Jedes Buch ein neuer Aufbruch
„Die Haut ist müde, die Luft wie Staub, / der Sommertag taub“,
beginnt eines der 5-Minuten-Notate in Elke Erbs neuem Buch „Sonanz“,
verfasst am 20. August 2003; ein Notat unter mehreren hundert. Die Haut mag
wohl müde sein, der Kopf der Dichterin ist hellwach wie immer - und ein
Buch wie dieses hat sie noch nie geschrieben, ein solches Buch gab es noch nie.
„Es begann aus dem Nichts mit keiner Überschrift, nur dem Datum“,
beschreibt sie ihre seit 2002 erprobte Weise, in einem mit der Armbanduhr gestoppten
Zeitraum von exakt fünf Minuten Sätze zu Papier zu bringen, eine spontane
Poesie zu erzeugen, die bleiben sollte. Eine Annäherung an die Écriture
automatique der Surrealisten? Das Wunder ist, dass den so entstandenen Texten
nichts Erratisches anhaftet, vielmehr sind sie ausgesprochen klar, klingend,
zugänglich. Auffallend häufig stellen sich Reime, Halbreime, Assonanzen
ein, elementare Formen der Lyrik, um die Elke Erb sonst gern ein großen
Bogen macht.
Denn nur eines lässt sich über ihre Literatur mit Sicherheit sagen:
Sie hielt sich niemals an vorgängige sprachliche Muster, so wenig, wie
sie je irgendwelchen Denkschablonen verfiel. Mit Kurzprosa begann sie, und bis
heute ist die Grenze zwischen der Tagebucheintragung und dem poetischen Text
fließend. Jedes Buch ist ein neuer Aufbruch, eine Überprüfung
der bisher gekannten Möglichkeiten des Schreibens, Sehens, Denkens. „Prozessuales
Schreiben“ hat Elke Erb, für die das Etikett Lyrikerin eher ein Hilfsbegriff
ist, selbst die anspruchsvolle Kunst genannt, in der sie ihre höchst eigene
Wahrnehmungsweise in Texte überführt. „Texte von Elke Erb haben
immer etwas Unbedingtes, das uns herausfordert“, schrieb Gerhard Wolf
im Vorwort zu dem Band „Vexierbild“ von 1983.
Mit einer solchen Radikalität des Hinterfragens geht selbstverständlich
ein Verzicht auf die Segnungen des Marktes einher, auch die großen Feuilleton-Debatten
über DDR-Literatur gingen nicht auf Elke Erb ein, die weder eine „Kassandra“
geschrieben noch durch Ausreise nach der Biermann-Ausbürgerung auf sich
aufmerksam gemacht hatte. Dafür hat sie ihre Wirksamkeit von jeher auf
den Kreis der Eingeweihten, der jungen Dichter, die sich an ihrer sprachgewordenen
Widerständigkeit ein Beispiel suchten.
1985 gab sie mit Sascha Anderson die Anthologie „Berührung ist nur
eine Randerscheinung“ heraus, die die avantgardistische Literatur des
Prenzlauer Bergs erstmals im Westen bekannt machte. Zur gleichen Zeit wirkte
sie auch auf Autoren, die erst später zum Schreiben kamen. Für Jan
Kuhlbrodt, der in Leipzig die Zeitschrift EDIT herausgibt, war „Vexierbild“
ein Erweckungserlebnis: „Die Texte stellten stets aufs Neue eine Unvoreingenommenheit
in mir her, und das wollte in der von Gewissheiten überschütteten
DDR-Kultur etwas heißen. Sie waren frisch, und ihre Ecken waren alles
andere als klassisch rund. Es waren Sprachinseln, Wachstumsinseln.“
Aufgewachsen ist die wohl bedeutendste Dichterin des deutschen Ostens in der
Eifel, in Scherbach, das heute zu Rheinbach gehört. Bis zu ihrem elften
Lebensjahr wohnte sie in ländlicher Umgebung, mit Hühnern, die der
Fuchs holte, erlebte Heuernten in Sommern, die sich tief einprägten, während
der Vater im Krieg war, nachlesbar in den frühen „Eifel-Erinnerungen“.
1949 ging sie mit der Mutter nach Halle / Saale, wo der Vater Arbeit hatte.
In einem Gespräch mit Gregor Laschen zum Huchel-Preis 1988 (für den
Band „Kastanienallee“) beschrieb Erb den Schritt in den Osten so:
„Ich bin in den Überbau hineingegangen, als ob es mein Heimatboden
sei, und es kam jetzt darauf an, in diesem Überbau, auf diesem Kopfboden
zu leben.“ Das ging nur mit gewappnetem Intellekt. Im Germanistikstudium
fühlte sie sich nicht wohl, versuchte es mit Psychologie, arbeitete als
Lektorin und entschloss sich 1966 für die Laufbahn der freien Schriftstellerin,
ohne dass schon eine Zeile von ihr gedruckt war. Erich Arendt erkannte ihr Talent,
sie fand Anschluss im Kreis der damals jungen DDR-Dichter wie Karl Mickel und
Heinz Czechowski; aus der Ehe mit dem Kollegen Adolf Endler ging ein Sohn hervor.
1975 erschien ihr erstes Buch „Gutachten“ mit einem Vorwort von
Sarah Kirsch. Früh begann sie mit Übersetzungen aus dem Russischen,
eine der staatlich erlaubten Formen, den Kopf herauszustecken.
Seit zehn Jahren erscheint ihr Werk nun im Verlag des Schweizer Herausgebers
Urs Engeler. Bücher, die man kaum je von Anfang bis Ende liest, in denen
man aber täglich blättern kann wie in einem Brevier, und dann macht
man seine Funde. Es gehört zu den Geheimnissen ihrer Kunst, dass sich die
unausgesetzte Reflexion, die Beobachtung der Welt, des Schreibens und des Beobachtens
selbst, immer neu rückbindet an die Erfahrung des Ursprünglichen.
Die Heuernten in der Eifel kehren subkutan als Erinnerungsschübe wieder,
geben neue Impulse, ein Antidot zur urbanen Existenz im Häusermeer. Denn
seit vielen Jahren verbringt die im Wedding wohnhafte Autorin ihre Sommer in
Wuischke, einem abgelegenen Dorf in der Oberlausitz, im sorbischen Sprachgebiet.
„Die Haut ist müde, die Luft wie Staub.“ Heute feiert Elke
Erb in Berlin ihren siebzigsten Geburtstag.
Norbert Hummelt