Die brodelnde Ursuppe der Jugend
Ulf Stolterfohts Gedichte auf einer Achterbahnfahrt durch den schwäbischen Herbst


Diese Gedichte vereinen alles, was Traditionalisten moderner Lyrik gerne vorwerfen: Sie scheinen formlos, ihr Inhalt wirkt auf den ersten Blick absurd unverständlich. Ja, diese Gedichte sind ein Affront. Ein riesiger chaotischer Wortsalat: „oberkünftig herles in der grand-/ iche ruchekitt schefft ein nille. der hauret link.” Zum Glück schickt der Dichter sogleich eine Übersetzung hinterher: „hier oben,/ in dem großen bauernhaus, lebt ein geistesgestörter mensch./ der ist sehr böse.” Das klingt nun wahrlich nicht nach schöner Literatur. Geistesgestört, ja, das schon eher.
Die moderne Lyrik ist vielen so verdächtig wie Zigeuner und anderes fahrendes Volk. Dabei ist dieses von jeher die natürliche Gesellschaft des Dichters, des von Ort zu Ort ziehenden, Geschichten und Sprachen sammelnden Sängers. Ulf Stolterfoht, einer der witzigsten und gewitztesten Dichter dieses jungen Jahrhunderts, hat sich nun dieser Tradition besonnen. Nach seinen drei furiosen „Fachsprachen”-Bänden ist er vom Jargon der Philosophie und Literaturtheorie zum Slang der Straße gewechselt. Mit Mitte vierzig wagt er einen Rückblick auf die Sprache seiner Herkunft: „holzrauch über heslach” heißt sein neuer Gedichtband.
In Heslach, seinem Herkunftsort, einem Stadtteil Stuttgarts, scheint es Ende der siebziger Jahre weit aufregender zugegangen zu sein als im Berlin von heute, dem aktuellen Wohnort Stolterfohts. Auf jeden Fall kracht und scheppert, jubelt, lacht und knattert es in diesen Erinnerungsgedichten an allen Ecken und Enden. Denn in Stolterfohts Heslach wird in vielen aufregenden Zungen gesprochen: dem Manischen, Jenischen oder Matzenbacherischen. Regionale Dialekte dies alles, und auf ihre Art auch Geheimsprachen. Ganz anders als etwa das platte Berlinerisch.
„ich will mich daran reiben. selbst anfangen zu schreiben” heißt es am Ende von „holzrauch über heslach”, und tatsächlich begegnet man in diesem Band einem Schreiben vor dem Schreiben. Es wird in diesen Gedichten nichts „gesagt”. Und auch wenn immer wieder Umstände des Lebens im bundesrepublikanischen Schwabenland anklingen, so könnte man doch nie sagen, es ginge um LSD-Trips, um politisches Engagement, die RAF oder den Free Jazz. Man könnte nicht einmal behaupten, was sonst die letzte Rettung ist, es ginge in diesen Gedichten „um Sprache”. Eher lässt sich sagen: Hier geht die Sprache. Außerdem rennt sie, stolpert und tanzt, macht erste und letzte Schritte.
„kluft löte mit luft”: Häufig fungieren Reime bei Stolterfoht als Textgenerator, wie in Rap-Songs befeuert ein Reimwort das nächste. Formlos sind die sechszeiligen Strophen, aus denen sich der neunteilige Gedichtzyklus zusammensetzt keineswegs, ganz im Gegenteil, sie strotzen vor Formen, probieren verschwenderisch alles aus, quellen über vor Tradition: Gleich fällt einem Oskar Pastior ein, wenn Stolterfoht Palindrome bildet: „amok/koma”. Einem Gedicht Helmut Heißenbüttels entstammt der Titel des ganzen Bandes. Ezra Pound, Johann Fischart und Johann Michael Moscherosch werden angerufen. Und immer wieder begegnet man Thomas Kling in diesen Versen. Auch Inger Christensen, deren „Alfabet” sich Stolterfoht kalauernd anverwandelt: „okay, okay, die stachelbeersträucher gibt es, mag es geben, und auch den ribiselstrauch – nichts aber darüber hinaus!”
Jemand anders hätte einen Bildungsroman geschrieben. Ulf Stolterfoht setzt dem Leser dagegen die brodelnde Ursuppe seiner Jugend vor. Kein abgeklärter Rückblick, sondern ein radikaler Versuch, die damals frei werdenden Kräfte noch einmal heraufzubeschwören. Unverkennbar spricht hier ein Mann, genauer: einer von diesen Männern, die fast autistenhaft ihre Steckenpferde reiten. Bei Stolterfoht und seinen Heslacher Kumpanen sind die Steckenpferde Lyrik, Drogen und improvisierte Musik. Und auch die „büdchen, kaschemmen, schwemmen, stehbierhallen”, in denen man Gleichgesinnte trifft: „zarteste lesbenge-/ schwader, behauptete prager; linke glatzen, frisch konvertierte katzen, total-/ versager; das gesamte manische lager, vaihinger massai und – was uns ganz/ besonders freut: auch ein paar matzenbacher leut.”
Durchgeknallte Freaks eben, die berauscht ihre Verse schmieden und hinterher vor ihnen stehen wie der überraschte Leser vor „holzrauch über heslach”: „oft ließ das scheinbar mühe-/ los erreichte den schaffer sprachlos zurück: er verstand/ die eigne lyrik nicht.” Zu verstehen gibt es in „holzrauch über heslach” tatsächlich nichts. Diese Gedichte bergen kein Geheimnis. Vielmehr konfrontieren sie den Leser mit einer Überfülle: Hier schäumt die Sprache, spuckt die Erinnerungsmaschine wie ein verrückt gewordener Spielautomat unermüdlich Gedächtnismarken aus. Viel zu viel ist da, und wenn jeder sich was nimmt, bleibt immer noch was übrig. Also ordentlich zugelangt!

Tobias Lehmkuhl

Ulf Stolterfoht: holzrauch über heslach. Urs Engeler Editor, Basel 2007


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Zur Verfügung gestellt von der Süddeutsche Zeitung, 15.12.2007

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