„Liberté ist unser Erbteil“ – Papenfußens konkretere Beerbung der „Konkreten“


Es war kein Geringerer als Ernst Jandl, der im Vorwort zu dessen ersten Gedichtband „harm“ (fertiggestellt 1977, veröffentlicht 1985) in ihm einen „Dichter ersten Ranges“ erkannte. Wiewohl der Dichter Papenfuß als der herausragende Akteur der „Prenzauer-Berg-Connection“ (Adolf Endler) sich längst in die Literaturgeschichte geschrieben hat, treibt es das Multitalent immer noch in etlichen Gewerken um: Als politischen Netzwerker, als Kulturorganisator, als Zeitschriftenredakteur, Kneipenwirt. Und natürlich als Lyriker, wenngleich weitgehend ignoriert vom Literaturbetrieb.
Für Karl Mickel war Papenfuß „ein Meister nicht-syntaktischer Grammatik“, weil er die Wörter nebeneinander stelle und sie assoziativ verhake. Der Text „(...) feraendert sich selbst / staendig darein begriffen / unterstütze ich diese / Fertiefung Der Wahrnehmung / gleichzeitig das wissen / um eine schiere fuelle fon / erscheinungen“. In der Tat: Von Beginn an versetzte Bert Papenfuß?Gorek in seinen Gedichten die Worte so in Bewegung, daß die Bedeutungen ins Tanzen geraten, durcheinanderwirbeln, sich neu verbinden, immer in eigenartiger Spannung di­rigiert zwischen vital?erotischer Aggressivität und etymologisch?philosophischer Sprachfaszination, die in mythologische Gefilde verweist. Papenfuß: „Der Aspekt der Attacke [ ... ] gegen Konventionen ist mir ebenso wichtig wie der Aspekt der Tiefe, des Verwurzeltseins“. In diesem Tanz tauchen sonderliche Ge­stalten auf und ab, keltische Druiden, „landloper“ und Eulenspiegel. In der „fertonung des / orts & der zeit“ greifen Sprechfetzen denkbar verschiedener Zeiten, Orte, Kul­turfelder ineinander und werden spirituell zusammenge­schlossen zu „säulen des gesangs“. „Arkdichtung“ nennt es Papenfuß. „Ark“ läßt Anarchie, Arg, Arktis, Erz, das englische „dark“ und Arkadien assoziieren, und warum soll sie nicht, wie Klaus Mi­chael in Vorschlag bringt, „metapher für den ent­wurf einer rhizomatischen anthropologie der poetischen sprache sein“, in der der metaphysische Einlösungs­wunsch vom universalen Genießen und Wahrnehmen sich auf anarchisch?archaische Mentalität berufen kann?
Papenfuß kombiniert in dieser ungefähren poetologischen Strateegie - im Unterschied zu den eher mechanisch-strukturorientierten Verfahren der „Konkreten Poesie“ - stets verschiedene Verfahren auf unterschiedlichen Ebenen:
- auf der phonetischen/Semem-Ebene: Neuwortbildungen („pissbegierig“, „niedernage“), Auslassen und Vertauschen von Buchstaben („wustsein“, „ortschritt“, „errorismus“, „wassenschiftler“, „wahrheftigkeit“) , groteske Kompositabildungen („bestellungsbestattungsentgattung“), Auflösung von Umlauten („zeitzuender“ wird so polysem), phonetische Schreibung (Ersetzung des weicheren „v“ durch „f“ in „foegel“, „naif“ etc.), Permutations- und Substitutionsverfahren („steinmann & wasserbock“, „unterweltigend“, mutterseelennackt & splitterallein“);
- auf der visuellen Ebene: Sichtbare Überschreibungen, visuelle Zeichenbildung durch Versfiguren, exzessiver Gebrauch von Gedankenstrich, Auslassungszeichen, Sperrsatz und Großschreibung;
- auf der semantischen Ebene: tabuisiertes Wortmaterial(„meine gedichte wimmeln von pimmeln, strotzen von votzen“, Einbau von Dialekten (vor allem des Niederdeutschen als Herkunftssprache), von Umgangssprache (hier insbesondere die Berliner Dialektmischung), fremdsprachigen Passagen, von Sondersprachen wie Rotwelsch, Zitationen von Fachsprachen und insbesondere von Mythen unterschiedlichster Provenienz, von germanischer und slawischer Mythologie über altägyptische oder indianische Totenkulte bis zu Anleihen aus Taoismus und Buddhismus; Vielzahl intertextueller Verweise gerade auf entlegenere Autoren wie Quirinus Kuhlmann, Johann Fischart, Uwe Greßmann u.a..
Eine solch komplexe Neuverortung der Möglichkeiten poetischen Insistierens, die die deutschsprachige Lyriklandschaft nachhaltig veränderte, hatte nach der Implosion des Gemeinwesens, das zur Kenntlichkeit zu destruieren wesentliche poetische Energien band, einen Bewährungstest zu bestehen. Wer vermutet hatte, dass mit dem scheinbar postmodern-plural grundierten Resonanzboden des bürgerlichen Literaturbetriebes Schreibstrategien der Dekonstruktion von Herrschaftsdiskursen in Schwierigkeiten geraten mussten, hatte sich im Falle Papenfuß getäuscht. Volker Braun nannte es in seiner Laudatio zum Erich-Fried-Preis, den Bert Papenfuß 1998 erhielt, „das Skandalon Papenfuß“:
„Er spricht, nach dem Umbruch, noch immer mit der verstellten Stimme der angeblichen Sklavensprache, den aufreizenden Ton der Verweigerung. Es ist wohl so, dass sich die Naturen gleichbleiben, wie übrigens lange die Zeiten, und die einen Naturen unvereinnahmbar sind. (...) Er stinkt noch an, er höhnt, er maulträtiert, und, wo der Anlass das Gefühl kältert, mit zunehmender Schärfe.“

Bei Bert Papenfuß ist es stärker als je zuvor das Spiel mit ideologiesprachlichen Versatzstücken des imaginär weitergeführten kalten Krieges, das ihn umtreibt. Sie durchstreifen trümmerhaft die Texte und verweisen so auf das Nichtbegriffliche und nichtfunktionalisierbare Lebendige, auf das Poesie immer schon zeigt.
Dabei scheut der „fon elfen eisgekal­tete rebell“ we­der bramarba­sie­rende Rede noch tagespolitischen Kom­mentar oder Publikums­beschimp­fungs­pose. In seinen von beißen­dem Spott durchsetzten Gedichten kultiviert er seine anarchische Ungemüt­lichkeit ge­genüber Mei­nungsmain­stream, Betrof­fenheits­kulti­vierung, Dumpf­deutsche­rei. Die Akzente verschoben sich von gesellschaftsbezogener Sprachkritik zu sprachkritischer wie spielerischer Kapitalismuskritik: „raus aus den verliesen / vergnüglichen sprittisierens / vollschmierens & wortspielens / die unsere bleibe waren; hier ist keine“, heißt es in „SBZ. Gewidmet unseren Mittätern, Verrätern und Vätern“ aus dem Jahre 1998.
Von den nach 2000 veröffentlichten Gedichtsammlungen sei der 2005 veröffentlichte Band „Rumbalotte“ hervorgehoben. Er versammelt im Kern Texte für eine Rockoper, in deren Zentrum die Figur Klaus Störtebeckers steht. Kreuz und quer durch die Epochen folgt der Autor Spuren der Besiegten, geht dabei bis zu den im 9. Jahrhundert einsetzenden Slawenaufständen „gegen deutsche Herrschaftsgelüste“ zurück und durchforstet die osteuropäische Revolutionsgeschichte -„Was oben thront, gehört runtergeholt“ -, um lehrenziehend Ansatzpunkte des Lustvollen, Lebendigen zu finden.
In jüngster Zeit integriert B?rt Elsmann-Papenfuß, wie er sich just nennt, wieder stärker Kombinations- und Permutationsverfahren, wie sie in der Konkreten Poesie geläufig sind, in seine Textproduktion, fast durchgängig etwa in dem 2016 erschienenen Band „Seifensieder“. Hierfür ein signifikantes Beispiel:


Andechs über alles
Im Reichstag brennt Licht, die Melker sind noch wach.
Da kommen die Galane in die Anlage, sie wollen zu Angela,
mit nichts als Pampe in der Mappe, die tellurischen Geistersteiger,
holen sie die Lazerten aus dem Räntzel und bringen sie in die Zentrale.
Jetzt schreitet Onan in den xpaM, er ist unser Anchorman.
Nieder die Diener, hier regieren nur die Negierer und Neider.
Erstens Steinmeier estimieren - nee, dat is nich der Vorsteherkübel,
dat is der Inste-Eimer - ja, genau in die Augen, aber nich so rumsauen,
in der Notlage ist der Ton egal. Zweitens den Münster stürmen,
die Seitensteine kann der Abessin'er abreißen - jeder gute Räuber
ist auch ein Erbauer, jeder Beteiligte kümmert sich um sein Teilgebiet.
Drittens je nach Bank, Tarif und Fabrikant; die Ostsee kriegt der Ossete,
Liberté ist unser Erbteil. Ich kann das Gelaber vorlauter Bälger
und ihrer Ableger nicht mehr hören; dann ist eben unser Bärchen
der Nacherbe, und Rapunzel kriegt ihr Prenzlau - soweit, so schlecht:
Andechser sind Schänder, wollen wir uns noch'n Beckenbauer überbacken?

Bereits die Überschrift liefert einen wichtigen Fingerzeig, wie das Gedicht zu lesen sei. Denn natürlich stolpert der Leser über das das Wort „Andechs“, das laut Lexikon lediglich auf eine oberbayerische Gemeinde in der Nähe des Starnberger Sees verweist, immerhin Wallfahrtsort und berühmt durch ein Benediktinerkloster wie durch eine Biersorte. Zusätzliche Bedeutung wird hingegen generiert, wenn man eine Permutation der Buchstaben durchführt und so das Wort „Schaender“ bildet. Im letzten Vers wird für besonders Begriffsstutzige der Schlüssel– „Andechser sind Schänder“ – gleichsam pur anheimgegeben.
Das Gedicht ist relativ streng gebaut und besteht aus vier Versgruppen zu jeweils vier Verszeilen. Vernachlässigt werden Reim und prosodische Strenge. Durchgehendes Strukturprinzip hingegen ist das Annagrammieren. Die erste Verszeile allerdings hebt erst einmal an mit einem paraphrasierten Weinert-Gedicht-Titel („Im Kreml ist noch Licht“), aber bereits im nächsten Halbvers sind „die Melker“ unschwer zu „die Merkel“ umzustellen. In der zweiten Verszeile wird gleich eine Dreierreihe von Anagrammen – „Galane“ – „Anlage“ – „Angela“ – aufgeführt, desgleichen in der vierten Zeile mit „Lazerten“ – „Räntzel“ – „Zentrale“. Und natürlich bieten Dreierreihen wie „Steinmeier“ – „estimieren“ – „Inste-Eimer“ (Versblock 2) oder „Gelaber“ – „Bälger“ – „Ableger“ (Versblock 4) ein hohes Vergnügungspotential in der Dechiffrierung der Sprachspiele. Bemerkenswerterweise behindert die Anagramm-Dichte keineswegs die Aussageintentionen des Textes jenseits formaler Operationen bzw. kabarettistischer Anflüge auf semantischer Ebene, wenn die Namen der höchsten Staatsrepräsentanten ins Umwortungsspiel gezogen werden. Woran liegt dies?
Zum Beispiel daran, dass Papenfuß geschickt die Permutationsalgorithmen variiert: Im Versblock 3 sind die Sememe „Bank“ und „Tarif“ wohl im Wort „Fabrikant“ enthalten, das somit ihre Bedeutungen einverleibt.
Zum Beispiel daran, dass nicht permutierbare Kompaktmetaphern eingeworfen werden wie „die tellurischen Geistersteiger“.
Zum Beispiel daran, dass semantische Rösselsprünge verbaut werden, die dann über Klanglichkeiten Bedeutungszuwachs erfahren: „Andechs“ schließt über „Lazerten“ in der Übersetzung an „Eidechse“ klanglich an.
Zum Beispiel daran, dass im Gedicht Hochsprache und Slang aufeinander reagieren: Ausgesprochen entlegene Worte wie „Lazerten“ (lat. für „Eidechsen“) oder das Verb „estimieren“ (hochschätzen) stoßen auf Berliner Idiome („nee, dat is nich der Vorsteherkübel“), woraus in der Reibung, wie man übrigens auch in der Lyrik von Thomas Kling beobachten kann, eine krude Poetizität gewonnen werden kann.
Vor allem aber sind die Transpositionen strikt einem Gestus des Zerspielens von Macht-Diskursen zugeordnet. „Liberté ist unser Erbteil“ ist eben mehr als ein Buchstabenspiel, sondern ein Manifestsatz aus dem Reflexionsreservoir des Anarchisten Papenfuß. Und die nachgeordnete Kombination „Bärchen“ – „Nacherbe“ ist aller Niedlichkeit enthoben, wenn der Verweis auf das Berliner Wappentier eben auch in der Verpflichtung auf „Liberté“ Widerstand gegen ahumane Staatspolitik –Stichwort Gentrifizierung – für geboten hält. Denn der darauf folgende anagrammatische Schlenker „Rapunzel kriegt ihr Prenzlau“ verweist auf den Heimatort der scheinbar mächtigsten Rapunzel in diesem Land. Aber das sind Gimmicks. Viel wichtiger ist festzuhalten, dass trotz der augenfälligen Dominanz von Umstellungsverfahren aus dem Arsenal der „Konkreten Poesie“ ein Gleichgewicht hergestellt wird zwischen „Umwortung“ und semantischem Kalkül, eine Umwerfung der unerträglichen Gesellschaftsverhältnisse zu imaginieren, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.


Peter Geist

 

 



Verwendete Literatur:

 

# Bert Papenfuß-Gorek, harm. arkdichtung 77, Berlin (West) 1985, S.7.
# Bert Papenfuß-Gorek, kein befestigtes hochland, in: dreizehntanz, Berlin 1988, S. 121.
# Sprache und Antwort, Stimmen und Texte einer anderen Literatur aus der DDR, hg. von Egmont Hesse, Frankfurt a.M. 1988, S. 220.
# Heinz Ludwig Arnold / Gerhard Wolf (Hg.): Die andere Sprache. Neue DDR?Literatur der 80er Jahre. München 1990, S. 119.
# Bert Papenfuß-Gorek, dreizehntanz, a.a.O., S. 158.
# Volker Braun: Wir befinden uns soweit wohl. Wir sind erst einmal am Ende. Frankfurt a.M. 1998, S. 136.
# Bert Papenfuß-Gorek, NUNFT – FKK / IM – endart – novemberclub, Göttingen 1992, S. 29.
# Bert Papenfuß-Gorek, SBZ, Berlin 1998, S. 11.
# Bert Papenfuß-Gorek, Rumbalotte. Gedichte 1998-2002, mit Zeichnungen von Ronald Lippok. Basel/Weil am Rhein/Wien 2005, S. 60.
# B?rt Elsmann-Papenfuß, Andechs über alles, in: B?rt Elsmann-Papenfuß, Seifensieder, Berlin 2016, S. 69.
# Erich Weinert: Gesammelte Gedichte, Bd. 5, Berlin/Weimar 1975, S. 473.
# Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: Karl Marx/ Friedrich Engels - Werke. Berlin. Band 1. Berlin/DDR. 1976. S. 378-391., hier S. 385.