Junky, Prophet und großer Dichter
Wäre einer nicht geneigt, den Poeten David Lerner als „Prophet“
und „Rebell“, letztlich sogar als potentiellen Weltveränderer
zu bezeichnen, wie es Bruce Isaacson in seinem Vorwort zum ersten ins Deutsche
übersetzten Buch Lerners mühelos und ohne Angst vor falschem Pathos
vollbringt, der käme zumindest nicht um das Zugeständnis herum, dass
hier eine Poesie und mit ihr ein Dichter vorliegen, die wie aus dem Nichts Universalität
und partikulares Schicksal in eins fallen lassen.
Doch von vorne. David Lerner wurde am 23. November 1951 in New York geboren.
Zu Lebzeiten veröffentlichte er ganze vier Gedichtbände, beginnend
mit dem heute noch aufwühlenden „I want a new gun“; zudem ein
paar Songs und hellsichtige Aufsätze. Dieser Lerner schlug sich im Leben
mehr schlecht als recht, immer in der Schwebe zwischen polyglott-analytischem
Genius und abgefuckter Hinterhofexistenz. Allerdings machte das Lernersche poetische
Idiom ans Sensationelle grenzende Gedichte möglich. Nachzulesen sind diese
Gedichte nun in einer von Ron Winkler besorgten Übersetzung ins Deutsche,
samt der englischen Ausgangstexte. Freund Isaacson betont, dass auch einer wie
Lerner, dem wir möglicherweise nicht ungern auf Grund der an ihm hängenden
Klischees nachforschen werden, das „Recht“ hat, „am Besten
gemessen zu werden.“
Und tatsächlich scheint unter dem Mantel desjenigen, der Literaturbetrieb
und Feuilleton sowie all ihre manieristischen Daseinsformen am liebsten in einem
„kirschroten Mercedes Benz mitten in die Hölle“ gefahren hätte,
etwas hervor, das sich möglicherweise zum Ausgereiftesten und Berührendsten
zählen lässt, das die amerikanische Lyrik überhaupt hervorgebracht
hat.
Lerner und seine Gedichte schreien los, ohne ausschließlich wütend
zu sein. Vielmehr lässt sich die Notwendigkeit des Losschreiens völlig
neu entdecken, zugleich die historische Notwendigkeit des inszenierten, poetisierten
Selbstmords: „die künftige aufgabe der sprache / ist / einen kirschroten
Mercedes Benz / mitten in die hölle zu fahren / und eine wette auf gott
abzuschließen.“ Der Selbstmord manifestiert sich prima vista als
Aufgabenfeld der Sprache, denn die Biographie Lerners ist zwar von Drogen, Armut
und Bierbäuchigkeit durchsetzt, aber leben, „schön leben“,
das wollte er schon.
Was freilich nur selten gelang. Existenzielle Nöte werden, wenn nicht Urgrund,
so doch zumindest Auslöser für Verse wie diese gewesen sein: „Satan
ist ein busbahnhof // Satan ist ein kaltes spiegelei / auf einem wegwerfteller
/ neben einer tasse mit fadem kaffee / während das telefon klingelt.“
Die Satan-Metapher dient hier nur als plakativer Hintergrund einer Zivilisationskritik,
die ohne große Gesten auskommt und wunderbar privat das ganz allgemeine
Dilemma der Menschheit verhandelt. Satan begegnet uns eher in der willenlosen
Hinnahme des Übels als in dessen Produktion: „Satan ist jenes dünne
lächeln des / bankangestellten, wenn / er dir mitteilt, dass dein konto
überzogen ist / oder das strahlende / auf dem gesicht des engelchens im
blauen dress / im fernsehen / das dir ein angebot macht, das du kaum glauben
magst / zu unwiderstehlichen konditionen.“
Ganz deutlich ist Lerner auch jemand, der die Auswüchse des Medienzeitalters
nicht ignorieren kann und mit diesen in gekonnter Offensichtlichkeit jongliert.
Selbst der weißen amerikanischen Unterschicht angehörend, kennt er
die fein dosierten und süchtig machenden Gifte der längst global agierenden
Mogule, denen egal ist, „wenn dir jeder teil deines körpers weh tut
… / wenn sich das, was du hinter dir hast / in der art zeigt / wie du
lachst.“
Früh schon, in den sechziger Jahren, schloss sich Lerner der Fort Hill
Company an, einer Gruppe von Musikern und anderen Künstlern, die sich seiner
auch dann annahmen, wenn es wieder einmal übel aussah mit dem großen
David Lerner – den sein langjähriger Freund und Wegbegleiter Isaacson
als „voller Gegensätze“ beschrieb: „Kind und Monster,
Großkotz und Kumpel, Prinz und Bettler“.
Ihm lag daran, die „lyrik berühmt zu machen“, Poesie war ihm
das einzige, was einer angeschlagenen Weltgeschichte noch zu helfen vermochte.
Dass das Gedicht, welches diesen Willen besonders präzise bezeichnet, den
Titel „MEIN KAMPF“ trägt, ist nur noch bezeichnender für
das unmäßig große Herz, all den Enthusiasmus, mit dem Lerner,
vielleicht manchmal dem eigenen naiven Allmachtsglauben erliegend, diese Aufgabe
anging. Allerdings sollte Versen oder Titelzeilen dieser Art aus einer europäischen
Perspektive durchaus auch mit Vorsicht (z.B. bei der Anwendung kultureigener
Lesarten) begegnet werden. Gerade der „Mein Kampf“-Topos stellt
hier ein nicht unheikles Beispiel dar. Bei Lerner findet sich die Angewohnheit,
aus jeder denkbaren Perspektive heraus vor allem immer das Establishment zu
sehen, dem er seinen "Kampf" widmet und dies nicht selten über
bewusst plakative Momente in seinen Texten auch herauskehrt. Dieses plakative
Verfahren geht schließlich so weit, dass auch Phrasen wie "Mein Kampf"
ihren ursprünglichen Kontexten entrissen und im Lernerschen Sinne einer
aufmerksamkeitssteigernden Bildlichkeit verwertet werden. Diese Bildlichkeit
arbeitet sehr stark mit etymologischen Oberflächen, doch das Oberflächliche
selbst erhält im Gedicht einen den ursprünglichen Sinn gern entstellenden
Nutzen. Auch das macht die Hypersensibilität dieses Dichters aus: genau
zu wissen, wann und wo sich die Bedeutungen verschieben und wie diese Verschiebungen
für Gedichte nützlich zu machen sind.
Ein bißchen erinnert Lerner – unfreiwillig – hier auch an
Brecht und dessen Funktionalisierung von Sprache. Auch das Übergewicht
einer gesellschaftlich-ethischen Funktion der Dichtung gegenüber der ästhetischen
ist überdeutlich. Und dennoch ist er eben kein teleologisch denkender Europäer
der Moderne, sondern jemand, der all die Verfallssymptome der durchrationalisierten
Warenwelt schon am eigenen Leib erfahren hat, um aber gerade aus den durch sie
herbeigeführten inneren wie äußeren Schmerzen neue Energie zu
gewinnen.
Und diese Energie nutzt Lerner konsequent, um sich weiterhin zu wehren, um sich
abzukehren vom hirnlosen Mainstream, um seinen Traum von der radikal weltverändernden
Poesie doch noch zu verwirklichen. Denn hier schreibt kein einseitig Nörgelnder,
sondern ein Dialektiker, und dass er dabei auch noch sehr sinnlich ist, gerät
nicht zu seinem Nachteil.
Nach Lerners Tod fanden sich in seinem Appartement "tausende Seiten faszinierenden,
bisher unpublizierten Materials", welches dank immer schon fürsorglicher
Freunde erhalten blieb und, so bleibt nur zu hoffen, in den kommenden Jahren
ein ausgiebiger Fundus für Forscher, Übersetzer und Verleger sein
wird.
Die Übersetzung Ron Winklers, das soll hier noch angemerkt sein, ist eine
sehr feine. Fragen ließe sich, ob bestimmte Begriffe wie "cappuccino"
(bei Lerner deutlich negativ konnotiert, als ekelhaft modische Erscheinung)
im Deutschen mit "latte macchiato" übersetzt werden müssen.
Das wirkt zunächst gekünstelt und scheint so überhaupt nicht
der Lernerschen Antimodediktion zu entsprechen. Doch wer genau hinschaut, sieht,
das Lerner seine Begriffe und Metaphern gern als Abgrenzungsobjekte verwendet,
und so macht Winklers Verwendung typisch deutscher (oder europäischer)
Äquivalente großen Sinn, regen uns schließlich Cappuccinotrinker
nicht so sehr auf wie Konsumenten des modischen und landläufigen Latte
macchiato.
Marius Hulpe
David Lerner. Die anmutige Kurve eines Marschflugkörpers.
Ausgewählte Gedichte. Aus dem Amerikanischen von Ron Winkler. Poetenladen
2008