Konzept und Biographie
Gedichte von Nico Bleutge, ein Buch von Oswald Egger, eine Werkausgabe von Hölderlin



Bleutge lesen (Manuskripte)

Im Heft Nr.175 der Manuskripte finden wir neue Gedichte von Nico Bleutge sowie einen Aufsatz mit eingehenden Analysen von Gedichtbänden: Oswald Eggers "Tag und Nacht sind 2 Jahre", Anja Utlers "brinnen" und Nico Bleutges "klare konturen". Der Rezensent, Lyriker und Übersetzer Felix Philipp Ingold beschreibt die lyrischen Verfahren der drei recht präzis, wenn auch sein Blick auf Nico Bleutge etwas vorbelastet zu sein scheint, wie seine gegen das Phantom eines vermeintlichen Bleutge-Hype ankämpfende Einleitung verrät.
Ingold entwirft entlang spätavantgardistischer Prämissen einen Gegensatz zwischen einerseits Lyrik, die "Interesse am Wort und an dessen vielfältiger Formbarkeit" leite und andererseits Lyrik, die den "Einsatz sprachlicher Mittel zur Wiedergabe visueller Eindrücke und ästhetischer Erfahrungen wiedergibt". Er behauptet zwar, damit keine Wertung zu verbinden, es bleibt dem Leser aber kaum verschlossen, daß Ingold eine Dichtung präferiert, die seiner Meinung nach "ihren Gegenstand nicht bloß darbietet, sondern ihn im Vollzug des Gedichts überhaupt erst hervorbringt." Eine problematische Formulierung, läßt sich doch, streng genommen, gar kein Gedicht denken, das seinen Gegenstand nicht erst im Reden/Schreiben hervorbrächte. Was Ingold aber meint, ist klar: Bezüge zu einem "Außerhalb" der Sprache hält er für sehr problematisch, wenn nicht naiv. Sprache ist für ihn ein System, das erst einmal nur innerhalb seiner selbst funktioniert.
Dem liesse sich postwendend entgegegnen, daß ein Bezug zum "Draussen" (Ingold) immer gegeben sei, selbst für einen Sprachartisten im Innern seiner Kammer, der nur mit Lauten und Semen hantiert. In ihren Möglichkeiten beschnitten erschiene da doch eine Dichtung, die diesen Bezug, nur weil er nach außen zielt, auch außen vorlassen wollte.

Jüngst erst stellte Ulf Stolterfoht in BELLA triste Nr.17 den Versuch in Frage, einen "Transfer einer Erscheinung aus der Außenwelt" "in die Sprache des Gedichts zu versuchen". Unabhängig vom Gelingen seien solche Versuche "auf seltsame Art sprachlos". Steffen Popp antwortete zu Recht in der Folgeausgabe darauf mit dem Verweis, daß Gedichte immer auch Ausdruck einer Praxis sind, die auf Außenwelt reagiert und daß diese Außenwelt in der Rezeption wieder mächtig wird. Es gibt eben keine Sprache, die "rein" bleibt. Nur ist das Bild der „Transfers“ in der Tat wenig hilfreich. Denn es setzt voraus, es gäbe ein außersprachliches „Außen“ und rein sprachliches "Innen", es gäbe zwei distinkte Sphären.
Ich möchte an die genannten Auseinandersetzungen und Analysen anschließen, indem ich versuche, einem möglichen Bezug zu Welt und Erfahrung in der Lyrik Bleutges und Eggers nachzugehen (auf Anja Utler gehen Ulrike Draesner und Alexander Nitzberg in jüngsten Artikeln ein, auch nachzulesen auf lyrikkritik.de und in BELLA triste Nr. 18 und 19). Was Nico Bleutge angeht, beziehe ich mich in erster Linie auf die Gedichte aus Manuskripte, die man auf der Interseite der Zeitschrift abrufen und nachlesen kann.
Was zunächst auf- und gefällt an Nico Bleutges Gedichten, was ihnen eine puristische Aura verleiht, die dazu zwingt, einen eingehenden „Blick“ auf sie zu werfen, ist die Absenz dessen, was das gesellschaftliche oder soziale Leben (besonders im Zeitalter der Massenmedien) oft ausmacht, das Fehlen von "Attraktionen". Keine Geschichtchen, keine Liebelein, keine Konversation, Kommunikation. Tauchen einmal Lebewesen auf, so werden sie wie Dinge beschrieben beziehungsweise eingefügt in eine sachliche Beobachtungsreihe. Ihre alltäglichen Gewohnheiten und Abhängigkeiten tauchen, wenn, dann nur als vor dem Auge vorüberziehende "unbehelligte" Phänomene auf. Man hat zunächst den Eindruck, daß es Bleutge um das geht, was ein objektiver, unbeteiligter Beobachter sehen würde – um das Phänomen Sehen selbst vielleicht.

Daran erfreut, daß Bleutge wenig falsch machen kann: Wer keine Geschichte wagt, riskiert keinen Kitsch, ob verfeinert oder nicht, riskiert auch nicht den Wellengang der Gefühle und Tonlagen, die jedes emotionale setting im Gedicht so riskant machen, und bewegt sich auf neutralem Boden. Vor allem hebt Bleutge kaum Metaphern! Wie viele unglückliche Versuche der Lyriker füllen inzwischen Halden und Archive! Alles das umgeht Bleutge durch seine an Gegenständen und Landschaften geprobten nüchternen, aneinandergereihten Beschreibungen.
Und das hat die Wirkung einer geradezu entschlackenden Reinigung. Aber, wird man nun einwenden, ist das nicht wenig mehr als eine Fingerübung, zum täglichen Nutzen des angehenden Lyrikers, zur zen-artigen Einstimmung in ein genaueres Sehen, pardon: ein genaueres Beschreiben?
Eben dies. Und das deutet schon darauf hin, was hinter diesen Versuchen stecken könnte: die Utopie einer Annäherung an die „Dinge“. Darauf wies auch schon F.J. Czernin in einigen Anmerkungen zu Bleutge hin (ebenfalls in BELLA triste Nr.17 und auf lyrikkritik.de). Czernin bezweifelte, daß dies mit Hilfe der Sprache (die ja einen ausufernden, nicht abbildenden Character habe) möglich sei.

Ein weiterer Einwand liegt nahe, nämlich, daß ein solcher, an Oberflächen hingleitender Blick, der nichts von den Schichten und Geschichten der Zeit an dieser Welt wahrnehmen will, wenig von „den Dingen“ verstehe. Aber vielleicht geht es wirklich nur um "Entschlackung": nicht nur von medialen Fluten und Verschmutzungen, allem Unästhetischem, dem Wust, der Spuren der Verwüstung zurücklässt, sondern auch von zuviel Sinn, den Mensch und Zeit auftürmen. Eine Besinnung auf die Gegenwart oder das Präsentische der Dinge. Eine solche „Utopie der Dinglichkeit“ ist allerdings nicht neu, weder in der Kunst, noch in der Literatur. Verschiedene Strategien wurden immer wieder versucht. Der Rückzug auf das rein „Sachliche“ – besser: die reine Oberfläche – scheint dabei noch die einfachste, naheliegendste. Das hat als Versuch auch bei Bleutge einiges Anziehendes für sich – allerdings kaum, daß ihm diese Besinnung auf die Dinge gelingen könnte. So wird die zweite Phase der Lektüre auch nicht von einer Konzentration oder einem Aufschimmern der Dinge am utopischen Horizont bestimmt, sondern vielmehr von Ermattung und gepflegter Langeweile: wozu soviel verschoben-verschrobene Beschreibung, nur ab und an durch subjektivistische Injektionen aufgestört? Die nette Umwandlung in Prosa, die Ingold sehr gekonnt vornimmt, hat auf den ersten Blick wesentlich mehr Energie und Zug, ist nämlich schlicht erzählerischer. Dabei geht allerdings (das übersieht Ingold) der absichtlich fragmenthafte und parzellierte Character der Beobachtungen verloren.

Eben an dieser Stelle wächst ein zweites Interesse an den Gedichten. Es entpuppt sich, daß das, was F.J. Czernin als Scheitern der Utopie anzeichnet, vielmehr gewollt ist. Bleutge entschlackt, um einen quasi stifterschen (allerdings blickbeschränkten) Raum der kleinsten Erhebungen und Bewegungen zu schaffen. In diesem Stilleben-Raum wird nicht nur jede Bewegung zum Ereignis, auch schleichen sich perfid Subjektivismen ein, fast niedliche Adjektivisierungen. Plötzlich merkt man, daß auch dieses Feld eine gewisse Spannung hat. Bleutge versucht im Rückgang auf die Oberfläche eine Art tabula rasa von zuviel Tiefe: dann können Wörter plötzlich wieder mit winzigen Ladungen versehen werden, kleinste Teilchen der Lichtpartikel setzen sich in Bewegung und ein Flirren gewinnt Gewicht, das es sonst nicht gehabt hätte. Selbst der Einwand, es handele sich nicht um Beobachtungen, sondern um Wörter schraubt diese Bewegung nur eine Ebene höher ins Sprachbewußtsein. Wörter, denen man sonst wenig Aufmerksamkeit schenkt oder die Unmerkliches beschreiben, „schnurrhaarfein“ zum Beispiel, bekommen ungewöhnliches Gewicht. Der Gebrauch der Metaphern, darauf weisen mehrere Kritiker hin, ist zuweilen noch etwas unbeholfen und stört dann mehr den Lauf der Dinge. Doch insgesamt baut die minimal aufgeladene Sachlichkeit Bleutges ein spannendes, neues lyrisches Feld auf.

Interessanterweise finden wir am entgegengesetzten Pol der jüngeren Lyrik Steffen Popp als unentwegten Metaphernwerfer in einsamen Höhen, der auf seine Weise eine Annäherung an reine Gegenwart sucht. Doch geht er den ganzen mühsamen Weg durch Exaltiertheit und Pathos. Eines Tages, wer weiß, treffen sich diese Extreme vielleicht. Jetzt schon treffen sich Oswald Egger und Nico Bleutge in einem gewissen Effekt ihres Verfahrens. Während Bleutges „Beobachtungen“ prinzipiell unerschöpflich, wie die (geschichtslose) Zeit gegenwärtig und tendenziell unendlich sind, so unendlich in einem anderen Sinn sind die Wortfortpflanzungen Oswald Eggers.


„Herde der Rede“ und „nihilum album“

Oswald Egger hat schon lange ein ganzes eigenes, vielgelobtes Poesieregister herausgebildet. Sein neuestes Buch heißt "nihilum album – Lieder & Gedichte". Der ehemalige Südtiroler war als Autor vor allem durch sein epochales Poem "Herde der Rede" bekannt geworden, das sich schwerlich auf engem Raum characterisieren läßt. Ohne die Folie seiner früheren Werke aber kann "nihilum album" kaum richtig eingeordnet werden.
Basis seines lyrischen Verfahrens war immer das genaue Arbeiten mit allen Sem-Bestandteilen der Wörter und klangliche Ineinanderflechten sinnmäßig auseinandertreibender Silben: der Dichter als "Hüter" der "Rede-Herden", der Wortkaskaden, die nichts weniger im Sinn hatten, als daß die "ganze Erde" in der "Rede" "wiederkehren" solle.

Das gebar im Umfang oft Ungeheuer, berstend voll mit komprimierten Wortspielen und Lektürekonglomeraten (nichts, das nicht auftauchte) – in Klang und Vorstellung aber zuweilen sogar leichte Traumwelten, in denen erste Erfahrungen und Bilder verwandelt wiederkehrten. Dabei zielte und zielt Eggers Lyrik nicht auf Erfahrungsbilder, sondern geht den Bedeutungen der Sprache nach (und jene ergeben sich von selbst).
Dem Poem und seinem poetologisch accompagnierenden „Bruderbuch“ „Der Rede Dreh“ folgten Bücher, in denen das Verfahren gesichert schien und Themen und Rede des ersten Buchs unterschiedlich variiert wiederkehrten. Nicht immer erschloss sich dem Leser, was diese Bücher "Herde der Rede" noch hinzufügten, waren sie doch oft in der Ausarbeitung verworrener und in ihren Wiederholungen zentraler Begriffe ermüdend. Kein seltenes Phänomen, daß sich ein Autor in seinem eigenen System, zumal wenn erfolgreich, verfängt. Nun versucht Oswald Egger mit seinem neuen Buch "nihilum album" seiner lyrischen "Rede" einen weiteren, neuen Dreh zu geben. In Hinwendung auf das vorgeblich Liedhafte (es sind durchwegs Vierzeiler) und mit einer bewußten Akzentuierung des Leichten und manchmal gar Albernen oder Pittoresken versucht Egger seiner Dichtung, der mehr und mehr der Ruf des Ernsten Monomanischen Monumentalen anhaftete – wieder Luft zu verschaffen.

Der Titel und Umschlag (mit kleinen Strichzeichnungen, wie wir sie aus anderen Büchern Eggers kennen – und die hier seltsamerweise frei variierten oder verunglückten Formen der Swastika ähneln) lassen aber zunächst Altes erwarten: "nihilum album", das klingt ähnlich wie der Egger-Band "Nichts das ist" und soll die Demut des Dichters annoncieren: "nihilum album, das ’Weißnicht’, ’Nichts’ und ’nicht’" (Klappentext). Doch sollte man sich nicht verwirren lassen: Es ist wohl eher „affektierte Bescheidenheit“, die sich hier kundtut. In Wirklichkeit ist für Egger das Wort ja alles. Doch liegen "Auflösungstendenzen" durchaus nahe, wenn man sich in solchen Sprachinnenwelten bewegt. Vielleicht rührt irgendwo daher auch das etwas am eigenen Schopf herbeigezogene Sprachspiel mit „Achill“, das Oswald Egger in seinen letzten Schriften spielte („ach“, „ich“, „alles“, etc.): haarig. Seine Dichtung ist in ihrem permanenten Fragegestus, in ihrer Umschweifigkeit und Skrupelhaftigkeit so denkbar wenig "heroisch", daß der Bezug schon verwundert. Immer wieder taucht aber das große Ziel auf, Welt im großen "Epos" neu zu erschreiben (so nannte Egger sein poetisches Unterfangen auch einmal eine "Ilias der Silben"). Jetzt also "heimatlose Gedichte", wobei er auch hier vom Monumentalen nicht lassen will: "3650 nicht-gnomische Standard-Lieder", also für jeden Tag zehn – und das ist auch in ungefähr die je verträgliche Lektüre-Dosis: Ähneln sich die Lieder (man vergleiche zum Beispiel S. 65: "Ich ging / und sang Lieder, / die verwanderten / Mund-rund in den Wiesen" und fünf Strophen weiter: "Ich ging aufs Feld / singend / und Wegblumen / verwehten zu Leben.") doch zu sehr in ihrer Art (und ergeben zusammen zu wenig Zusammenhang), als daß man das Buch in einem oder zwei-drei Zügen lesen könnte.

Es sind hübsche, niedliche ("Perchten / im Krapp-Sack / Beutel-Puppen / ihr Schuhzeug?"), ja auch komische ("Mein Wucht-Bauch"), leichte, ländliche, flockige und viel krude, groteske ("Kommt ein / Boot mit fünf Köpfen; / brüllt die Kuh / blökt das Lamm") Zeilen und Verse unter diesen "Liedern". Der übliche Egger-Jargon ist wiedererkennbar, aber die Kürze, die einem Atem gibt – scheint seinen Versen eine gewisse Lockerheit zu bringen. Nimmt vor allem jenen Wind aus geblähten Segeln, der die Lektüre seiner Dichtungen sonst schon mal mühsam machte: in dem Luftstrom mäandernder Rede war es zuzeiten schwer, zwischen gelungenen und nur vorwärtstreibenden, zwischen akzentuierten und willkürlichen Reihungen und Regungen zu unterscheiden, vor allem aber: Halt zu finden.
Wie aber sind diese Lieder zu lesen? Zwar könnte man sich in einige von ihnen wie in Haikus meditativ versenken, doch sind die Verse dafür insgesamt teils zu unernst, teils zu wortverliebt. Egger hat dabei nicht Lied für Lied gesetzt, sondern ein großflächiges Format der Präsentation gewählt, das das Konzeptuelle betont. Konzept aber – etwas, das seine Bücher oft bis in die Glieder hinein bestimmt und selbst noch der botanischsten Aufzählung einen gewichtigen Schöpfergestus verleiht – wird hier erst einmal nur im Jahrestagerahmen sichtbar. So fehlen auch poetologische statements, sonst allgegenwärtig bei Egger, fast völlig – allein der ausgetüftelte Klappentext verrät einiges (und geht über das, was im Band dann passiert, eigentlich hinaus). Wenn "Herde der Rede" noch ein Welterschaffungsgedicht im Sinn hatte, tritt dieses Anliegen hier also in den Hintergrund, so weit, daß gar von einem Zustand vor dem Bewußtsein geredet wird, dem aus dem deutschen Idealismus kommenden (an sich schon paradoxen) Begriff des "Unvordenklichen", von wo "die Kinder kommen". Daß diese Lieder von dort kommen, bleibt aber, wie anders, kühne Behauptung.

Dies "Liederbuch" hat, außer Umfang und Wortregister, das es zieht – der Wortreichtum ist, wie immer bei Egger, enorm, die Lektüre allein deshalb ein Gewinn – vor allem das Vertrauen aufs Wort mit "Herde der Rede" gemein: es wird schon immer etwas (oder wenigstens "nichts") zu sagen haben, was man so sagt. Diesen absoluten Bezug zum Wort spürt man allerorten in Eggers Poesie – so auch hier – und mit ihm steht und fällt alles. Freilich hat er das mit anderen Autoren der spielerischen Postavantgarde gemein, die das Wort an die Grenzen des Sinns und des Zusammenhangs führen: wo die (eindeutige) Referenz zum Bezeichneten gekappt scheint und die Wörter frei und gelöst neu amalgamisieren, wirkt Poesie erst einmal besonders komplex. Doch wie so oft (bei guter Lyrik) erfordert auch die Lektüre von Eggers Büchern weniger Kopfzerbrechen, als Mut zum Offenen, Liebe zum Wort an sich, so sprunghaft (und manchmal maskenreich) es sich auch gebärden mag.

Man konnte, poetologisch gesehen, "Herde der Rede" als eine Art Ausweitung oder Vereinseitigung von Inger Christensens großem Vergänglichkeits&Erschaffungs-Gedicht "alfabet" lesen: eine Vereinseitigung hinsichtlich der Verabsolutierung der Signifikanten mit dem Ziel der Erschaffung lyrischer A-reale rein sprachlicher Introspektion. Das erinnerte in seinem poetologischen Radikalismus durchaus an Stefan George, mit dessen jugenstilgeprägter Dichterauffassung Egger zudem Manierismus und Hang zu sektenähnlicher Zirkelbildung (seine "Hombroich"-Lesungen zum Beispiel) gemein hat. Der große Innentraum einer Un-Welt, die große Phantasmagorie gegen alles Melancholische und Vergängliche verschwindet nun nicht in Oswald Eggers Liederbuch, weicht aber einer etwas begrenzteren Ich-Welt, versehen mit schnurrigen Wortpurzeleien. Kleine Wortgirlanden und Kletten ersetzen dabei die langen, mäandernden Ströme und Sprachketten. Die seltenen impressionistischen Fragmente einer Welt "draußen" finden wir nicht mehr eingebettet in einen großen inwendigen Gegenentwurf, das introvertierte Lichtspiel, das von der Wand (der heimischen Höhle) zu den Bewandtnissen führt, die es mit dem Wort so auf sich hat: Statt Imaginationen und Wortvariationen, die vom zusammengekauerten (gedachten) Körper ausgehend immer mehr eskalieren, aufgehen, sich vervielfältigen – Wortzauberei eines Ichs (als kleinste träumerische Einheit), das nicht mehr (ausufernder) Quellpunkt ist, sondern Rückzugspunkt und sich einigelnder Schutz vor allzu viel Unliebsamkeit.

Dabei ist leider etwas ermüdend, wie oft in diesem Buch "ich" auftaucht: "ich ging", "ich war", "ich würde","ich trieb", "ich schiebe", "ich dämmre" etc. Der Rückgriff auf die vermeintliche Anschauung eines trotz Jahresbezugs biographie- und konturenlosen Ichs ist nicht vorrangig Konzession an den Orientierung suchenden Leser – sondern auch (unbedarfte?) Hilfskonstruktion, die Vertraulichkeit wecken soll, aber zugleich den Narziss im Dichter offenbart. Allerdings auf eine schon sehr nachdrückliche Weise. So viel Selbstgenügsamkeit und Mit-sich-im-Reinen-Sein ist selbst in der Lyrik selten. Eine Reinheit, die alle Realität wegdestillieren soll, auf ein "nihilum" hin: nichts das ist: Wörter kommen und gehen, nur das Ich (der Rede) bleibt bestehen. Früher hatte dies Ich bei Egger eine seltene und daher fast dramaturgische Funktion. Die Vervielfältigung schwächt dieses Moment eher ab, wirkt hier auch wenig überzeugend. Diese Gefahr liegt gleichwohl in der Dichtung Eggers von Anfang an beschlossen, denn es bleibt für den von dem ganzen irisierenden Wortbarock- und Glück Unbetörten nur ein ziemlich schmaler Guckspalt: Narziss oder die Monotonie des lexikalischen Kaleidoskops. Von nichts kommt nichts. Wer davon spricht, es würde genügen, zu denken, daß man spreche, riskiert dies. Und auch wenn Egger vielleicht mit der Schlichtheit von Liedern irgendwie "ins Diesseits kassibern" will, so tritt insgesamt der gegenteilige Effekt ein.

"nihilum album": statt "Heerschare Gerede", statt aufflatternder Silbenschwärme also kleine einzelne Singstimmen von den Fluren der (imaginären) Provinz. Nach der Epoche der Großprojekte (Grünbein, Kling, Schrott), in die sich auch Egger einfügte, hat sein ebenfalls zeitgenössischer Rückgang auf Schlichteres nun, hat die Vierzeiligkeit und konzeptuelle Verschlichtung und Verdeutlichung (sichtbar) aber einen entscheidenden positiven Effekt. Der Unsinn der Verse ("Ei, / Ei, Ei, / wie Kugeln / durcheinander" etc.), die Arbitrarität der Zeichen kommt noch stärker zur Geltung, was sich auch in dem zurückhaltenderen Gebrauch von Assonanzen und etymologisierenden Reihungen zeigt. So verschwindet der typische fliessende sound ein wenig – dafür besteht weniger die Gefahr von Kalauern und eines durch klangliche Kohärenz evozierten "Blendwerks".
Wir begegnen einem befreienden Schabernack: "nihilum album" als eine durch und durchgeschüttelte Wortbox, eine Kramkiste für Philokobolde. In diesem Kontext sind auch die stets wiederkehrenden pastoralen Stimmungen und einsiedlerischen Befindlichkeiten zu lesen, deren Bilder weiterhin kaum den Wiesen und Wäldern, sondern der Dachstube des Dichters entspringen. Dieser humoresken Lesart entgegen steht nur ein wenig die raunend-beschauliche Lesung Eggers auf beigelegter CD. So mögen manchem Leser die nicht enden wollenden "Priameln und Schnaderhüpfeln" etwas aufgesetzt vorkommen und sich diese Koboldwesen inmitten der Naturbilder nicht ganz erschließen.

Schon immer konnte die Dichtung Oswald Eggers auch von seinen Vorgängern, Vorbildern der sprachexperimentell gewitzen Schule (unter anderem Pastior, Artmann) her gedacht und gelesen werden. Doch schien es, daß er deren „Lektionen“ „gewebnet“ hatte zu einem philologischen Wortteppich, in dem der Aberwitz und die spielerische Leichtigkeit seiner Vorbilder nurmehr in sorgfältig angeordneten Ornamenten oder Arabesken domestiziert wiederkehrten. Hier nun schließt er unmittelbarer wieder an jene an. In Kauf nehmen muß Egger dafür, daß dieses Buch zwischen Quatsch, naturlyrischer Besinnlichkeit und Hokuspokus changiert – aber gerade deshalb zeichnet diese Verse zuweilen eine schöne, kindliche Unbefangenheit: liegen doch für das Kind Unsinn, tiefer Ernst und Staunen eng beieinander.


In lieblicher Bläue

Vor mittlerweile drei Jahren ist eine der Stuttgarter Werkausgabe Hölderlins folgende Bremer Ausgabe, herausgegeben von D.E. Sattler, erschienen. Ihr Konzept ist, im Gegensatz zu der nach Werken geordneten Stuttgarter Ausgabe, die Anordnung aller Gedichte und Entwürfe, Zettel, sowie auch von Zeitdokumenten und Briefen nach rein chronologischem Prinzip.
Man wird sich vorstellen können, was diese "Gliederung" für ein Konglomerat an Texten ergibt: Arztberichte neben Odenentwürfen, überschwängliche Briefe von Freunden Hölderlins neben trockenen Rapporten von Zeitgenossen etc.
An wen richtet sich so eine Ausgabe? Für den Forscher mag sie tatsächlich eine Art "Lebensbuch", wie der Herausgeber Sattler es schaffen wollte, ergeben, mag die langjährigen Studien durch ein anschauliches Panoptikum aus Alltags- und Odenkultur ergänzen. Für den Literaturwissenschaftler und Studenten, dessen Schwerpunkt nicht Hölderlin ist, wird diese Ausgabe eher unbrauchbar sein, da ein fehlendes Register die genaue Suche von Werken und Briefen sehr erschwert. Für den einfachen Leser wiederum ist der Wust an (auch unfertigen) Texten wohl ein wenig zu undurchdringlich, braucht es doch, um ein Beispiel zu nennen, fast siebzig Seiten, bis man allein auf die ersten Werke des jungen Hölderlin stößt.

Obwohl so eine Ausgabe einen anekdotischen Reiz entfaltet, ist die Gefahr doch groß, daß man in Zeit und Text ertrinkt. Dabei treten einem manche Werke Hölderlins ja ohnehin nicht ganz unbeschwert entgegen. Und damit sind nicht nur die frühen patriotischen Gesänge an das Vaterland gemeint, in denen schmalzgelockte Jünglinge in den Tod gesungen werden. Auch einige der gerühmten späten Gedichte wirken doch merkwürdig disparat, befremdlich bei aller Schönheit.

Die Ägypterin aber, offenen Busens sitzt
Immersingend, wegen Mühe gichtisch das Gelenk
Im Wald, am Feuer. Recht Gewissen
Bedeutend der Wolken und der Seen des Gestirns
Rauscht in Schottland oder an dem See
Lombardas ein Bach vorüber. Knaben spielen [...]

Es ist ein eigentümlicher Reiz, der von solch sprunghaften Versen ausgeht. Das mag unter anderem der Intonation geschuldet sein, die den Übersetzungen Hölderlins aus dem Griechischen sehr nahekommt. Für manchen war gerade diese Intonation Ursache von Lachreiz: Über die griechische „Wortwörtlichkeit“ in der hölderlinschen Sophoklesübersetzung lachte Schiller herzhaft, wie wir aus Briefen von Voss erfahren. Doch jene Art ästhetisch ansprechender Unbeholfenheit drückt einen Grad an Verlorenheit, Ausgesetztheit und Schmerz aus, der gerade in der Form über sich hinausgeht. Das Schwärmerische Hölderlins, bei allem ketzerischen Spott, der einen manchmal überkommen mag, ist nicht nur immer wieder ergreifend, sondern zielt ins Offene, läßt den Leser frei.
Nicht erst seit Emil Staigers Thesen zur Poesie kommt in der Poetik immer wieder die Frage auf, wieviel Liebe die Poesie braucht. Sicher ist: Ohne die Liebe, ob zum Wort, zum Leben oder zum Detail, lohnt keine Lektüre. Doch da andererseits eine liebende Lektüre einen für manches begeistern läßt, das einem später schal vorkommen mag, sind Zweifel zuzeiten angebracht. Die neue Hölderlin-Ausgabe in chronologischer Reihenfolge legt dieses Problem auf ihre Art offen: Nicht nur die ergriffenen, in etwas sehr hölderlinsch zerrissener Pathetik vorgebrachten Vorworte des Herausgebers zeugen davon, in gewisser Weise auch der biographistische Ansatz der Ausgabe selbst.

Im Hinblick auf die Tragik, die sein Leben zeichnete, die aber auch in Hölderlins zugleich formvollendeten wie "trunkenen" Versen sich zeigt, war es vielleicht nur konsequent, seine Werke chronologisch zu ordnen und mit dem Biographischen (und das beinhaltet auch das „Bürokratische“, die Zwänge, die Schicksalsschläge etc.) engzuführen. Man sollte in diesem Sinne Biographisches und Abseitiges nicht unterschätzen – beziehungsweise nicht überschätzen: Es kann die Werke nicht verdrängen oder sie restlos erklären. Dennoch läßt sich mit biographisch-zeitlichem Hintergundwissen oft erahnen, wie ein Gedicht (und auch das Leben) geschrieben wird – auch hält gerade letzteres immer noch die verblüffendsten, unausweichlichsten Einsichten parat. So wird in dieser chronologischen Ausgabe vielleicht tatsächlich eine „Lebensfigur“ deutlich, das Schicksal eines Dichters, der in keinem Moment die Dichtung in die Sachlichkeit oder Unpersönlichkeit entließ – ohne dabei sentimental oder „privat“ zu werden.
Doch sollte man vorsichtig bleiben: Ob gerade Hölderlins zuweilen kryptische und entrückte Gedichte und Oden sinnvoller Weise in dieser Nähe zum Biographischen zu lesen sind, bleibt fraglich. Die hölderlinschen Verse reichen doch sehr weit über ihren „Ursprung“ hinaus. Hölderlins Reinheit war gebrochen und entsprang mehr einem zerbrochenen komplex-enigmatischen Weltbild als einem bunt zusammengesetzten Welt- und Lebenskaleidoskop, auf das man, wie kenntnisreich auch immer, zwecks Auslegung rekurrieren könnte. Sie entsprangen nicht nur den unglücklichen Kollisionen in seinem Leben, sondern eher noch, wie bekannt, seinem Bezug zum Heroischen und dem, was er als griechische Tragik rezipierte, seinen idealistischen Versuchen von Aneignungen und Auseinandersetzungen.
Was Hölderlins Werke aber an „Lebenstiefe“, an Erfahrung und poetischem Wissen auszeichnet, das begreift man auch ohne den biographischen input. Verrückterweise gerade dann, wenn man ihn – etwas naiv und historisch-kritisch sicherlich unzulässig – wie einen Zeigenossen liest, frei nach Mandelstams Diktum, daß die Dichter noch gar nicht gelebt hätten.

Egger und Bleutge zum Beispiel, die beide auf ihre spezifische Weise an einer trotz aller präsentischen Implikationen geschichtslosen Lyrik schreiben, die sich prinzipiell endlos neu erschaffen könnte, scheint, bei aller großartigen "Arbeit" am Wort, etwas zu fehlen (nicht einmal zu mangeln), das nur äußerst schwer begrifflich zu fixieren ist. Dies wäre mit einem Begriff wie "tragisches Bewußtsein" völlig unzureichend beschrieben und doch hören, lesen wir es bei Hölderlin immerzu heraus und könnten es altmodisch auch nennen: den genuin poetischen Ausgang der Sprache bei Gesang und Empfindung. Nicht, daß Letzteres bei Zeitgenossen nicht auftauchen würde, meist aber eher als Nebeneffekt oder, bei schlechteren, als Kollateralschaden. Es macht eben einen Unterschied aus, ob man aus Ambition und forschendem Antrieb schreibt – oder aus Unumgänglichkeit. So können wir uns Hölderlins Schreiben schwerlich als unendlichen Prozess möglicher Variationen vorstellen. Obgleich sein Formwillen und seine Formanstrengung ungleich größer sind als bei den meisten heutigen Dichtern, sind doch seiner Form Erfahrung und Tragik wesentlicher eingeschrieben, geistesgegenwärtig und in die Ferne schweifend zugleich. Die persönliche Auseinandersetzung mit Schicksal und der Geschichte grundiert Hölderlins Werk und biegt schließlich auch seinen Lebenslauf geradezu in sich (zurück), kehrt Anfang zum Ende, findet in gewisser Weise sogar, trotz aller Offenheit und Fragmenthaftigkeit, „einen Abschluß“: Ein Bogen, der am Ende zum reinen Papier wird, auf das der nun Entrückte wieder scheinbar naive Gedichte einträgt (nach dem Schreiben).

Nicht verwunderlich, daß wir am Ende der zehnbändigen biographisch-tragischen Ausgabe, am Ende aller Exerzitien und Wühlarbeiten, am Ende all der Marginalien und großen Texte, der Quisquilien und Belanglosigkeiten, der Entwürfe und vollendeten Hymnen schließlich auf das Gehirn Hölderlins treffen, nachdem uns zunächst noch sein letztes Gedicht begleitet auf dem Gang zum Toten, geschrieben am 24.5.1748 – in Hölderlins Datierung, vermutlich aber am 27.5.1843:

Die Aussicht

Wenn in die Ferne geht der Mensch wohnend Leben,
Wo in der Ferne sich erglänzt die Zeit der Reben,
Ist auch dabei des Sommers leer Gefilde,
Der Wald erscheint mit seinem dunklen Bilde,
Daß die Natur ergänzt das Bild der Zeiten,
Daß die verweilt, sie schnell vorübergleiten,
Ist aus Vollkommenheit, des Himmels Höhe glänzet
Den Menschen dann, wie Bäume Blüth umkränzet.

Mit Unterthänigkeit
d.24 Mai 1748
Scardanelli


"[...]Er eine Arznei bekam spielte diesen Abend noch u aß in unserem Zimmer zu Nacht nun ging Er ins Bett mußte aber wieder aufstehen u sagte zu mir Er könne vor Bangigkeit nicht imBett bleiben [...] ein Haußherr war auch bey Ihm u ein anderer Herr welcher Ihm gewacht hätte mit mir nun verschied Er aber so sanft ohne noch einen besonderen Todeskampf zu bekommen meine Mutter war auch bey Ihm an das Sterben dachte freilich kein Mensch von uns Die Bestürzung ist nun so groß dasß mirs übers Weinen hinaus ist [...]" (Aus dem Brief von Lotte Zimmer an Carl von Gock, 7.6.1843)

"Hoelderlin starb, ohne daß er etwas geklagt hätte, mit Ausnahme einer schweren Respiration. Die Schädelknochen waren ziemlich dick, wenig Diploe; die Schädelhöhle geräumig, besonders breit; die impressiones digitatae auf der basis cranii waren sehr stark.[...] Die seitlichen Hirnhöhlen enthielten etwas einen Kaffélöffel voll helle Flüssigkeit. corpus striatum, thalam. nervi optic. [...] Die glandula pinealis hatte ihre gewöhnliche Größe u. Farbe, an derselben ein kleines Häufchen Hirnsand." (Sektionsbericht von Prof. Wilhelm Rapp)


Hendrik Jackson



- Manuskripte 175, Wien 2007
- Oswald Egger: nihilum album, Frabkfurt am Main 2007
- Hölderlin – Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Folge, 12 Bände, hrsg. von D. E. Sattler. München, 2004 ("Bremer Ausgabe").