Du hast dich durch Räume bewegt
Über Lars Reyers Lyrik
Gedichte bestehen aus Worten. Aber nur, wer mit ihnen bewußt und mit Kunst
umgeht, ist in der Lage, sie so zu setzen, daß sich aus wenigen Worten
ein Film entrollt, in dem jede Szene die vergehende Zeit spüren läßt.
Ich kenne kaum einen Lyriker der jungen Generation, dem das so gut und so oft
gelingt wie Lars Reyer. Gewundert hat mich immer, wie alt die gelebte Zeit ist,
die seine Gedichte anschleppen. Beeindruckt hat mich zuerst sein langes Gedicht
„Ableitungen“, das 2002 entstand und in dem er eine vorläufige
Lebensreise skizziert, die in ländlich-industrieller Umgebung im Osten
Deutschlands beginnt und über einen – das ist deutlich erkennbar
– ungeliebten Zwischenhalt im kleinbürgerlichen Westfalen wieder
zurück in den Osten führt, nach Leipzig, den Studienort. Folgt man
den Bildern dieses Gedichts, hat man allerdings den Eindruck, daß hier
mindestens 100 Jahre Leben verhandelt werden, nicht die 25 Lenze, die der Dichter
zählte, als er sein Gedicht schrieb: „Stets schürfst du / mit
deinen Schritten im tieferen Schlamm, / in dich strömt – dies ist
der osmotische Gang / der Geschichte - /Altertum ein. Familiengebein. / Du bist
in den Sedimenten / der Sippe verkeilt / welches der Worte du sprichst –“
Das sind starke Worte, und alles, was sie behaupten, lösen sie auch ein.
Kaum ein Lyriker dieser Generation mit einem solchen Gefühl für Geschichte;
keiner, der den Gedanken einer Sippe an mich herantrüge. Kaum ein junger
Autor aus dem Osten Deutschlands, der es mir in ähnlicher Weise möglich
machte, mir ein Aufwachsen dort vorzustellen. Es mag an seinem innigen Verhältnis
zur lyrischen Ahnenforschung, seinem Standhalten vor den Gräbern liegen,
das in Gedichten wie „Vor Zeiten“, „Totensonntag“ und
„Späte Kopie“ eindrucksvoll zum Tragen kommt. Alles kommt von
weit her, ist mit Ernst und wachem Sinn erarbeitet. „Du leitest dich ab
von vielen Funktionsträgern: Bahntrassentreibern, Sektions-Assistenten“
– es ist kein Abkömmling von Bildungsbürgern, der hier schreibt,
sondern einer, der die ererbte Sprachlosigkeit erst durchbrechen muß;
ein Aufwachsen im Schatten der Schwerindustrie wird hier, bei diesem Abkömmling
der Sippe, erstmals Poesie, fernab vom Bitterfelder Weg: „& der Geruch
/ von Stahl hing in den Haaren / deines Vaters selbst an den Wochenenden, die
Härterei / ging aus ihnen nicht raus, es half nicht Florena, / nicht Kernseife,
nicht Eigelb mit Bier.“ Ich kann ihn jetzt riechen, diesen Stahl. Ich
halte jetzt meine Hände unter Wasser und versuche sie statt mit Florena
mit Ata sauber zu kriegen, das es im Osten wie im Westen gab.
„Du hast dich durch Räume bewegt.“ Ich lese Reyer und bin auf
dem Feld, auf dem Hof, im Abraum. Welchen der Steine du hebst –
die Eingangsformel aus „Ableitungen“ ist Celan entlehnt, aber für
mich ist sie inzwischen ganz in den Fundus von Reyer eingegangen. Was er literarisch
anrührt, klingt bald nach ihm, getreu der Maxime von Eliot, nach der ein
neuer Dichter dort am stärksten er selbst ist, wo er seinen Vorläufern
am meisten ähnelt. „Du hast dich noch nie mit Steinen beschäftigt“,
„die Härterei ging nicht ab von ihm“, und nochmals: „du
hast dich durch Räume bewegt“ – Verse, Bruchstücke aus
dem Gedicht, die mir oft nachgehen, wenn ich mich durch die Straßen meiner
Stadt bewege, die jetzt Berlin heißt und damals Leipzig oder Köln,
als ich das Gedicht zum erstenmal las. Es ist eines der wenigen in diesem Jahrtausend
geschriebenen Gedichte, von dem ich weiß, daß ich mich immer daran
erinnern werde.
So, wie ich oft in Treppenhäusern an Lars Reyers Gedichte denke, und es
vergeht ja kaum ein Tag ohne Aufenthalt in einem Treppenhaus. Abblätternder
Kalk, staubige Stufen, Essensgerüche, Kellertüren, knackendes Holz:
all das kann jeder sehen, aber es so zu schildern, daß ich selber dort
bin, kann nur ein Dichter. „Treppenhausheilige“ heißt eines
dieser Gedichte, die den Eindruck erwecken, als wären manche Räume
erst dafür geschaffen worden, um von ihm empfunden und in Worte gefaßt
zu werden. Interessant ist, daß Treppenhäuser in Reyers Gedichten
häufig, das Interieur einer Wohnung oder eines Schreibzimmers dagegen so
gut wie nie vorkommen. Es sind also öffentliche Räume, die er beschreibt,
oder aber Interieurs einer Großfamilie aus vergangener Zeit, die stärker
durch kollektive Bilder als durch private Eindrücke geprägt sind.
Aber es gelingt diesen Gedichten, diese für alle zugänglichen Räume
so mit Gefühl zu füllen, daß ich mich darin als Einmaliger erleben
kann. Die Du-Ansprache der Gedichte, wenn sie auch maskierter Monolog ist, lädt
dazu ein. Das Treppenhaus ist über seinen funktionalen Sinn hinausgehoben,
Treppenhäuser sind jetzt Hallen der Dichtung. Reyer bevorzugt eine treppenförmige
Anordnung, er ist fasziniert von der Möglichkeit des Einrückens, Vorrückens
der Zeilen, man kennt dieses Druckbild von Hölderlin und Gerard Manley
Hopkins, aber bei Reyer hat es einen ganz eigenen, konkret räumlichen Sinn,
es ist, als könnten sich die Zeilen umdrehen auf dem Papier, eine Wendeltreppe
bilden, die Zeit einkreisen, die mit ihnen vergeht. Es ist mir auch schlecht
möglich, an Klärschlamm zu denken, ohne ihn als Wort aus Lars Reyers
Gedicht aufzufassen, so wenig wie ich durch Leipzig fahren und die überirdisch
geführten Rohre der Fernwärmeleitung sehen kann, ohne zu denken, daß
dort das Textadersystem der Gedichte Reyers sichtbar wird.
Textadern: Auch Kling hat Reyer in sich aufgenommen, man nehme nur „Catalca“,
den poetologischen Zyklus in seinem Gedichtband „Der lange Fußmarsch
durch die Stadt bei Nacht“ , der dem Titelgedicht als sprachreflexive
Exegese auf dem Fuße folgt. Diese Markierung ist wichtig, sie belegt,
daß es ein Mißverständnis wäre, das Erzählerische
in der Lyrik Reyers als Selbstzweck zu verstehen. Nicht das Erzählen dehnt
sich aus zu Lasten der Lyrik, sondern das Gedicht gewinnt Terrain, indem es
die Erschließung der erlebten und der erinnerten Welt neu zum Projekt
macht. Mit seiner angebrachten Skepsis gegenüber der konstruierten Metapher,
seiner Abstinenz von den Effekten des Surrealen, die in letzter Zeit wieder
Konjunktur haben in der jüngeren Lyrik, setzt er seine Gedichte dem notwendigen
Risiko der Überprüfbarkeit aus. Sie kommen prima ohne Alpen und Meer
über die Runden, die Parthe ist ihr Styx. Ohne je die formale Balance zu
verlieren, ohne je aus der bewußten Komposition herauszufallen, binden
sich diese Gedichte freiwillig an die außersprachliche Wirklichkeit, immer
in dem Bewußtsein, daß diese nur in der Sprache bedacht und betrachtet
werden kann. Und man überhöre bei allem vermeintlich nüchternen
Sagen nicht ihren hellen Gesang, der nur vom Raucherhusten gedimmt wird: Wenn
in „Ausrufung der Arten“ eine Nachtigall singt, ist es dieselbe
Art, die John Keats singen hörte, allerdings wahrgenommen mit den angegriffenen
Ohren des 21. Jahrhunderts.
Reyers Projekt läßt sich als eigenständiger Anschluß an
vergleichbare lyrische Projekte bei Jürgen Becker oder Lutz Seiler verstehen;
als subjektive Erzählung einer strukturell aus den Fugen geratenen Welt,
die das Gedicht und seine fragmentarischen Darstellungsmodi braucht, um uns
nicht aus der Hand zu gleiten. Als ich Ende der achtziger Jahre „Grauzone
morgens“ las, den ersten Band von Durs Grünbein, konnte ich vor mir
das unbekannte graue Dresden aufgehen sehen. Welche Beschädigung der Bau
der Nord-Süd-Fahrt in Köln in den siebziger Jahren bedeutete, kann
man an Texten Jürgen Beckers ablesen; wie sich der Uranabbau im Osten Thüringens
in die kollektive Psyche einsenkte, lernen wir bei Lutz Seiler; welche leise
bestürzende Depression vom heutigen Leipzig ausgeht, wo es nach verebbtem
Baustellenlärm so still bleibt wie in einem Tagebau nach Feierabend, das
zu zeigen ist unter anderem die Leistung der Gedichte von Lars Reyer. Nicht,
weil hier laufend Topographie zitiert würde: Es ist vielmehr jenes untrügliche
Gefühl für die physische Welt, das diese Gedichte auszeichnet. Indem
sie sich neu auf die Phänomenologie des Sichtbaren einlassen, erhalten
und erweitern sie unsere Fähigkeit, auf unseren Wegen überhaupt etwas
zu denken und zu spüren: welchen der Schritte du gehst.
Norbert Hummelt