ Wer auch immer das Subjekt sein mag: Luther, Paul Fleming
oder Richard Wagner, Goethe, Faust oder Gretchen – es besitzt „Talent“,
einen „Hang“ sowie „Lust“ zum Töten. Wie abwegig
derlei Formulierungen sind, merkt man, wenn man Gretchen, also ein mißbrauchtes
Mädchen, das sich in seiner Verzweiflung selbst tötet, an die Subjektstelle
setzt. Die „Margarete“ der Todesfuge ist ein deutscher Symbolname
wie Sulamith ein jüdischer. Mag sein, daß Celan auf Goethes „Faust“
anspielt. Daß Goethe – unbewußt oder wie auch immer –
auf die Judenvernichtung hingearbeitet haben soll, steht nicht in Celans Gedicht,
Bollack trägt diese Idee in es hinein.
„Die Dichtung allgemein, und gerade auch Rilke, wie er während des
letzten Krieges verwendet wurde, und gerade die Züge, die durch diese Verwendung
bloßgestellt wurden, hatten einen Anteil an der Vorbereitung des Geschehenen“
– gemeint ist die Judenvernichtung. Diese Formulierung ruft förmlich
nach einem Kommentar, den Gottfried Benn (in den Augen Bollacks zweifellos ein
Kompromittierter) noch in Kriegszeiten tätigte: „Die Duineser Elegien
kann man bestimmt von allen Seiten betrachten, so vielfältig sind sie,
aber sie in irgendeinem noch so versteckten Sinne als militaristisch zu deuten,
rückt sie in eine schiefe Beleuchtung. Der Bezug auf Rilke ist also eine
reine Bauernfängerei für die (...) allmählich schwachsinnig gewordene
deutsche Intelligenz.“ Einen Intellektuellen wie Bollack als Bauern zu
qualifizieren, wäre natürlich Unsinn; Benns impulsive Äußerung,
getätigt in einem von der Intelligenz weitgehend verlassenen Land, möchte
ich ihm dennoch zu bedenken geben. Tatsächlich war Rilke im Dritten Reich
für Leute, die sich im – oft religiös motivierten – Widerstand
oder in der inneren Emigration befanden, eine Identifikationsfigur. Egon Schwarz
hat in seinem Aufsatz „Rilke unter dem Nationalsozialismus“ diese
ambivalente Rezeption nachgezeichnet. Hinweisen möchte ich aber auch darauf,
daß eines der letzten Werke des jüdisch-österreichischen Komponisten
Viktor Ullmann eine Vertonung von Rilkes „Cornet“ ist, angefertigt
im Konzentrationslager Theresenstadt kurz vor seinem Transport nach Auschwitz,
wo er ermordet wurde.
Von all den Autoren, denen er in seiner Studie ein längerer Abschnitt widmet,
gesteht Bollack am ehesten Ingeborg Bachmann so etwas wie dialogische Gemeinsamkeit
mit Celan zu. Doch um Celans Wunsch nach einer gegen die feindliche Umwelt resistente
und von ihm, dem männlichen Part, dominierte Symbiose dauerhaft zu erfüllen,
besaß Bachmann, Bollack zufolge, nicht genügend Radikalität.
Wäre Bollack bereit, den anderen Autoren ein wenig Gerechtigkeit widerfahren
zu lassen (was allerdings bedeuten würde, daß er die These von der
absoluten Singularität Celans wenn nicht verwerfen, so zumindest relativieren
müßte), könnte er eine größere, nicht ausschließlich
biographisch konstituierte Gemeinsamkeit, eine Art literaturgeschichtlicher
Schnittmenge rund um die Aktualisierung des Orpheus-Mythos bei Rilke, Bachmann
und Celan entdecken. Natürlich bezieht sich das altehrwürdige Motiv
bei Bachmann und Celan vor allem auf die Judenvernichtung, die Rilke nicht vorausahnen
konnte. Bollack zieht es vor, den „Sonetten an Orpheus“ einen mörderischen
Todeskult zu unterstellen, während er in Celans Gang in die Unterwelt,
seinem Ausharren bei den Toten, das Um und Auf einer nicht nur konsequent antifaschistischen,
sondern von Grund auf erneuerten, zugleich krisenhaften Dichtung sieht. „Dunkles
zu sagen“ lautet der Titel eines an Celan gerichteten Bachmann-Gedichts.
„Dunkel“ bzw. „Dunkles“ ist eines jener vorsichtigen
Wörter, die sich durch den gesamten Briefwechsel zwischen den beiden ziehen.
Ein anderes, zwar selteneres, aber nicht weniger bedeutsames Wort ist „hell“,
„Helles“. Celan rang durchaus, so sehr er seine Gedichte als Totengedenken
verstand, um Helligkeit, und Bachmann, selber vom Dunkel bedroht, wollte ihm
in diesem Kampf beistehen. „Worte finden“: die Hell-Dunkel-Semantik
wirkt im Verlauf des Briefwechsels fast trivial. Daß Bachmann vielleicht
etwas entschiedener als Celan zum Hellen strebte, mag man als Zeichen von Schwäche
abtun. Im Gedicht spielt der weibliche Orpheus zunächst „auf den
Saiten des Lebens den Tod“, doch am Ende hat die Kraft des Gedichts eine
Inversion bewirkt: „wie Orpheus weiß ich / auf der Seite des Todes
das Leben“. Aus der „Saite“ ist, fast ein Kalauer, eine „Seite“
geworden.
Bollack qualifiziert die österreichische Autorin einmal als „Mittelwegdichterin“,
ihre Dichtung habe eine Tendenz zum „Beliebigen, Eklektischen und Amorphen“.
Solche Aussagen sind eindeutig abwertend gemeint (auch wenn man sich fragen
kann, ob eklektische und amorphe Dichtung nicht auch wertvoll sein kann, und
weiters, ob diese Epitheta nicht eher auf Celan als auf Bachmann zutreffen).
Die Absolutsetzung von Celans Singularität führt Bollack unweigerlich
dazu, die anderen Autoren abzuwerten und manchmal regelrecht abzukanzeln. Rilke
hatte eine „etwas hilflose und gespaltene Gefühlswelt“, und
seine Dichtung „war vielleicht gar nicht dichterisch“. Dieser Wille
zur Abwertung geht einher mit einer Tendenz zu apodiktischen Behauptungen, die
oft mit autoritärem Gestus vorgetragen werden. „Der Tod läßt
sich nicht mehr elegisch beklagen“: das Genre, von Hölderlin und
Rilke gepflegt, kann bei Celan nicht fortleben. Die „Umkehrung der poetischen
Tradition ist die obligate Perspektive jeder (!) Interpretation Celans.“
Derlei Aussagen bestreiten implizit die Möglichkeit des Zweifels. In seiner
Selbstsicherheit versteigt sich Bollack zu höchst zweifelhaften Behauptungen.
Beispiel: Ingeborg Bachmann habe die Lyrik aufgegeben, weil sie von “Sterbenswörtern”
genug gehabt habe; mit der Prosa habe sie sich dem Leben zugewandt. Doch der
Romanzyklus, an dem sie während der letzten Jahre ihres Lebens arbeitete,
heißt „Todesarten“, und Lebensfreude ist nicht gerade die
in „Malina“ oder in „Der Fall Franza“ vorherrschende
Atmosphäre.
Wahrscheinlich kennen wenige Leser Celans Werk so gut wie Bollack, der einst
mit Celan befreundet war und wie Peter Szondi einzelne Gedichte aus seiner persönlichen
Kenntnis biographischer Umstände erhellen konnte. Deshalb verwundert es,
wie unmethodisch und sorglos er immer wieder einzelne Celan-Texte bespricht.
Dabei versteigt er sich mitunter zu willkürlichen Schlußfolgerungen
und Sinnzuschreibungen, die seine Hauptthesen bestätigen sollen. Andererseits
werden ganze Texte, ja Zyklen leichtfertig bewertet und in fragwürdige
Zusammenhänge gestellt, so zum Beispiel, wenn die „Niemandsrose“
als Antwort auf die Duineser Elegien interpretiert wird: Nur weil in Celans
Gedichtband auch Engel vorkommen? In einem der letzten Verse ist dort, bei Celan,
von „Erzengelfittichen“ die Rede – aber Rilke hatte sich ausdrücklich
dagegen verwahrt, seine Engel als christliche zu verstehen. Der von Bollack
angedeutete Zusammenhang ist nicht nachvollziehbar. Weit sinnvoller könnte
man, was verschiedene Interpreten ja schon getan haben, die engen Bezüge
zum Werk Ossip Mandelstamms – „der Name Ossip kommt auf dich zu“
– herausstellen; bezeichnend, daß dieser Name im Buch Bollacks,
dessen Thema „Paul Celan und die Literatur“ sein soll, nur ganz
am Rande vorkommt. Der Bruder und Dialogpartner im Geiste der Poesie paßt
nicht zum Begriff der Kampfdichtung, auf den Bollack Celans Werk reduziert.
Öfters geschieht es, daß Bollack in seinem Eifer entstellend zitiert.
So wird zum Beispiel der „Glanz / aller Gedichte“, der „uns
fast tödlich träfe“, zum buchstäblich „tödlichen“
Glanz – ohne „fast“ und ohne Konjunktiv –, der von Rilkes
eigener Dichtung ausstrahlt. Rilkes Gedicht, es handelt sich um „Früher
Apoll“, sagt aber durchaus nicht, daß Dichtung töte, und wenn,
dann gewiß nicht im Sinn von Mord. Bollack unterstellt Celan, Rilke auf
diese Weise interpretiert zu haben. Um seine Aussage zu stützen, bemüht
er die letzten beiden Strophen von „In der Luft“, dem Schlußgedicht
des Zuyklus „Niemandsrose“. Einen Bezug zu Rilke kann ich hier beim
besten Willen nicht finden; wohl aber zu Brecht: die „Schwestern“
und „lebenslang Fremden“ seien mit der „Weltwaage“ im
„blut- / schändrischen, im fruchtbaren Schoß“ zu leicht
befunden worden. Die Anspielung auf die Judenvernichtung ist so unüberhörbar
wie das Brecht Zitat – aber was hat das mit Rilke zu tun? Bollack hat
seine eigene, fahrlässige Interpretation von Rilkes „Früher
Apoll“ dem Celan-Gedicht unterschoben.
Bollacks Brückenschläge zu Nationalsozialismus, Angriffskrieg und
Judenvernichtung haben etwas Zwanghaftes, er entdeckt Zeichen an allen Orten
und Enden. In gewisser Weise führt er damit Celans Verfolgtheit und Verfolgungswahn
fort, der gegen Ende der fünfziger Jahre immer deutlichere Konturen annahm.
Ob man Celan und seinem Werk damit jedoch etwas Gutes tut? Beschränkt man
es solcherart nicht auf einen – zweifellos vorhandenen und wichtigen –
Aspekt? Celans Gedicht „Tübingen, Jänner“, das im Zentrum
des Hölderlin-Kapitels von Bollacks Buch steht, ist zweifellos eine Auseinandersetzung
mit dem großen Dichter, der jahrzehntelang im Wahn dämmerte. Auch
der Bezug zur Wannseekonferenz, die im Jänner 1942 stattfand, ist nachvollziehbar.
Bollack ergeht sich dann aber in phonetischen Assoziationen, die ihn von Tübingen
zum französischen „tue“ (vom Verb „tuer“, töten)
weiter nach Bingen (Tue-Bingen) und damit zu Stefan George bringen, der dort
geboren wurde. Bollack landet also wieder einmal bei seinem Lieblingsthema,
der deutschen (Literatur-)Geschichte als Todesgeschichte. Daß George,
der für Celan keine große Bedeutung hatte, hier einzuordnen sei,
setzt er als selbstverständlich voraus. George, Verfasser eines Gedichtbuchs
mit dem Titel „Das neue Reich“ (1928, ein Spätwerk), als Vorläufer
der nationalsozialistischen Ideologie: das ist, in solcher Pauschalitat, freilich
nur ein, auch unter Germanisten verbreitetes, Gerücht. Ähnlich klischeehaft
ist Bollacks Interpretation des Turms als Feudalismus-Symbol. Bei Celan sind
es „schwimmende Hölderlintürme“, im bewegten Wasser vervielfacht
sich der eine Turm, in dem Hölderlin wohnte. Für Bollack sind damit
aber gleich „die Leiden der feudalen Unterdrückung“ angesprochen,
die, so kann man zwischen den Zeilen lesen, in die Richtung der Wannseekonferenz,
also der Judenvernichtung, deuten. Wer zu so kühnen Assoziationen nicht
bereit ist, wird von Bollack des Verdrängens bezichtigt. Philippe Lacoue-Labarthe,
der, horribile dictu, Heideggers Existentialismus an Celans Gedichte heranträgt,
wirft er eine „forcierte, fanatische (!) Umgehung der NS-Geschichte“
vor.
Daß Celans Werk eine Art Kampfdichtung im Nachkriegskontext ist, kann
man einräumen. Sie ist aber nicht nur das, und gerade die Beschäftigung
mit anderen Dichtern, nicht zuletzt das Übersetzen, drückt seinen
Wunsch nach Brüderlichkeit, nach Geschwisterlichkeit aus – siehe
auch die Versuche, die nur kurz währende erotische Beziehung zu Ingeborg
Bachmann durch eine andere, geschwisterliche zu ersetzen. Daß die Wünsche
sich im Leben noch weniger als in der Literatur verwirklichen ließen,
steht auf einem anderen Blatt. Sowohl Ingeborg Bachmann als auch Gisèle
Lestrange wollten ihm, dessen schweres Leiden sie beide erkannten, „helfen“
– beide gebrauchen dieses Wort. Im Brief, den Gisèle nach Celans
Selbstmord an Ingeborg schrieb, steht der Satz: „Je n'ai pas su l'aider
comme je l'aurai voulu“: „Ich konnte ihm nicht helfen, wie ich es
gewollt hätte.“ Eine Hauptschwierigkeit beim Helfen bestand darin,
daß Celan unbedingte Loyalität forderte. Im Kampf gegen die „Hitlerei,
Hitlerei, Hitlerei“ (so beginnt ein Brief an Max Frisch) hatte man auch
in Ermessensfragen auf seiner Seite zu stehen, oder man wurde zu seinem Feind.
So konnte es geschehen, daß er seine engsten Vertrauten ein Stück
weit in seinen Wahn hineinzog – dagegen, gegen diesen „Untergang“,
und nicht gegen eine abstrakte „Radikalität“, wehrte sich Bachmann,
ohne ihren Freund deshalb gleich aufzugeben. Während seiner letzten Lebensjahre,
als auch seine Dichtung eine beispiellose Härte und Schweigsamkeit gewann,
versuchte Celan zweimal, seine Frau zu töten. Bollack spricht sich dagegen
aus, Celans Pathologie mit seinem Werk in Verbindung zu bringen. Mir hingegen
will scheinen, daß dieses Werk ohne Berücksichtigung der Pathologie
und ihrer Ursachen nicht voll verstanden, nicht ganz ausgeschöpft werden
kann.
„Celan wurde an einem 23. November im Zeichen des Schützen geboren.
Er leitete seine streitbare Ader von diesem Sternbild ab, stand zu dieser Geburt
im Zeichen des Kriegs, sah sich als der Schütze mit schwirrenden Pfeilen.“
Offenbar greift Bollack auf seine persönliche Bekanntschaft mit dem Dichter
zurück, wenn er uns diese Selbsteinschätzung Celans mitteilt. Auch
wenn man, wie ich, Horoskopen wenig Bedeutung beimißt, kann man verstehen,
daß ein der Judenvernichtung mit knapper Not Entronnener sich nicht ohne
weiteres vom Krieg verabschieden wird. Bollack führt die polemische Ader
weiter, er hält dem Schützen lange nach dessen Tod und dem historischen
Kriegsende die Treue. Celan „hatte sich geschworen, in seiner Dichtung
Rache zu üben an den an den Juden begangenen Verbrechen. Der Haß
lag seiner Dichtung zugrunde.“ Ja, aber doch wohl in erster Linie der
Haß gegen die Verbrecher, nicht – oder nur im Wahn – gegen
die gesamte Literaturgeschichte. Der sekundierende Schütze gibt sich eifriger
als sein Vorbild, und er schießt weit über das Ziel hinaus.
Auf Ossip Mandestamm habe ich hingewiesen, andere von Bollack vernachlässigte
Dichter wären zu nennen. Sogar Nietzsche, diesem großen Hasser, mit
seinem Sozialdarwinismus noch am ehesten ein Vorläufer der Nazi-Ideologie,
und Heidegger, der eine Zeitlang mit den Nazis gemeinsame Sache machte, konnte
Celan etwas abgewinnen. Emmanuel Lévinas, wie Celan und Mandelstamm jüdischer
Herkunft, hat in einem Text, der vor allem Celans Büchnerpreisrede auswertet,
das Gedicht als „Händedruck“ definiert, d.h. als (sprachliche)
Geste, die der Geste des Kriegers genau entgegengesetzt ist. Das Gedicht „hält
unentwegt auf jenes 'Andere‘ zu, das es sich als erreichbar, als freizusetzen,
als vakant vielleicht, und dabei ihm, dem Gedicht (...) zugewandt denkt“,
sagte Celan 1960 in seiner Rede. Bollack jedoch bestreitet, daß „Gespräch“
bei Celan „Dialog“ bedeutet. Aus der Intersubjektivität, die
Celan verzweifelt suchte, macht Bollack eine Subjekt-Objekt-Beziehung. Dieser
Sichtweise steht ein anderes Konzept gegenüber, das beides in seiner Differenz
zu vereinen trachtet: die singuläre Einsamkeit vor einer unzugänglichen
oder feindlichen Welt und den freien Austausch selbstbestimmter Subjekte.
Celans Dichtung ist hermetisch und dialogisch; sie schließt sich ab und
sie öffnet sich; sie ist einsam und, trotz allem, kommunikativ. Die Kunst
des Interpretierens bestünde darin, beide Seiten zusammenzusehen.
Leopold Federmair
Jean Bollack: Dichtung wider Dichtung. Paul Celan und die Literatur.
Herausgegeben von Werner Wögerbauer. Aus dem Französischen von Werner
Wögerbauer unter Mitwirkung von Barbara Heber-Schärer, Christoph König
und Tim Trzaskalik. Göttingen: Wallstein Verlag, 2006