Es ist eine alte, aber selten akut realisierte Erkenntnis, daß nicht
nur die Gegenwart selektiv darüber entscheidet, was wahrgenommen und Erinnerung
wird, sondern, daß auch die Erinnerung beeinflusst, was Gegenwart ausmacht.
Dies in zweifachem Sinne: erst einmal grundiert Erinnerung als Erfahrung das
eigene Denken, den "Weltzugang". Mehr aber noch: das "Format",
die Art und Weise, in der wir Erinnerung abspeichern, prägt im Moment selbst
das Erleben. Man wird sich vorstellen können, daß das vermutlich
mehr automatische Erinnern der Tiere sich von dem suchenden Erinnern der Menschen
unterscheidet – und daß letztere Art von erweiteter Erinnerung immer
schon in die erinnerungsprägende Wahrnehmung zurückwirkt. Bergson
beschrieb folgerichtig die Aktualität als die Gegenwartsspitze einer fortwährend
breiter werdenden Erinnerungspyramide.
Der Mensch wird darüberhinaus permanent mit anderen Erinnerungen konfrontiert,
alles wirft Geschichte auf, wir bewegen uns in einem "Weltgedächtnis"
(Deleuze).
Man wird von einem Autor, der seinen Lyrikband ambitioniert "Gedächtnisformate"
betitelt, erwarten, daß seine Gedichte sich zwischen intimer Innerlichkeit
und Ausfahrt in die Welt bewegen, daß er formale Formate mit inneren Wortlichtspielen
in Übereinstimmung bringt. Marcus Roloff geht keinen einfachen Weg, das
wird ihm bewußt sein. Wie viel einfacher wäre es, wie so manche der
jüngeren, ein variables Verfahren zu entwickeln – und dann zu schauen,
was sich, Mal um Mal, ergibt. Marcus Roloff trägt aber einen Anspruch hoch:
"Gedächtnisformate".
So wundert es nicht, daß sich in seinem Band viele Wörter und Satzteile
finden, die man als "Anleihen" verstehen könnte und man wird
dann dieses, jenes in den Gedichten Roloffs erkennen. Allerdings nicht wiedererkennen.
Roloff orientiert sich nicht labelgerecht an ein-zwei bekannten Autoren, die
er dann verfahrensmäßig weiterführte, im fliessenden sound,
sodaß man sich leicht zurechtfände, sondern geht einen tastenden,
stets jedes Wort neu aufsuchenden Weg. Er schlägt sich geradezu durch von
Satz zu Satz – nur manchmal, aufblitzend, erhaschen wir ein Panorama.
Beobachtung – Assoziation – Reflexion durchdringen sich –
und führen zurück in die beobachtete, nun die Gedächtnis-Welt.
Gedächtnis spricht ja schon von mehr als von Erinnerung, von dem, was auch
für andere begreifbar sein müßte, es scheint etwas objektiver
sein zu wollen (als "Erinnerung").
Das lyrische Ich in den Gedichten Roloffs sucht nicht primär Erinnerungen
auf, es erkundet, wie wir sie in den Griff bekommen, mehr noch: wie die Erinnerung
und Gedächtnis uns im Griff haben. So ist der Weg, wie der jeder echten
Erinnerung (die nach Deleuze nur aufsucht, was sei nicht findet, da sie sonst
in einem Automatismus mündet) – schwankend.
Roloff schichtet, klumpt oder, je nachdem, faltet auseinander: besonders schön
auch in den Klammern, die mir vertraut vorkommen in der Verwendungsweise –
nahe, im Kopf – die fremde Schichten einfügen.
Mit dem Kapitel "gärten&schlösser" beginnt sein Buch,
quasi mit Spaziergängen – und endet mit "formate". Jede
seine Wahrnehmung ist schon von Motiven, Gedächtnisanzeichen, und - gefährlich
durchaus – Metaphern durchsetzt: "hinter den baumkronen hält
ein schlusslicht/ die ferne bereit./ zersprungen lehnt sich die jahreszeit in
den/ gehstock zurück." (der winter)
Betrachtet jemand hier die Kindheit – oder beginnen gar "die/ kindheiten
(...) dich zu betrachten" (Perpetuum)? Immer wieder senkt er graubleie
Wörter in die aufflackende Wahrnehmung und beschwert sie. Manches verschraubt
sich zu Wortgebilden, die Celansche Höhenluft atmen wollen ("geschwengelte
laune" (september), "ein dohlenschwarz rudert im blau (...)
wenn die namen zurückfluten" (die namen)). Anderes erdet
sich schroff und durchaus ironisch ("ewige pappnasigkeit" (interimsgöttingen)).
Die Gedichte berühren vieles auf zum Teil sehr divergente Art. Wir finden
eine Vielstimmigkeit oder vielfache Verwurzelung im einzelnen Wort.
Es wird klar: es ist durchaus nicht klar, "welches format" grade "unter-/
stützt wird" (formate). Keine Redestrom, kein Erinnerungskatarakt.
Eher: Stauungen, Brocken, "also knirschen sand&proviant im satz-/ getriebe"
(gar nichts). Was wir gewinnen dafür, sind Verse, die sich nicht
selbst erledigen im Gelingen, im Effekt, die Anschluss suchen und ausbaufähig
sind. Die einer verkerbten, verknoteten, oftmals "enterbten" und doch
ahnenden, ahnungsvollen Wahrnehmung Tribut zollen - an entlegenen Stationen,
in "zersiedelten" (sète) Arealen.
Es geht also nicht um sentimentale Erinnerungen, sondern um ein Gedächtnis,
in dem die Welt wiedergespiegelt wird, sich wiederholt, mit dem ganzen Schmodder
der Geschichte: "verklären z.b. das/ weltei. grüner pudding/
aus engelsgeduld" (denken oder sagen oder leuchten). Oder wir
können sehen, wie etwas (in das Gedächtnis, das Vergessen, in die
Sprache?) sackt ("angeschwemmte sprüche", "klöße
im hals", "wringmeister" – offener abend. tribüne).
Mitunter: interessante Exentrik der Wortwahl – aber sie entspringt bei
Roloff sicherlich nicht nur einer Liebe zum Detail, zum Wort – in seiner
Sprache zeichnet sich die Absurdität der Welt, besser: die potentielle
Inkommensurabilität zwischen Wahrnehmung und Sprache oder Ich ab. Roloff
versteht Gedächtnis nicht als Verklärungs-Fundus für ausgeleierte
Wiederaufnahmen des ewig gleichen Spektakels, sondern geht den Verklumpungen
nach, den schwarzen Flecken und der Fragwürdigkeit des Abspeicherns. Prozesse,
natürlich sprachliche.
Das kann das immer wieder überraschend prägnant werden, sich straffen,
so zum Beispiel, eine der schönsten Zeilen, ausgehend von einem Spaziergang,
der in einen Stillstand mündet, in sète: "totenlampe,
totale sonne, seeblick, tief/". Knapper scheint es in der Tat kaum zu gehen,
das sitzt. Und dann eben doch: setzt in Bewegung, stößt an, davon
dürfen wir ausgehen bei diesen Gedichten.
Hendrik Jackson
Die in Klammern stehenden Kursiva sind dem Band Gedächtnisformate entnommen,
Gutleutverlag, Frankfurt am Main 2006
Der Essay erschien in Ostragehege 47, 2007