totenlampe, totale sonne
zu Gedichten von Marcus Roloff


GÄRTEN & SCHLÖSSER
dass herbst ist & licht aus himmel um
himmel, jahrlang erzeugter erzeuger-
atem ist notwendig gar keine frage, fällt
wenn er ab & zu sickert ins bild der gärten
zum beispiel & schlösser von potsdam, ab-
wärts, zum abspann, letzte rolle, nach hause
gehende gänge durch glasmauern mit
sonne säulen & blaupausen, grund der
taschen, voller straßen & plätze, jacobis
vatergott im gepäck, nur nass gewordene
kekse, ein leben lang als gedächtnis-
stütze für nachher.


SÈTE
die toten sind immer die andern
auch am meer, vor dem sich der
friedhof aufstellt: zersiedelte
hügelgebrüder mit dem abgebrochenen
lebensfaden, kreuze wie notlicht.
totenlampe, totale sonne, seeblick, tief
ist die ruhe über den christussymbolen
vom schreibtisch aus der charakter der
schatten mediterran, wie man sagt
beträufelt vom lichtschwenker.


WANNSEE (EINUNDZWANZIGSTER ELFTER)
wer ist dein(e) seelenleiter, doch nicht etwa die
VOGEL (ps: mein johannes mein tasso mein weirauch &
myrrhen mein lehrer & mein schüler mein armer kranker
heinrich) ihr gings ans herz & du mit dem kinn auf
der brust, zusammengeplumpst in der streusandbüchse.
oder (seelenwanderungsulk): dreitausend sonnen, berufen
zum flächenbrand, zum ausglühenden first, ball (ober-
stübchen) die schädeldecke bleibt heil. oder ewiger
wannsee, der kronleuchter flackert (reden wir klartext
: die eiche im sturm) frei nach achills staubtanz nummer
drei oder HEINRICH DIE LAMPE BRICHT augentümpel
keine farbe mehr fürs angebetete abbild.

(Marcus Roloff)

Es ist eine alte, aber selten akut realisierte Erkenntnis, daß nicht nur die Gegenwart selektiv darüber entscheidet, was wahrgenommen und Erinnerung wird, sondern, daß auch die Erinnerung beeinflusst, was Gegenwart ausmacht. Dies in zweifachem Sinne: erst einmal grundiert Erinnerung als Erfahrung das eigene Denken, den "Weltzugang". Mehr aber noch: das "Format", die Art und Weise, in der wir Erinnerung abspeichern, prägt im Moment selbst das Erleben. Man wird sich vorstellen können, daß das vermutlich mehr automatische Erinnern der Tiere sich von dem suchenden Erinnern der Menschen unterscheidet – und daß letztere Art von erweiteter Erinnerung immer schon in die erinnerungsprägende Wahrnehmung zurückwirkt. Bergson beschrieb folgerichtig die Aktualität als die Gegenwartsspitze einer fortwährend breiter werdenden Erinnerungspyramide.
Der Mensch wird darüberhinaus permanent mit anderen Erinnerungen konfrontiert, alles wirft Geschichte auf, wir bewegen uns in einem "Weltgedächtnis" (Deleuze).
Man wird von einem Autor, der seinen Lyrikband ambitioniert "Gedächtnisformate" betitelt, erwarten, daß seine Gedichte sich zwischen intimer Innerlichkeit und Ausfahrt in die Welt bewegen, daß er formale Formate mit inneren Wortlichtspielen in Übereinstimmung bringt. Marcus Roloff geht keinen einfachen Weg, das wird ihm bewußt sein. Wie viel einfacher wäre es, wie so manche der jüngeren, ein variables Verfahren zu entwickeln – und dann zu schauen, was sich, Mal um Mal, ergibt. Marcus Roloff trägt aber einen Anspruch hoch: "Gedächtnisformate".

So wundert es nicht, daß sich in seinem Band viele Wörter und Satzteile finden, die man als "Anleihen" verstehen könnte und man wird dann dieses, jenes in den Gedichten Roloffs erkennen. Allerdings nicht wiedererkennen. Roloff orientiert sich nicht labelgerecht an ein-zwei bekannten Autoren, die er dann verfahrensmäßig weiterführte, im fliessenden sound, sodaß man sich leicht zurechtfände, sondern geht einen tastenden, stets jedes Wort neu aufsuchenden Weg. Er schlägt sich geradezu durch von Satz zu Satz – nur manchmal, aufblitzend, erhaschen wir ein Panorama. Beobachtung – Assoziation – Reflexion durchdringen sich – und führen zurück in die beobachtete, nun die Gedächtnis-Welt. Gedächtnis spricht ja schon von mehr als von Erinnerung, von dem, was auch für andere begreifbar sein müßte, es scheint etwas objektiver sein zu wollen (als "Erinnerung").
Das lyrische Ich in den Gedichten Roloffs sucht nicht primär Erinnerungen auf, es erkundet, wie wir sie in den Griff bekommen, mehr noch: wie die Erinnerung und Gedächtnis uns im Griff haben. So ist der Weg, wie der jeder echten Erinnerung (die nach Deleuze nur aufsucht, was sei nicht findet, da sie sonst in einem Automatismus mündet) – schwankend.
Roloff schichtet, klumpt oder, je nachdem, faltet auseinander: besonders schön auch in den Klammern, die mir vertraut vorkommen in der Verwendungsweise – nahe, im Kopf – die fremde Schichten einfügen.

Mit dem Kapitel "gärten&schlösser" beginnt sein Buch, quasi mit Spaziergängen – und endet mit "formate". Jede seine Wahrnehmung ist schon von Motiven, Gedächtnisanzeichen, und - gefährlich durchaus – Metaphern durchsetzt: "hinter den baumkronen hält ein schlusslicht/ die ferne bereit./ zersprungen lehnt sich die jahreszeit in den/ gehstock zurück." (der winter)
Betrachtet jemand hier die Kindheit – oder beginnen gar "die/ kindheiten (...) dich zu betrachten" (Perpetuum)? Immer wieder senkt er graubleie Wörter in die aufflackende Wahrnehmung und beschwert sie. Manches verschraubt sich zu Wortgebilden, die Celansche Höhenluft atmen wollen ("geschwengelte laune" (september), "ein dohlenschwarz rudert im blau (...) wenn die namen zurückfluten" (die namen)). Anderes erdet sich schroff und durchaus ironisch ("ewige pappnasigkeit" (interimsgöttingen)).
Die Gedichte berühren vieles auf zum Teil sehr divergente Art. Wir finden eine Vielstimmigkeit oder vielfache Verwurzelung im einzelnen Wort.
Es wird klar: es ist durchaus nicht klar, "welches format" grade "unter-/ stützt wird" (formate). Keine Redestrom, kein Erinnerungskatarakt. Eher: Stauungen, Brocken, "also knirschen sand&proviant im satz-/ getriebe" (gar nichts). Was wir gewinnen dafür, sind Verse, die sich nicht selbst erledigen im Gelingen, im Effekt, die Anschluss suchen und ausbaufähig sind. Die einer verkerbten, verknoteten, oftmals "enterbten" und doch ahnenden, ahnungsvollen Wahrnehmung Tribut zollen - an entlegenen Stationen, in "zersiedelten" (sète) Arealen.

Es geht also nicht um sentimentale Erinnerungen, sondern um ein Gedächtnis, in dem die Welt wiedergespiegelt wird, sich wiederholt, mit dem ganzen Schmodder der Geschichte: "verklären z.b. das/ weltei. grüner pudding/ aus engelsgeduld" (denken oder sagen oder leuchten). Oder wir können sehen, wie etwas (in das Gedächtnis, das Vergessen, in die Sprache?) sackt ("angeschwemmte sprüche", "klöße im hals", "wringmeister" – offener abend. tribüne). Mitunter: interessante Exentrik der Wortwahl – aber sie entspringt bei Roloff sicherlich nicht nur einer Liebe zum Detail, zum Wort – in seiner Sprache zeichnet sich die Absurdität der Welt, besser: die potentielle Inkommensurabilität zwischen Wahrnehmung und Sprache oder Ich ab. Roloff versteht Gedächtnis nicht als Verklärungs-Fundus für ausgeleierte Wiederaufnahmen des ewig gleichen Spektakels, sondern geht den Verklumpungen nach, den schwarzen Flecken und der Fragwürdigkeit des Abspeicherns. Prozesse, natürlich sprachliche.
Das kann das immer wieder überraschend prägnant werden, sich straffen, so zum Beispiel, eine der schönsten Zeilen, ausgehend von einem Spaziergang, der in einen Stillstand mündet, in sète: "totenlampe, totale sonne, seeblick, tief/". Knapper scheint es in der Tat kaum zu gehen, das sitzt. Und dann eben doch: setzt in Bewegung, stößt an, davon dürfen wir ausgehen bei diesen Gedichten.


Hendrik Jackson

Die in Klammern stehenden Kursiva sind dem Band Gedächtnisformate entnommen, Gutleutverlag, Frankfurt am Main 2006
Der Essay erschien in Ostragehege 47, 2007