SEHEN UND SCHWEIGEN
Andreas Altmanns Archäologie der Sinnlichkeit
Es gibt Bücher, die einen in eine schwer erklärbare Unruhe versetzen
können. Beim Lesen von Franz Kafkas „Betrachtung“ mußte
ich dieses Buch zuweilen aus der Hand legen, als könnte es mich verbrennen.
Nach der Lektüre von Joseph Roths „Rebellion“ war ich geradezu
schmerzhaft wach und versucht, über einen längeren Spaziergang Ruhe
und Klarheit zurückzugewinnen. Ähnlich erging es mir mit Samuel Becketts
„Molloy“. Allein, es gelang mir nicht. Die Gedanken zirkulierten
unaufhaltsam weiter. Immer war es die Sprache, die dieses bewirkte. Ich sage
dies, weil es mir soeben ähnlich ging: beim Lesen von Andreas Altmanns
neuem Gedichtband „das langsame ende des schnees“. Es ist,
als wären diese Gedichte Katalysatoren für mein Denken, als würde
ich hineingezogen in Möglichkeiten, mich selbst zu hinterfragen, und hineingeleitet
in eine nervöse Neugier, die mir kostbar erscheinen will und die ich gar
nicht restlos aufklären möchte.
Der Gedichtband ist durchkomponiert, was die Wirkung der Gedichte steigert.
Über acht Kapitel hin empfindet man den Aufbau einer sich steigernden Aufmerksamkeit.
Zunächst stellt sich der Eindruck ein, an einer Art Expedition teilzunehmen,
zum x-ten Mal auf der Suche nach der verlorenen Zeit zu sein. Altmann rekonstruiert
frühe Erinnerungen. Er betreibt geradezu eine Archäologie der Sinnlichkeit
im kantischen Sinne. Der Verstand ordnet und formt rückschauend das sinnlich
gegebene Material mit den reinen Anschauungsformen Raum und Zeit. Altmann versucht
mit den „ersten Augen“ zu sehen, er mißt das Gewicht
der Worte und des Schweigens jener Zeit, in der die „augen noch zu
hastig auf den dingen ruhten“ und extrapoliert das Ergebnis ins Heute.
Einer seiner Befunde lautet: „jedes wort nahm abstand von mir.“
Ein anderer: „träume,/ aus denen wir nicht erwachen,/ schlagen
die augen auf, lassen uns/ sehen woran das Gedächtnis erblindet.“
Ein weiterer: „nichts, was du siehst, braucht deine augen“.
In diesem Band findet sich keine Naturlyrik, auch wenn auf dieser Expedition
reichlich Naturmetaphorik bemüht wird. Der Titel „das langsame
ende des schnees“ ist eher Ausdruck einer Metaphorik der Vergänglichkeit,
die den Band zugleich strukturiert. In diesen Kontext ordnen sich die Naturmetaphern
ein: „... die spur deiner geschichte/ sinkt von jahr zu jahr tiefer/
in den schnee. die winter sind milder/ geworden, und untreu die worte,/ mit
denen dein gedächtnis dir folgt.“
„Der schnee beginnt in den augen … du mußt dich entscheiden“,
heißt es im Gedicht „vorrat“: „du mußt
dich entscheiden …, welche wege du aufstellst fürs gehen“.
– Das erinnert an Rilkes Imperativ aus dem „Archaische(n) Torso
Apollos“: „… da ist keine Stelle, die dich nicht sieht./ Du
mußt dein Leben ändern“. – Altmanns Gedichte thematisieren
die Ernsthaftigkeit des Lebens, die Notwendigkeit der Orientierung in einer
Zeit, in der selbst das Schweigen „geschwätzig wird“. „Ich
schreibe Gedichte, um mich in der Wirklichkeit zu orientieren“, sagte
Günter Eich einmal. Andreas Altmann könnte wohl Ähnliches von
sich sagen.
Ein wesentlicher Teil der Gedichte thematisiert den für den Dichter existentiellen
Zusammenhang von Dichtung und Sprache. Die „Augen der Worte“
sind auf ihn gerichtet. „Du stehst auf der seite der wörter,/
die dich erzählen“, heißt es im Gedicht „aus
dem staub“, und, mit Bezug auf Hugo von Hofmannsthals berühmten
Lord-Chandos-Brief, „andere sind begraben/ oder faulen im mund“.
Ein weiteres Merkmal des Gedichtbandes – und vielleicht die Ursache für
meine kostbare Unruhe –: Andreas Altmann sucht Entsprechungen für
das Unsagbare zu finden, weiß aber zugleich von der – wie es René
Char einmal ausgedrückt hat – „Notwendigkeit, die wesentlichen
Schatten zu bewahren“. Wie Joseph Roth, der das Schweigen mit der
Rekonstruktion einer versunkenen Welt überschrieb, wie Franz Kafka, der
das Schweigen mit Parabeln anrief, wie Samuel Beckett, der das Schweigen mit
einem unaufhaltsamen Wortemachen grell beleuchtete, versucht auch Andreas Altmann
mit seiner Archäologie der Sinnlichkeit dem zu bewahrenden Schweigen eine
poetische Entsprechung zu geben.
Axel Helbig
Andreas Altmann: „das langsame ende des schnees“, Gedichte, Rimbaud
Verlag, Aachen 2005.