Was zu beschreiben wäre
Kleiner Metaling aus dem Lyrik-Kokon der bella triste Nr.17


Die Kritik zur Kritik. Die Sichtung der Sichtung, in Hinsicht auf neue "Tendenzen"... Idee eines Matrjoschka-Aufsatzes in der Hoffung auf essayistische Überstülpung, Umstülpung aller Worte wertgeschätzter Lyriker und ihnen gewogener Taxierer, wägender Weiterträger, Zuzügler? Zugesandte Fahnen für Kreuzzüge in zweifachem szenischen Licht? – Metametaphorismus? "Alle sind für den Ölkönig, nur ich für den Eiskönig" – und: "Das Feld ist bereitet für den Sieg" (Metarealist A. Parschtschikow). Wortwurmfortsatz und Verpuppung. Ein ölverschmierter Metaling steigt auf, ein eisiger Essayist spinnt Fäden. Alles, was der Einzelfall war – eingefroren in blumigen Kristallen: Abstraktion, Polemik, Netzwerk, ein Wort für alle Fälle: Falle!

Impressionen und Analysen solch eloquenter und kluger Leser wie beispielsweise Ulrike Draesner oder auch Sabine Scho (wenn sie einmal, wie hier, genau hinschaut – nicht draufhaut), ist wenig hinzuzufügen. Aber auch die anderen Beiträge sind so eigen in der Reaktion, zum Teil überraschend, oft präzis, daß sie fast noch mehr einnehmen haben als die Gedichte selbst. Hier müßte eigentlich der Auftrag (sprachlos oder vielmehr stumm) enden.

Schieben wir ein paar Schablonen hin und her, vielleicht ergeben sich neue Figuren...oder anders gefragt: in welche Kontexte hinein schreiben die jüngeren Lyriker? Die Posaunisten sind ja tot oder lebendig tot (und der Marmorsockel steht). Die letzten Skrupolösen aber verspinnen sich in sektenengen Kokons. Der Skrupolöse als Thronfolger des Posaunisten. Zwei Seiten einer Avantgarde. Feministisch kommentiert: Odnogo pola jagodicy. Im Skrupel offenbart sich noch ex negativo der Typus des Alleinanspruchvertreters. In der vorliegenden bella triste aber schreiben eher Bedächtige. Und die junge Lyrik lädt ja vielleicht auch erst einmal nur zur Auslegung ein, reizt nicht, stört nicht – oder ist schlicht gut? Geht rein ins Gemüt und raus, und bleibt manchmal bei Nacht. Aber wer redet denn von der? So fällt einem angesichts der Kritiken vielleicht die Behauptung eines lyrischen Zeitgenossen ein, nur das Lob lohne die Rede.
Was die Theorie (der Lyrik) angeht, so begegnet die jüngere Poesie ihr mit Zurückhaltung, wenn auch Wagner, Bleutge, Kobus und andere schon seit längerem als Kritiker reüssieren und philosophisch und akademisch gebildete Autoren wie Draesner oder Rinck eine auffällige Ausnahme bilden. Dennoch: das Höchste, was meist vorkommt, ist Analyse. Kritik kaum, Polemik selten, Pamphlet nie ("Kreuzfahrer in ihren Einmanntorpedos" (Popp) – wer mag das sein? – ausgenommen). Dennoch scheint die Idee des Heftes, Dichter auf Dichter prallen zu lassen, aufgegangen. Lyrik mißt sich nicht unbedingt an großen theoretischen Entwürfen, sondern an der Eigenwilligkeit der Tonlage und der Ideen. Hier hat das Heft Schönes zum Auflesen gestreut. Raphael Urweider zu Popp, Kathrin Schmidt zu Monika Rinck, etc. Und Verblüffung ab und an: Mirko Bonné schwärmt von einem Fußbruch als höchstem Glück. Manchem wäre zuweilen lieber, in Rage gebracht durch dies Elend der Welt, er dürfte mal folgenlos und mit gutem Gewissen Knochen knacken. Vielleicht finden da ja mal welche zusammen.

Doch lieber, als Knochen zu brechen, unternehmen die Dichter kleine Ausflugstouren ins Gelände des Kollegen. Ménage à trois mit dem Leser, der den nicht ganz freiwilligen Part des Zuschauers einnimmt, bei einem Latte machiato. Man lernt so, mit der Zeit um die Ecke zu denken, Souvenirfahrten. Das Wohlwollende kann aber mitunter fast kränkend sein, wenn auch ungewollt. So, wenn Lutz Seiler in seinem an sich aufmerksamenund schönen Text über Nico Bleutge immerzu wiederholt, was dieser Autor nicht mache, womit er überraschenderweise nicht störe, was ihm, entgegen den Anzeichen, gelinge. Das klingt etwas zu nachsichtig und weist den Leser erst auf mögliche Schwächen hin. Aber Bleutge, was das Konzept angeht einer der interessantesten neueren Autoren, benötigt gar keine freundliche oder gar gönnerhafte Schonung.
Es gibt Versuche, einen anderen Ton anzuschlagen, aber ausnahmsweise nicht von Sabine Scho, die sich periodisch im Internet-"Forum der 13" heiser bellt, sondern von Alexander Nitzberg. Witzig, daß ausgerechnet der volkstümliche Rezitator und Antiquar für aussterbende Reime in seinem sich fulminant gebenden Beitrag eine Lanze für die Avantgarde und ihre scheinbar noch Lange (Pardon) nicht letzten Verkünder bricht. Zu seinem Autor allerdings hat er wenig Substanzielles beizutragen. Und was oder wen er mit seiner kleinen Polemik genau kritisieren will, bleibt leider unklar.

Immer wieder brechen ja unter den Zeitgenossen Gegensätzlichkeiten auf. Solche könnten Diskussionen beflügeln. So waren die 90-er-Jahre-Diskurse von Vorherrschaftskämpfen geprägt (Czernin – Grünbein, Kling – 70-er, Schrott – Avantgarde etc) und erst vor kurzem entflammte ein großer Streit, Anfang des neuen Jahrtausends, als sich eine nicht mehr ganz junge Kritikergeneration, instrumentiert vom untergründigen jahrelang gewobenen Spätavantgardekanon, vehement gegen eine neue Generation (zunächst wahrgenommen nur in Gestalt der Anthologie "Lyrik von Jetzt") wehrte und ihnen Harmlosigkeit und fehlendes Sprachbewußtsein vorwarfen. Doch machten immer mehr Kritiker immer mehr Ausnahmen von der schlechten Regel. Die Generation setzte sich ohnehin allmählich durch, was auch immer das heißen mag... zu guter Letzt ging auf Entdeckungtour der zweitschärfste Kritiker der Runde – und verlieh den Huchelpreis an die Kreisauer Wolfshunde.
Trotzdem wäre es der Frage wert, ob Reflexe gegen die sogenannte Leipziger Schule um Norbert Hummelt ähnlich zu bewerten wäre, wie die Vorbehalte gegen genannte Anthologie. Eine Kiefersche Polemik, die z.B. auf Rinck oder Falb appliziert noch maßlos übertrieben schien, müßte, sollte angesichts dieser neuen Erzählweisen doch viel heftiger ausfallen (und deshalb vielleicht weniger ausfallend geraten). Mancher den "Harmlosen" zugeschlagene wird sich wundern, daß er nun, was den erzählerischen und formalen Rückgriff angeht, überholt wird. Einem möglichen Vorwurf vermeintlicher Antiquiertheit oder Epigonalität hält Norbert Hummelt das Zitat entgegen: nach Eliot sei "ein neuer Dichter dort am stärksten er selbst (...), wo er seinen Vorläufern am meisten ähnelt". Auf einen versierten Nachahmer und Zitateschmied wie Nicolai Kobus mag das zutreffen, fraglich bleibt, ob das immer so ist.

Der Rückgang ins Begrenzte, Nahe oder der ruhige Ton ist seit längerem in der Lyrik wieder verbreitet. Doch setzen Autoren wie Jan Wagner zwar pittoreske (oder wie Marion Poschmann sogar possierliche) Akzente, aber dahinter verbirgt sich mehr: ihre Gedichte sind nicht nur kunstvoll austariert, sondern auch vielschichtig. Die Lyriker des Leipziger Literaturinstituts nun stimmen Intonationen an, die noch vor kurzem als altmodisch gegolten hätten. Schlichtheit wird Stilprinzip: es herrscht der Unschuldston der Provinz vor (der vergessene Winkel, die nostalghische Erinnerung, etc.), ein erzählerisches Grau, in dem ab und an ein lichter Streif hervorsticht (und ein ganzes Gedicht dient manchmal einer einzigen originellen Metapher oder einem Vergleich). Der Vers der Leipziger Schule dimmt so vor sich hin, traurig-schön, wie's wohl zuweilen quillt, Bild für Bild im schwimmenden Gehirne – und wird nur ab und an von Assoziation unbotmäßig aufgescheucht.
Doch versucht Norbert Hummelt eine bedenkenswerte Verteidigung der neuen Lyrik am Beispiel von Lars Reyer. Er weist die abschätzige Beurteilung des Leipziger Allerlei durch Steffen Popp auf lyrikkritk.de, einem der sicherlich originellsten jüngeren Poeten, indirekt zurückt, indem er dessen Anspruch (hinter jeder Kritik steht natürlich ein eigenener Anspruch) in Frage stellt. Reyers Gedichte kämen daher mit der "angebrachten Skepsis gegenüber der konstruierten Metapher", einer "Abstinenz von den Effekten des Surrealen, die in letzter Zeit wieder Konjunktur haben in der jüngeren Lyrik". Er setze "seine Gedichte dem notwendigen Risiko der Überprüfbarkeit aus. Sie kommen prima ohne Alpen und Meer über die Runden, die Parthe ist ihr Styx." aus. Damit meint Norbert Hummelt natürlich Popps Band "Wie Alpen".

Man muß das nicht mit Streit verwechseln. Erbitterte Richtungsstreits gehören anderen Zeiten an. Hier finden konträre Standpunkte ihren sprachlichen Ausdruck. Selten gab es wohl eine Zeit, in der Konkurrenten mit doch ziemlich diversen Ansätzen so friedlich zusammenlebten. Ob diese Generation deshalb gleich, wie Falkner einmal vermutete, an ihrer Nettigkeit noch verenden wird, sei dahingestellt.
Worum es geht, seit jeher vermutlich, ist der Bezug des Dichters, vielmehr des lyrischen Ichs, zur »Wirklichkeit«. Definiert man den über die Sprache – oder ist die Sprache eher ein Transportmittel? Daran werden sich immer die Geister scheiden. Aber es müßte doch niemand so gut wie der Erzähler um die Form wissen. Er bedient sich ja mitunter auch dankbar bei jenen, die als eine Art »Teilchenlyriker« die Mikrowelt des Worts erforschen. Und niemand ringt mehr um Wirklichkeit als der Sprachskeptiker, der als Artist der Sternensprachenkuppel womöglich manch winterlichen Melancholiker (»Vom Schnee«, »Zeichen im Schnee«, nochmal »Vom Schnee« und endlich »das langsame ende des schnees«) ab und zu um das Moment von Erfahrung, Biographie beneidet. So viel Schnee lässt hinwieder vermuten, daß die neue erzählerische Unschuld selbst einen Traum von der tabula rasa träumt, der reinen Fläche vor jeder Erfahrung, in die sich die schwarzen Zeichen unverbraucht einschreiben. Auch hier pendelt Sprache zwischen Selbstreferentialität und Referenz auf ein Außen. Jede Beschreibung ist ja schon eine Abstraktion.Und nicht ganz zu Unrecht haben nur die landläufig für realistisch erachteten Sinn- oder Sprücheschmiede, die Weltenbummler und Großdichter, so gängig oder gut sie auch sein mögen, von Wondratschek, Kolbe, Kirsch bis hin zu Schrott, Enzensberger u.a. bei den jüngeren Lyrikern wenig Einfluß und oft nur noch Erinnerungswert – was freilich den Abstand der Lyrikszene zu Publikum und Großverlag nicht grad verkleinert.

Am Ende entscheiden weder Verlage noch Tendenzen und keine Richtungen, sondern das konkrete Verfahren, der genaue Tonfall und die gelungene Zeile – über die Wucht des Gedichts. In dem Grenzgebiet zwischen Realitätsbezug und reiner Sprachspielerei siedelt die jüngere Poesie, insgesamt auf hohem Niveau in Deutschland, was erstaunlich bleibt, angesichts der landläufigen Verachtung dieser Form. Nach den Satiren, nach den Großkonzepten eines Klings oder einer sprachtüftelnden Avantgarde – mögen zwar noch große sprachliche Verfahrensunterschiede produziert werden – stimmungsmäßig liegt die Melancholie der Leipziger nicht weit entfernt von dem soziologischen Slapstick eines Falbs oder der Wiesenluft in Parkhäusern einer Poschmann. Bestimmendes Gefühl dieser Epoche scheint eine gewisse Handlungsunfähigkeit, zumindest was die "großen Kontexte" angeht. Dies Gefühl scheint aber weniger verzweifelt, als genau beobachtet und ebenso gelassen hingenommen wie vorsichtig unterminiert. Womöglich Lyrik aus einer Ohmacht heraus, leicht aussichtslose Beschreibungen, die paradoxerweise einige Aussicht bieten: Landschaften mit Mensch im (de facto verkleinernden) Vergrößerungsglas oder der Weg dorthin (schau mal dort die wandernden Punkte!). Einige stehen auf einem Panoramahügel, andere auf einer Plattform. Meist sprechen eher die Frauen, vom längst gewonnenen Terrain aus, mit starker Stimme.

Wobei auch hier die Grenzen verwischen. Das wäre vielleicht ein weiteres, noch genauer zu bestimmendes Merkmal neuer Dichtung, die hier gesellschaftliche Entwicklung spiegelt: Effekte der Ununterscheidbarkeit, der Verwechslungen, Randunschärfen und der Vertauschung von Relationen und Identitäten (groß/klein, Mann/Frau, Ich/Gesellschaft, Natur/Kultur, Beobachte(Auge)/Objekt). Diese Phänomene sind bekannt, doch die Lyrik zeichnet Auswirkungen nach bis ins alltägliche Detail, versucht kleine Rettungen und baut ironische oder pathetische Verschiebungen ein. Arten von fast unmerklicher Verteidigung des Seins. Was zu beschreiben wäre.


Hendrik Jackson