Wiesengrundsätzlich
Zu S. Kiefers Essay "Was kann Literatur"
Kritik an der Kritik ist ein beliebtes Spiel, vor allem
im Literaturbetrieb. Nur wird dabei zumeist der Gegenstand vergessen: die Literatur.
Nach ihr fragt so direkt wie naheliegend der Berliner Kritiker Sebastian Kiefer
in einem längeren Essay unter dem Titel: „Was kann Literatur?“.
Und das ist in aller Einfachheit exakt die Frage, die Literaturschaffende wie
Kritiker sich gleichermaßen gelegentlich stellen sollten.
Einfach allerdings macht sich Kiefer die Sache nicht. Zunächst einmal wundert
er sich wiesengrundsätzlich über das Verhältnis der Literatur
zu ihrem Material, der Sprache. Sklavisch gebunden ist diese an jene. Bildende
Künstler bewegen sich schon lange jenseits von Farbe, Leinwand, Gips und
Bronze. Komponisten haben nicht erst seit Cage Parameter wie Geräusch und
Stille, also die Abwesenheit von gestalteter „Musik“, für sich
entdeckt, was die Anwesenheit struktureller Prinzipien, also die Komposition,
keineswegs störte. Die Literatur aber bleibt zurückgeworfen auf leere
Seiten und die Optionen des Alphabets. Umso verwunderlicher erscheint Kiefer
eine Art von Reflexionsverweigerung in der Literatur. Während Musik und
bildende Kunst, selbst Architektur, sich ständig in einem ästhetischen
Diskurs befinden, der die Möglichkeiten des Materials immer wieder mit
dem Gestaltungswillen der Künstler, den Projektionen und Utopien abgleicht
und so erst einen fortdauernden Begriff von Moderne ermöglicht, verharrt
die Literatur behaglich vor einem ästhetischen Horizont aus dem 19. Jahrhundert.
Mehr oder minder. Die Ausnahmen findet Kiefer in der Lyrik. In der Prosa seien
seit Musil und Gertrude Stein ohnehin keine nennenswerten Schritte unternommen
worden. (Wir pflichten im Rundumschlag bei, verweisen im Detail aber nachdrücklich
auf Beckett, Schmidt oder Jirgl.) Ausgehend von neueren Grammatikmodellen, nach
denen nicht das Wort oder das Morphem sondern der Satz als kleinste kommunikative
Einheit der Sprache gilt, pflügt sich Kiefer durch die Literaturgeschichte
von Klopstock und Hölderlin bis in die Gegenwart und demonstriert, wie
sich der poetische Umgang mit Satzstrukturen im Laufe der Zeit gewandelt hat.
Er definiert: „Poesie ist die Kompositionslehre der Erscheinungsformen
des Satzes“, um ziemlich souverän auch die seriellen Experimente
der Konkreten Poesie und selbst die Lautpoesie als von Satzmodellen abhängige
Formen der Dichtung auszuweisen. Den Grad der Avanciertheit bemisst Kiefer dabei
an der Art und Weise, wie die Texte konventionelle Satzerwartungen unterlaufen
und sabotieren. Der subtile Kniff seiner Methode ist, dass über die Konvention
auch ein direkter Zeitbezug hergestellt wird: „Poetisch komponierte Sätze
sind solche, die erforschen, welche kompositorischen Mittel sich wie
auf das Verhältnis von körperlicher Lautproduktion, Welt, Bewußtsein
und Wortbildungskonvention auswirken.“
Derart sprachanalytisch grundiert und erkenntnistheoretisch abgefedert gelangt
Kiefer zwangsläufig zu seinen gegenwärtigen Beispiellieferanten wie
Priessnitz, Schmatz, Czernin und Stolterfoht. Dass die Strecke mit polemischer
Verve durchmessen wird, versteht sich. Sie gipfelt in der Forderung, man möge
doch die Feuilletons räumen von all den Homestories, Empfindungsnotaten
und philologischen Spiegelfechtereien, um endlich Platz zu schaffen für
eine gründliche Beschäftigung mit den wirklichen Abgründen zwischen
Subjekt, Objekt und Prädikat.
Es ist, bei aller Polemik, im Kern ein dogmatischer Ansatz, weil er allen anderen
Spielarten der Literatur eine ästhetische Relevanz auf Höhe der Zeit
abspricht. Aber es ist auch ein gewinnbringender Ansatz, weil er dem Nachdenken
über Literatur eine konkrete, auf das Material konzentrierte Substanz zurückgibt,
mithin ein brauchbares Werkzeug nicht zuletzt für die Kritik. Vergessen
wir also Gnostiker und Emphatiker und streiten uns lieber mit den Dogmatikern.
Nicolai Kobus
Sebastian Kiefer: „Was kann Literatur?“, Droschl, Graz 2006