Rolandslied

Und gingen wir durch meine Mutterstadt
fast lautlos, sprach er nichts, als bliebe es so
ungesagt und lag in diesem Sommertag
ein heißes Flüstern, gab uns kein Baum,
kein Tunnel Schatten, ließ meine Hand von
seiner Hüfte ab und fragte er mich nach
des Laudons Grab – ich weiß nicht, glaub,
er wollte nicht mehr weiter,
mein Vater.


Weyhe

Wie wir zuletzt mit Vögeln Riten feiern,
das Ministrantenkleid ein Oberhemd
mit Federn als Manschetten, es ist
so spät in dieser flachen Gegend – und alles
protestantisch, sagst du zu mir
und auch: wie jener Milan dort
im Sturzflug starb und auf dem Feld
ein Rest von Rauch, ein Sengen
in den Augen,
in den Venen.


Geweihe

Das Spiel ist abgebrochen. Wie sollen wir
jetzt noch an Märchen glauben? Die Äste
splittern nachts nicht mehr, kein Wild,
das durch die Wälder zieht und das Gewitter
löst sich in Fliegenschwärmen auf. Gleichwohl,
es bleibt dabei: Das Jucken unter unsern Füßen
ist kein Tannenrest, kein Nesselblatt, wir folgen noch
dem Dreierschritt, den sieben Bergen und auch
dem Rehkitz Brüderchen und seiner Liebsten.
Erzähl mir die Geweihe an die Wand, erzähl mir
Nadeln in die Fliegen. Im rechten Moment
vergaßen wir zu stolpern.
Schneewittchen schläft.

Nora Bossong

Das Ende vom Anfang des Endes
Zu drei Gedichten von Nora Bossong


Schon als ich mich das erste Mal durch eine längere Strecke von Nora Bossongs Gedichten las, fiel mir ein älterer Cartoon von Gary Larson ein: Drei oder vier Kühe stehen aufrecht auf ihren Hinterläufen, offenbar in ein anregendes Gespräch vertieft, auf einer Wiese nahe einer Landstraße. Am Horizont eine weitere Kuh, ebenfalls aufrecht, die Wache schiebt und plötzlich warnend „Car!“ ruft. Das letzte Bild im Strip zeigt ein Auto mit Menschen besetzt, das an einer friedlich auf allen Vieren grasenden Gruppe von Kühen vorbei fährt.

Nicht daß Nora Bossong komische Gedichte schriebe, und auch was die Tiere betrifft, die in ihren Texten durchaus vorkommen, liegen ihr die geflügelten Wesen näher. Nein, was mich auf Gary Larson brachte, war die Ahnung, das Wesentliche könnte genau dann geschehen, wenn man gerade nicht hinsieht. Oder auf die Texte von Nora Bossong bezogen: Die eigentliche Geschichte liegt jenseits des Gedichts. Denn sie scheint tatsächlich häufig Geschichten zu erzählen. Wohlgemerkt: scheint. Es ist vielmehr ein erzählerischer Gestus, eine Art rhetorischer Haltung, die vielen ihrer Gedichte eigen ist. Was sie jedoch schließlich im Gedicht einfängt, sind eher äußerst komprimierte, szenisch gedachte Momentaufnahmen zwischen den Geschichten. Jene zeit- und zumeist auch ortlosen Zwischenräume zwischen dem, was soeben aufgehört hat, und dem, was vielleicht sehr bald beginnen könnte. Gewissermaßen das Ende vom Anfang des Endes.

Nehmen wir das Gedicht „Rolandslied“ zum Beispiel. Ein Heldenepos? Auf neun Zeilen? Nein, aber eben ein sehr erzählerischer Einstieg: „Und gingen wir durch meine Mutterstadt / fast lautlos, sprach er nichts [...] “. Wir könnten, wenn wir wollten, schon hier einen biographischen Konnex erstellen. Nora Bossong wurde 1982 in Bremen geboren, dort steht der Roland recht zentral. Aber brächte uns das weiter im Text? Kaum. Das besorgt der Text schon selbst: „als bliebe es so / ungesagt und lag in diesem Sommertag / ein heißes Flüstern [...]“. Über die Lautfolge sagt - lag - tag geraten wir dezent aber sehr bestimmt ins Zentrum einer intimen Szene, konturklar und schattenlos gezeichnet, die jedoch im Enstehen schon wieder vergeht: „ließ meine Hand von / seiner Hüfte ab [...]“. Lesen wir hier von einem dieser fragilen Augenblicke in einer Beziehungskrise? Ja und Nein. Eine harsche Zäsur wirft uns aus der Bahn und bringt uns auf eine neue Spur. In einer seltsam altertümlichen Wendung fragt „er“ nach „des Laudons Grab“. Will da jemand wirklich wissen, wo ein österreichischer Feldherr des 18. Jahrhunderts begraben liegt? Jedenfalls fragt da einer definitiv in die Geschichte zurück und will „nicht mehr weiter“. Mit der letzten Zeile kippt das Gedicht vollends in eine andere Lesart: „mein Vater“. So schließt sich die Klammer zur „Mutterstadt“. Das Gedicht wird zum Spot auf einen Dissoziationsmoment. Vor dem Text wie auch danach findet irgendeine Familiengeschichte statt. Im Gedicht selbst aber sucht ein Ich nach Position: „ich weiß nicht, glaub“. Glauben heißt Nicht Wissen. Ein gewaltiger Zwischenraum, vermessen in neun Zeilen.

Andernorts: „Weyhe“. Wieder so ein eigenartiger Titel. Könnte das die mittelhochdeutsche Schreibweise von „Weihe“ sein? Wie in „Kirchweihe“ zum Beispiel? Das „Ministrantenkleid“ in der zweiten Zeile deutet jedenfalls in diese Richtung. Wir recherchieren ein wenig. Das schadet selten. Weyhe ist ein kleiner Ort in Niedersachsen, grenzt südlich an Bremen: „in dieser flachen Gegend - und alles / protestantisch [...]“. Soweit hätten wir die Topographie des Gedichts schon einigermaßen sortiert. Aber wie verorten wir diese starke Eingangszeile: „Wie wir zuletzt mit Vögeln Riten feiern“? Wieder diese erzählende Geste. Die „Riten“ fügen sich ganz gut zum „Ministrantenkleid“, die Vögel allerdings sind doch zunächst befremdlich. Zumal sich hier „mit Vögeln“ zwischen Dativ Plural und dem sustantivierten Verb ein recht schlüpfriges Gelände auftut. Im Klartext praktiziert hier ein Paar das Ficken als Ritual im Endstadium einer Beziehung, klischeehaft aufgeladen durch die Ambivalenz von nüchtern protestantischer Verrichtung und symbolisch ornamentalem Katholizismus. Aber woher die Vögel (jenseits des bloßen Kalauers)? Woher die „Federn als Manschetten“? - Die „Weihe“ bezeichnet eine Raubvogelart; noch leidlich bekannt könnte vielleicht die Kornweihe sein. Habichtsvögel allesamt. Der „Milan“, der in der zweiten Strophe „dort / im Sturzflug starb [...]“, gehört ebenfalls in diese Gattung. Erneut ist Recherche vonnöten: Wir erfahren, daß der Milan gerne, als er noch Gelegenheit dazu hatte, nach Waldbränden das eine oder andere glimmende Hölzchen aufhob und zum Zwecke der Brandrodung, Bodendüngung oder Beuteaufscheuchung in andere, vom Feuer bisher unbeleckte Areale trug: „und auf dem Feld / ein Rest von Rauch, ein Sengen“. Dieses Sengen ist einer sehr konzentrierten Arbeit am Wort geschuldet, an der Etymologie wie an der Semantik. Und wieder lasen wir staunend von einem winzigen Moment zwischen den Geschichten mit einem Sengen „in den Augen, / in den Venen.“ Jedoch unbedingt in Herzrichtung.

Schließlich, vorerst, nach all den Weihen die „Geweihe“: „Das Spiel ist abgebrochen.“ Wir könnten für das Spiel auch die Geschichte setzen. Vielmehr: die Geschichten. In diesem Fall die Märchen, die mit dem „Brüderchen“, dem „Rehkitz“ und den „sieben Bergen“ nur noch zitiert werden. „Die Äste / splittern nachts nicht mehr [...]“. Das Dunkle hat seinen Zauber verloren, die Illusionen sind verstaubt, die Utopien auf Realmaß eingedampft: „das Gewitter / löst sich in Fliegenschwärmen auf.“ Dennoch steckt im Zentrum des Gedichts ein trotziges Festhalten an den Projektionen der Phantasie: „es bleibt dabei: das Jucken unter unsern Füßen / ist kein Tannenrest, kein Nesselblatt [...]“. Aber was ist es dann? Die erbarmungslose Vermeidung von all dem, was es vielleicht sein könnte, folgt auf - nicht unter - dem Fuße: „Erzähl mir die Geweihe an die Wand, erzähl mir / Nadeln in die Fliegen.“ Präziser, brutaler könnte die Erkenntnis, nach der jede Geschichte im Erzählen schon ihres Zaubers, ihrer Gültigkeit beraubt wird, kaum formuliert werden. Präziser und brutaler könnte Nora Bossong ihre Poetik des Zwischenraums nicht formulieren.

Das Ende vom Anfang des Endes: „Schneewittchen schläft.“ Aber was, wenn sie aufwacht? Auch nach der x-ten Strecke durch die Gedichte Nora Bossongs höre ich mit der jeweils letzten Zeile aus der Ferne Jemanden aufrecht rufen: „Car!“


Nicolai Kobus