Die Wahlverwandtschaften der Wörter
Ueber die italienisch-deutschen Gedichte Gerhard Koflers

 

Eine der Aufzeichnungen in Gerhard Koflers Tassuino delle ninfee, dem Notizbuch der Wasserrosen, trägt die Überschrift „Ohne jenen Übersetzerkollegen“. Die Wortfolge hat in mir sofort das Bild jenes Gnomen wachgerufen, der in einem Prosastück von Marcel Béalu dem Erzähler im Nacken sitzt – ein Auswuchs vielleicht, eine erkennbar Figur, die sich vernehmbar macht, aber kein doch kein selbständiges Wesen. Gerhard Kofler hat am 21. Juni 2001 in Genua 250 Zuhörern einige seiner Gedichte vorgetragen, alle auf italienisch und zwei davon in „neapolitanischem Ton“, in tono napoletano. „Das Herz war mir leicht, ohne jenen Übersetzerkollegen in mir“, lesen wir und fühlen uns erleichtert. Jedenfalls die von uns, welche die Gedichte und – in diesem Fall – das Prosastück im italienischen Original lesen können. Denn darum handelt es sich, um Originale. Die Übersetzungen sind im Vergleich zu ihnen durchaus sekundär, Abkömmlinge, Auswüchse aus einer anderen Sprache ins Deutsche herein.

In dieser zwiesprachigen Situation liegt sowohl das Besondere von Gerhard Koflers Dichterexistenz als auch der unruhige Blick begründet, mit dem wir seine Bücher lesen: dieses Hin und Her, das zuweilen ein Unbehagen hervorruft, denn wie ist kommt es, fragen wir uns, daß die Schönheit der Verse bei diesem Vorgang immer wieder in Mitleidenschaft gezogen wird? Womöglich ist es das Unbehagen des Übersetzerkollegen, das sich auf diese Weise mitteilt, denn beim Übersetzen scheint er, der Kollege, nicht nur seinen Lüsten zu folgen, sondern der Notwendigkeit transalpiner Mitteilung, also der Vermittlung in eine Gegend hinein, wo es kein Meer gibt, es sei denn, die Berge würden als Strandkiesel wahrgenommen (was einer der Verwandlungsmöglichkeiten der Poesie entspricht). Die Selbstgespräche im Herbst, können wir sie dann nicht auch als Gespräche zwischen den Sprachen verstehen, als ein Hin und Her zwischen Italien und Österreich, zwischen Amerika, wo Kofler einen Gutteil der Zeit der Niederschrift dieser Texte verbracht hat, und Europa? Transalpine und transkontinentale Poesie?

Bleibt, trotz allem, jenes Unbehagen, denn Übersetzen kann sich ja doch nicht auf das Mitteilen von Inhalten beschränken. Das tut jener Kollege zwar nicht, aber er macht beträchtliche Abstriche. Schon das erste Gedicht von Soliloquio d’autunno habe ihm „Kopfzerbrechen“ bereitet, schreibt Kofler bzw. der ihm über die Schulter schauende Übersetzerkollege, denn für die deutsche Version konnte er nicht „spielerisch die Assonanzen von ‚dire‘ (sagen) und ‚dare‘ (geben), von ‚cosa‘ (Ding) und ‚casa‘ (Haus) aufgreifen...“ Schade, denn der Reiz des Originals geht damit verloren, und wir fragen uns, ob es denn wirklich so unmöglich ist, etwas vom Spiel der lautlichen Entsprechungen ins Zisalpinische herüberzubringen. Könnte es nicht sein, daß der Dichter als Übersetzer seiner selbst einer Vorstellung von Treue anhängt, die unter Übersetzern längst problematisch geworden ist: einer Treue, die für die Person, die sich nicht so radikal spalten will, wie es etwa ein Fernando Pessoa getan hat (oder tun mußte), aber selbstverständlich und vielleicht unverzichtbar ist? Wenn das zutrifft, dann wäre das Selbstgespräch tatsächlich eine zu enge Form, ein Gehege, in dem der transalpine Austausch nicht in aller Freiheit vor sich gehen kann. Und es wäre interessant, deutsche Übersetzungen des italienischen Dichters Gerhard Kofler zu lesen, die nicht von jenem Kollegen stammen, der ihn in Genua zu seinem Glück verlassen hat.

Das Italienische ist für Gerhard Kofler eine „erwählte Sprache“. Allerdings auch eine, mit der er in Südtirol aufgewachsen ist: man kann den Autor ohne weiteres als „zweisprachig“ bezeichnen. Die Distanz, die dennoch gegenüber der italienischen Sprache vorhanden und in den Texten hörbar ist, gereicht diesen keineswegs zum Nachteil. Im Gegenteil, wir haben beim Lesen das Gefühl, daß dieser minimale Riß, diese Unsicherheit, die Kofler in Anlehnung an Edoardo Sanguineti beschwört, ihm erst die Möglichkeit gibt, die Klang- und Bedeutungsmöglichkeiten der Wörter auszukundschaften – auszuhorchen, sind wir zu sagen versucht – und sie in größter Reinheit darzustellen. Und damit ihre Klänge und Bedeutungen in Beziehungen zu setzen, die einfach und zugleich überraschend sind, so daß chemische Reaktionen frei werden und im Leser weiterschwingen können, eben die Wahlverwandtschaften der Wörter. Die Wahl des Dichters zugunsten einer der beiden Sprachen – fallweise auch für eine dritte und vierte Sprache: das Neapolitanische und das Spanische – diese Wahl kristallisiert jeweils in den einzelnen Gedichten, indem sie den Echoraum für die verbalen Entsprechungen schafft.

Bewußtheit schafft im Fall Gerhard Koflers keine theoriebeladenen, in Selbstreflexion versponnenen Gebilde, sie setzt vielmehr die Sinnlichkeit frei, die der italienischen Sprache (und natürlich auch der deutschen) als unendliches Potential innewohnt. Das Bewußtsein des Selbst, das bereits seine Spaltung voraussetzt und durch die Bikulturalität verschärft wird, dient der sinnlichen Wahrnehmung der Klänge und der plastischen Wahrnehmung der Bilder bzw. generell der Bedeutungen. Koflers Gedichte kristallisieren, sie schießen an, und dies setzt einen organischen Reifungsprozeß voraus, eine langsame Ausformung der sprachlichen Gebilde (auch wenn der vorliegende Zyklus im Zug eines Herbstes und Winters entstanden sein mag). Die Bilder, die dabei abfallen wie Blätter – die mehrfach und fruchtbar umgesetzte Assonanz zwischen fogli und foglie setzt ein reicheres Spiel frei als die pure Homonymie von „Blättern“ und „Blättern“ –, wirken nicht künstlich, sondern gewachsen und wie nach erfolgtem Wachstum geerntet. Diese Eigenschaft gibt den Gedichten einen gediegenen, in manchen Ohren vielleicht konservativen Zug. Sie gehört aber zu ihrem Wesen und bedingt ihre poetische Kraft, die ein visuelles, oft lange nachwirkendes Schimmern erzeugt, jene visuelle Entsprechung der Stille, welche die akustischen Gebilde umgibt: kein Mantel des Schweigens und kein Bildersturm, sondern ein zwar tastendes, aber entschlossenes Weitergehen der Poesie.

Statt organischer Vorgänge könnte man auch chemische, alchemische beschwören. Das organische Reifen geht nämlich einher mit handwerklichen, gleichsam alchemischen Verfahren; das eine kann ohne das andere gar nicht wirksam werden – mit anderen Worten: Sprachartistik und Erfahrungswille halten einander bei Kofler die Waage, sie stehen in einem prekären, unsicheren, aber notwendigen Gleichgewicht. In Soliloquio zeigt sich der Dichter empfänglich für das, was die langsame Veränderung der Jahreszeit bringt, und er schreibt zugleich gegen die Jahreszeit an, so daß die Kalendergedichte einen Gegenkalender eröffnen, in dem die Phantasie ihre Rechte geltend macht, ähnlich wie in einem Traum, wo „ein übernachtetes / tagebuch / [...] durch / die räume geht / und / die türen / sich erfindet“: un diario / pernottato / che passa / per le stanze / inventandosi / le porte, die Türen sich erfindend, durch die das Ich entschlüpfen kann – um wen zu finden? Die Schrift zur Jahreszeit ist auch eine, die sich in Beziehung setzt zu den Zyklen und Vektoren der Gesellschaft, zu den politischen Äußerungsformen, und auch auf dieser Ebene der Erfahrung ist das feine Spiel zwischen Offenheit und Distanzierung wirksam. So versteht sich – so verstehe ich jedenfalls, daß Kofler Amerika und besonders den USA gegenüber seine Dankbarkeit äußert (nicht nur im tassuino, sondern auch in den Gedichten), ohne die Distanz zu manchen Entwicklungen dortzulande aufzugeben.

Das Handwerk der Alchemie, die der Dichter in vielen Jahren ausgebildet hat, setzt ein ums andere Mal einen Prozeß der Destillation in Gang, einen Vorgang der Reinigung, der Konzentration auf das Wesentliche, auf das Minimum an sprachlichem Material, das ein Maximum – nicht an Aussage, sondern an Unterscheidung, an Bildschärfe hervorbringt, zu dem sich der Schimmer der Unschärfe als epiphanische Zugabe gesellt. Der Stein des Weisen mag der Horizont sein, vor dem der Alchemist arbeitet. Das, was er wirklich findet und erfindet, sind jene Wortsteine, die einem Bedeutungskern entsprechen und überraschend einfach aussehen, aber in der Nachbarschaft zu anderen, ähnlichen Wortsteinen ihre Vielfalt entfalten. Das Gedicht qualcuno capisce („irgend jemand versteht“) lautet: lì dove / il Tasso / lo chiamano / solo eibe / oppure dachs / senza foglie / senza fogli / canto / a vuoto. Torquato Tasso, der Inbegriff des von der Macht nicht korrumpierbaren Dichters – so die Darstellung eines klassischen deutschen Dichters! –, der Name Tasso verweist bereits auf die Bedeutungsfülle und die Arbeit an ihr, die der Dichter leistet. dort wo / den Tasso / sie nur mehr / eibe nennen / oder dachs / ohne blätter / ohne zettel / sing ich / ins leere. Soll das heißen, daß die poetische Kraft in der zisalpinen, deutschsprachigen Gegend geringer ist, die „Prosa“ der Verhältnisse jedoch, die schon Heinrich Heine geißelte, übermächtig? Wenn dem so ist, dann gilt die Feststellung pars pro toto auch für die Übersetzung des soeben zitierten Gedichts, für das Resultat der Mühe „jenes Kollegen“: „Blätter und Zettel“, das Lautspiel mag hier noch angehen, beim „Singen im Leeren“ stumpft der Klang ab: canto a vuoto, der Dichter stößt auf taube Ohren, weil die Sprache nicht singt.


Leopold Federmair


Gerhard Kofler: Taccuino delle ninfee. Divagazioni italiane su provincia, mondo e poesia. Notizbuch der Wasserrosen. Italienische Abschweifungen über Provinz, Welt und Poesie. Wieser, Klagenfurt 2005
Gerhard Kofler: Selbstgespräch im Herbst. Soliloquio d’autunno. 40 Gedichte. Haymon, Innsbruck und Wien 2005