"verwegene Litaneien"
über Brigitte Oleschinskis Bände "Argo Cargo" und "Geisterströmung"


„First I was afraid,“ sang Gloria Gaynor 1978 in ihrem größten Hit I will survive, „I was petrified.“ Summende Knochen unter dem Bett, argwöhnte Brigitte Oleschinski vor ein paar Jahren in ihrem Essay-Band Reizströme in Aspik. Wie Gedichte denken, könnten ihr Bild von der Dichtung sein. Eine petrifizierte Stimme, zerrissen, verschnipselt, behangen mit Brocken von historischer Schwerkraft. Gloria Gaynors Lied entwickelte sich über die Jahre zur Queer-Hymne, zum traurigen Credo von Schwulen und Lesben. Vor ein paar Jahren dann machte sich die kalifornische Rockband Cake den Song zu eigen und polte ihn auch für einsame Männerherzen um, als musikalisches Identifikationsangebot zum Beispiel für die Zuseher der Verfilmung von Sven Regeners Roman Herr Lehmann, dessen Titelheld nur wenig jünger als Brigitte Oleschinski ist. Doch jetzt kann das Lied mehr.

Die Entwicklung, die Oleschinskis Dichtung genommen hat, ist der Geschichte von I will survive vergleichbar, nur in gegenläufiger Weise. Statt der petrifizierten Stimmen, die aus den beiden ersten Gedichtbänden Mental Heat Control und Your Passport is Not Guilty zirpten, blinkten, diskursfähig und diskursprägend sich in die erste Reihe deutscher Gegenwartslyrik schalteten, soll es nun mit Geisterströmung „mehr Körper, mehr Entschiedenheit, mehr Lust, mehr Intensität“ geben. In allem ist jetzt Atem, alles vibriert, ist warm, in Bewegung und löst seine Konturen, seine Grenzen. Das führt zwangsläufig auf erste und letzte Dinge: „die letzten Wanderer // werden Gedichte sein,“ heißt es gegen Ende von Geisterströmung, „in der weglosen Landschaft / zerfallener Dateien, verwegene Litaneien.“ Ein verborgener Imperativ erwacht hier, der den Anspruch auf ein lyrisches erstes Sprechen vor aller Bedeutung erhebt. Die dichterische Stimme wandert in bester kulturpessimistischer Tradition durch die Trümmer der sinnvernichtenden Zivilisationstechnologien und wird wieder eins mit dem Sinnlichen. Daß zerfallene Dateien sich auch wieder zusammensetzen lassen und vor allem nie ein Ganzes gewesen sind, ist nebensächlich. Verwegen können diese Litaneien nur sein, weil die Vorstellung von der tabula rasa so erregend wirkt. Diese leere Bühne für die verloren gegangene Einheit von Stimme, Körper und Erfahrung liegt natürlich in thrakischen Gefilden, Orpheus kennt den Eingang zum Hades, an ihn halten sich seit je die Dichter, wenn sie von den Toten reden wollen. „Wo also beginnt das alles, wenn Entäußerung der Schlüssel wäre …“ – der Konjunktiv richtet die Frage hier nur nach innen und beantwortet sie sogleich: es ist alles eitel. Der Moment, an dem Theorie als Ballast empfunden werden darf. Und: es ist gleich, von einem gewissen, wenn nicht gar geheimen Grad an sinnlicher Intensität an hat die Unterscheidung von tot und lebendig, außen und innen keine Bedeutung mehr. Außen und Innen scheinen zu verschmelzen, das Ich, das spricht, reduziert sich auf eine durchlässige Membran. Drogen, Schlafentzug bewirken ähnliches.

Um der Einheit von Körper und Stimme willen setzt Brigitte Oleschinski aufs Spiel, was bislang ihre ebenso vorsichtige wie präzise lyrische Sprache an Trümmern von Sinnen und Wissen und Welt ertastet hat. Indonesisches Körpergefühl und bulgarische Töne haben ihr Erfahrungen beschert, in denen innere und äußere Stimme nicht mehr länger den Makel, will sagen: den Riß der Schrift durchs Herz des Sinns ertragen müssen, sondern vereint sind. Metaphysik, scheint es, heißt die Lösung. Nichts mehr petrifiziert, sondern allgegenwärtige Niemandsstimmen und Niemandskörper, ohne Anfang und ohne Ende. Während Gloria Gaynors stolzes, trauriges Liebeslied diverse Geschlechtsumwandlungen durchlaufen hat, um dann durch entschiedene musikalische Gewaltanwendung auf seine wörtliche Schlottergestalt bloßgelegt zu werden, durchläuft Brigitte Oleschinski noch einmal die unendliche Schleife von Logo- und Phonozentrismus, ohne deren gewesener oder möglicher Dekonstruktion große Beachtung zu schenken. Sinnlicher Erkenntnis eine Stimme zu schenken, ist ein alter Traum, oft mit Verboten, Regeln oder schlichten Absenzen bedacht, um der Schriftbarriere irgendwie beizukommen. Auslöser der Sehnsucht und Gegenstand der Klage ist ein Mangel, um den keine Dichtung herumkommt. Ein banaler und ein notwendiger Mangel: dem Geschrieben fehlt das Stimmhafte, die Lautgestalt der mündlichen Rede, und die Rede kommt ohne die Schrift nicht aus. Vermutlich gilt das auch für die von Brigitte Oleschinski beschworene „Wörtlichkeit der Körper.“

Nun ist es nicht so, daß sie darum nicht wüßte. Oder vielmehr weiß ihre Dichtung mehr als die essayistische Metaphysik des parallel entstandenen Bandes Argo Cargo. Das leicht angefetzte Endlosband von Geisterströmung arbeitet die Dekonstruktion Derridas geradezu noch einmal durch. Mit den Niemandsstimmen dann gibt Oleschinski zwar eine andere Losung aus als eine Derridaempirie erwarten lassen könnte. Das immer wieder zu Irritationen fähige Metaphernkalkül der Dichtung allerdings markiert den konstitutiven Riß zwischen Laut und Schriftgestalt, zwischen den Zeichen und den Sinnen überaus deutlich.

Daß all diese Intensitäten nicht bleiben, ihre flüchtige Dauer letztlich auch der ersten Emphase einen Zerrspiegel vorhält, spricht die Geisterströmung auch aus. „Sinnsimulationen“ heißt es wiederholt. Das steht da, als fühlte sich die Stimme, die spricht, „eine Stimme wie Schwefel“ vielleicht, eingeholt von einer Gewißheit, die sie schon hatte zuvor. Von den Tiefenschichten, die ihr Resonanz geben sollen, bringt die Geisterströmung durch den ganzen Band hindurch nur Restechos. Manchmal, nein, eigentlich oft ballt sich alles in einem Wort. In ihrer Rede zum Erich-Fried-Preis, den Brigitte Oleschinski kürzlich erhalten hat, hat sie das an dem Wort „Laubgebäck“ gezeigt. Ein fremder Moment, in dem alles, was nach Sinn schmeckt, nur zerbröselt. Und doch, das Mißtrauen in die „Scheinstimmen“, umgeben von „Trugmotten“, hat etwas von Angstlust. Die Larven dieser Motten fressen sich in die Blätter von Birken und anderen Bäumen, ihre Minen machen schöne Muster und können für ganze Baumarten zur Bedrohung werden. Am Ende scheint es, so viel Abwehr auch versucht wurde – ebenso wie die von Oleschinski in Argo Cargo mehrfach zitierten Linkin Park singen, ganz gleich zu sein. Bleiben also „Schwachstimmen“, „Reibelaute und Kunstkopfklänge, immer verzerrter rückkoppelnde Silbeninvasion.“ Der merkwürdig paradoxe Effekt dieser Ich- und Sinnaustreibunsgströmung, dieser geisterhaften Wortlautvereinigung: Brigitte Oleschinski gelingt eine unmögliche selbstgewisse Ratlosigkeit. Ihr ist vollkommen klar, wie Ichs und Wirs stetig sich aufspalten und es schon gar nicht mehr darum geht, je einen Rest erkennen zu wollen, ihn zu halten, zu begreifen. Je öfter ich nun die Geisterströmung lese, desto mehr zerbricht mir, nein, zerbricht sie, was der lyrischen Sprache immer vorausging und was sie eigentlich weiterträgt: ihre eigene Übersetzung, ihre Übersetzbarkeit. Statt dessen Petrifizierungen, Spaltreste: Losigkeiten – wenn es das gibt.

Guido Graf

Brigitte Oleschinski: Argo Cargo. Wunderhorn 2004; Geisterströmung. Gedichte. Dumont 2004.