„Weich gebogen“ – leicht
gedreht
Mit „spiel · ur · meere“ hat Christian Schloyer eines
der eigentümlichsten Lyrikdebüts der letzten Jahre vorgelegt
Eine kluge Entscheidung von Christian Schloyer, der bereits 2004 mit seinen
Gedichten den Open-Mike-Literaturpreis gewonnen hatte, sich für seinen
ersten Lyrikband Zeit zu lassen. Nun, nachdem er im März 2007 auch den
Leonce-und-Lena-Preis erhielt, ist im jungen, renommierten Kookbooks Verlag
sein Debüt „spiel · ur · meere“ erschienen. Schloyer,
der 1976 in Erlangen geboren ist und als freier Schriftsteller, Literaturveranstalter
und Texter mit seiner Familie in Nürnberg lebt, verweist bereits mit dem
Titel auf jene Inhalte und Techniken, mit denen er in den Gedichten arbeitet.
So verrät der hoch gesetzte Punkt, eine Eigenheit Stefan Georges, was sich
bei der Lektüre der Gedichte bestätigt: Schloyer gehört zu jener
jungen Generation von Lyrikern, die sich bestens mit dem Instrumentarium ihrer
Vorgänger, mit Lyriktheorie und -geschichte auskennen. Somit ist die Gegenwartslyrik
eine Lyrik der Synthese: verschiedene Verfahren der vergangenen Jahrhunderte
werden aufgegriffen und neu angewendet – und in vielen Fällen führt
das zu interessanten Resultaten.
Schloyer setzt neben dem hoch gesetzten Punkt (·) häufig den Gedankenstrich
(–) und statt des Worts Und das Pluszeichen (+) oder das kaufmännische
Und (&). Somit werden nicht nur die verschiedenen Bedeutungen von Und herausgeschält,
das Gedicht selbst wird zu etwas Visuellem, Gegenständlichem, etwas, das
zwischen Bild, dem Abbild einer komplizierten Rechnung und einer aus einem Baukasten
gefertigten, sich bewegenden Maschine changiert: die Wörter und Zeilen
drehen und verschieben sich, Wörter werden addiert, subtrahiert, multipliziert
und dividiert – denn auch der Schrägstrich (/) kommt vor. Sogar das
„ur“ im Titel bildet, aus der Ferne betrachtet, einen Punkt, genauer:
einen Drehpunkt, um den „spiel“ und „meere“ kreisen
– vielleicht wie die Zeiger einer Uhr.
Jedes Gedicht bildet jenen Kosmos von sich scheinbar bewegenden Teilchen, von
dem im Gedicht selbst auch die Rede ist. Denn während das Wort „spiel“
im Titel ein solches Bewegungsspiel verspricht, verweist „meere“
auf Inhaltliches: Schloyer schreibt über die Natur oder besser: in der
Natur. Die Natur, zu der auch eine Stadt gehören kann, ist der Kosmos,
grenzenlos, wild, funkelnd, tief – und das lyrische Ich ist mittendrin.
Die Suche nach Wirklichkeit findet hier nicht mehr auf jenem Terrain statt,
das für die Mehrheit der Menschen die Realität ist, also dem einfach
erfassbaren, mittelbaren Lebensalltag, sondern in unmittelbaren Empfindungen,
Wünschen oder anderen Fiktionen. Das zeigt sich nicht zuletzt an den zahlreichen
Bildgedichten, die direkten Bezug auf Bilder von unter anderem Tizian („Der
Tod des Aktäon“), Claude Monet („Die Stufen in Vétheuil“)
oder Paul Gauguin („Nave Nave Fenua“) nehmen: ein Gedicht verweist
auf ein Bild; Fiktion verweist auf Fiktion.
In einem der gelungensten Gedichte ordnet ein lyrisches Ich den Wörtern
neue Namen zu („mund dieses wort / nenne ich mond / dieses wort benenne
ich lippe das papier / brennt der schlüssel brennt du / brennst ich brenne);
versucht ihnen Namen zu geben, bevor sie verbrennen, doch das Sprechen wird
immer schwieriger, letzendlich wird eine Frau als „brennendes wort“
bezeichnet: was wie Sprachphilosophie daherkommt, entpuppt sich als Liebesgedicht
– und ist wohl beides.
Welche Wörter verwendet Schloyer? Beispielsweise: Kopffüßer,
Lid, Nacht, Schleuse, All, Öl, Körper, Sterne, Kräuseln, Kreise,
Flughund, rücklings. Nicht nur die Wortwahl, auch Assoziationen und zahlreiche
Vergleiche und Metaphern zeigen hier offenkundig ein lyrisches Ich, welches
Gefühlen, Wünschen und dem Unerreichbaren eine hohe Wichtigkeit gibt.
Spricht hier ein Romantiker? Nicht unbedingt: Der Einsatz der oben genannten
Zeichen und die eine oder andere Formulierung, der Hang zum Spiel, zu Bildern,
zum Vergeben von Namen oder Gegenständen zeigen eine verträumte Kindlichkeit,
die bei gleichzeitiger nüchterner Erwachsenheit einen Widerspruch erzeugt,
der allzu Verträumtes oder Romantisches verhindert. Bei scheinbar Harmlosem
gehen plötzlich Abgründe auf.
Christian Schloyer fährt viel auf, um Wirkung zu erzeugen. Die Ökonomie
der Mittel bildet dabei nicht immer ein sinnvolles Verhältnis zwischen
Aufwand und Ertrag, gerade beim Einsatz von Vergleich und Metapher. Es liegt
in der Natur der beiden, dass sie vom Gegenstand, über den verhandelt wird,
wegführen, indem sie ihn mit einem ähnlichen (aber anderen!) Gegenstand
vergleichen oder gleichsetzen. Das Wörtchen „wie“ – nach
Gottfried Benn ein Bruch der Fiktion – und zu viele Abstrakta führen
meistens geradewegs in die Ungenauigkeit: „jeder blick auf die sorgsam
gedimmte / fotografie ist wie ein abblättern unhintergehbarer / berührung“.
Dieses ist wie jenes – wers glaubt, wird selig.
Alles in allem bietet dieses Lyrikdebüt jedoch weit mehr als genug für
eine wiederholte Lektüre, für längere und sich lohnende Auseinandersetzungen.
Die Gedichte sind hier nichts als sie selbst, und somit verbrauchen sie sich
auch bei mehrmaligem Lesen nicht. Die berührendsten Gedichte sind jedoch
jene, die auch durch ihre Einfachheit bestechen, wie das drittletzte Gedicht
des Bandes mit dem Titel „rippe“ zeigt: „wann immer ich /
nicht weiter / weiß beginne ich / nicht weiter weiß wann / immer
ich / mein krückenspiel, wann immer / ich mein krückenspiel / beginne
– ich nicht weiter weiß – / bin ich wie weißer / knochen
/ aus arm + bein gebogen beginne ich / mein krückenspiel aus rückgrat
ich / nicht weiter weiß aus rückgrat / weich gebogen – / wann
immer ich nicht weiter / weich beginne ich zu / brechen“. Diese „Rippe“
hat alle Chancen, nicht wieder vergessen zu werden.
Roman Graf
Christian Schloyer: spiel · ur · meere. Gedichte. Kookbooks Verlag,
Idstein 2007