„leer von den eigenen Sätzen“
Jörg Magenau über den neuen und den alten Sascha Anderson


Das A steht für Arschloch. Seit der Lyriker Sascha Anderson 1991 von Wolf Biermann mit derbem Vokabular und großem Medien-Krawumm als Stasi-Spitzel enttarnt wurde, hat sich das A-Wort in seinen Namen eingeschrieben. Damals, im ersten Schreck gänzlich unkonspirativer Transparenz und auf dem Höhepunkt medialer Stasi-Dämonisierung, leugnete er vor laufender Kamera seine bisherige berufliche Tätigkeit in Diensten des MfS. Doch die Indizien waren so eindeutig, dass er den Sachverhalt schließlich akzeptieren musste. Seither ist er zum exemplarischen IM der DDR-Literatur geworden, vielleicht mehr, als er es einst gewesen ist, als er zwischen Kunst und Konspiration nicht so genau zu unterscheiden wusste.

Andersons schriftstellerische Karriere – falls man die stasigestützte Umtriebigkeit zwischen Dresden und Prenzlauer Berg so bezeichnen möchte – war 1991 zu Ende. Wer heute etwas über Sascha Anderson erfahren will, sollte nicht zuerst in Literaturlexika nachschlagen, sondern in Joachim Walthers Studie über den „Sicherungsbereich Literatur“. Ein Gedichtband blieb 1997 weitgehend unbeachtet. Ein seltsames Buch mit dem hypertrophen Titel „Sascha Anderson“ sollte 2002 eine Art autobiographische Erklärung und ein literarischer Neuanfang sein, missriet aber zur nebulösen Verdunkelungsschrift. Jetzt meldet Sascha Anderson sich gleich mit zwei Titeln zu Wort: der Novelle „Totenhaus“ und dem Gedichtband „Crime Sites. Nach Heraklit.“ Beide Bücher sind in dem auf Kunst spezialisierten Frankfurter Gutleut Verlag erschienen, der dafür die literarische Reihe „black paperhouse“ startete. Sie wird redaktionell betreut von Sascha Anderson selbst und seinem Freund Bert Papenfuß, mit dem er schon zu DDR-Zeiten zusammenarbeitete, was bedeutet, dass er ihn auch bespitzelte.

Dass Anderson seine Texte selbst lektoriert, ist mehr als nur eine Randnotiz. In einem Interview, das dem Buch auf der Innenseite des Umschlags beigegeben ist, beklagt er sich über den Literaturbetrieb, der ihn einsam gemacht habe und ihm den Zugang verweigere. Er kokettiert mit seiner Rolle als geächteter Außenseiter, der Interesse allenfalls durch seine Geschichte, aber nicht durch seine Kunst erwarten darf. „Die Literatur schützt die menschlichen Verhältnisse im besten Fall vor Selbstbetrug“, sagt ausgerechnet Sascha Anderson. Ihn daran zu erinnern, dass in seinem Fall Literatur und Selbstbetrug prächtig zusammenpassten, wäre ihm nur eine Bestätigung seiner Behauptung, der Literaturbetrieb sei ein „Motor gesellschaftlicher Verkitschung“, der „keine Gelegenheit auslassen wird, mir das Gegenteil zu beweisen.“

Unter Pseudonym einen Neuanfang zu versuchen, wie Freunde ihm rieten, lehnte Anderson ab. Es wäre ja auch absurd, wenn IM „David Menzer“ alias „Fritz Müller“ alias „Peters“ nun erneut mit einem Decknamen operieren würde. Seit seiner Enttarnung ist er zu sich selbst verurteilt. Das ist sein Problem, und es ist sein Thema. Könnte er ein anderes haben? Zwei Seiten dauert es, bis in der Novelle zum ersten Mal das Wort „Staatssicherheit“ vorkommt und nur wenig mehr bis zum ersten Auftritt des Führungsoffiziers mit dem sprechenden Namen „Lauer“. Der Held heißt Friedrich Weisz und ist eine Art Alter Ego. Weisz ist IM, lebt Mitte der 80er Jahre in West-Berlin, verdient sein Geld mit Texten für Schlager, aber auch mit Diensten für die Stasi. Was er dafür tut und berichtet, erfährt man nicht. Die Gespräche mit Lauer sind eher philosophischer Natur, handeln von Freiheit und Kunst und den Lücken im System. Nicht einmal ahnungsweise kommt darin vor, was Repression und Überwachung für andere bedeutet haben könnte. Allenfalls Weisz selbst darf sich bedroht fühlen: In einem menschenleeren Hotel ohne Portier, in dem er den Zimmerschlüssel selbst vom Haken nimmt, findet er am nächsten Morgen das zweite Bett im Raum benutzt vor. Aber niemand ist da.

Weisz wirkt wie einer auf der Flucht. Aber warum und vor was? Er ist in die DDR zurückgekehrt, weil er ein Haus kaufen will, um es dann wieder zu verkaufen. Er kommt in seine alte Heimat Dresden, trifft eine Freundin wieder, schläft mit ihr im Haus ihres Vaters, der seinen Wintergarten mit Spanplatten vernagelt hat, um die Wände mit Texten zu tapezieren. Solche Bilder haben Kraft und man spürt, dass Anderson nicht aus Langeweile schreibt, sondern weil es ihn dazu drängt. Doch dann verliert sich das undurchsichtige Geschehen immer mehr in nur noch notdürftig zusammengeknüpften Episoden. Die Logik einer Erzählung wird zugunsten symbolistischer Bedeutungshaftigkeit aufgegeben. Es gibt den Plan eines Kunstraubs in einem alten Haus, und immer wieder Häuser, in denen Künstler wohnen. In einer langen Episode schildert Anderson Weisz‘ tastende Erforschung einer völlig abgedunkelten Elbvilla voller Bilder. Und im titelgebenden „Totenhaus“, dem Ziel einer rätselhaften Stasi-Operation, soll einst der Dichter Novalis Gast einer Tafelloge gewesen sein.

Novalis, nicht wie man vermuten könnte Dostojewski, ist der Bezugspunkt dieser Prosa eines selbst ernannten Außenseiters. Schon in dem autobiographischen Versuch „Sascha Anderson“ gehörte Novalis neben Heiner Müller zu den Schutzheiligen. Da behauptete Anderson, dass „Novalis mich geschrieben hat“, so sehr fühlte er sich dem Romantiker verbunden. Doch die Blume, die er sucht, ist nicht blau, sondern schwarz. Das Geheimnisvolle ist erzählerisches Kalkül einer Avantgarde von vorgestern, die ihre Bedeutung aus ihrer Dunkelheit schöpfte. Das Undeutliche stellt sich ein als kalkulierter stilistischer Effekt. Auffallend sind die vielen Pünktchen zwischen und innerhalb einzelner Sätze, ausgewiesene Leerstellen, in denen der Sinn versickert. Die Syntax ist an diesen Scharnieren bis zum eigenen Verschwinden in sich selbst verdreht. Anderson spricht in einem lichten Moment von einem „in Analogien verschraubten Gedächtnis“. Genauer lässt sich die Diagnose nicht stellen.

Die Dinge sind nie, was sie sind, sondern immer nur „wie“ etwas. Da ist von einer „wie frisierten Augenbraue“ die Rede, von einem „wie vom Wind entkernten Denken“ oder von „einer wie vorgeschriebenen Zeit“. Die Dinge werden damit zu Metaphern ihrer selbst, zu ontologischen Doppelgängern, als gäbe es keine Identität, sondern nur die Existenz in der „wie“-Form. Sascha Anderson schreibt auf sehr komplizierte Weise Geheimdienstprosa. Die mäandernde Ungenauigkeit seiner lyrischen Sprache wirkt so, als wolle er damit beweisen, dass er doch gar nichts mitteilen könne. Wer so schreibt, von dem kann auch die Stasi nicht viel erfahren haben. Seine Tragik besteht darin, dass er damit nicht mehr aufhören kann. Sollte er sich anderen Gegenständen zuwenden und eine andere Sprache finden, dann wird es heißen, er laufe vor sich selbst davon. Bleibt er aber dabei, dann wirken seine Texte – und das trifft auf Prosa und Lyrik gleichermaßen zu – wie merkwürdig verquaste Protokolle eines verquälten, autistischen Bewusstseins.

„Totenhaus“ ist ein Text aus dem Inneren der DDR, der deshalb so verstaubt wirkt, weil er keinerlei perspektivische Draufsicht andeutet. Anderson steckt mitten drin in diesem morbiden Gebäude und in dieser Figur ohne Standpunkt, ohne Ziel und ohne Boden unter den Füßen. Die Welt ist für ihn „monströse Leere“, und auch er selbst ist „leer von den eigenen Sätzen“. „Er spürte“, heißt es über den verirrten Friedrich Weisz, „dass die Leere in ihm mehr zählte als er selbst.“ Wie trostlos. Wie wahr.


Jörg Magenau


Sascha Anderson: Totenhaus. Novelle. Gutleut Verlag, Frankfurt/Main und Weimar 2006
Sascha Anderson: Crime Sites. Nach Heraklit. Gedichte. Gutleut Verlag, Frankfurt/Main und Weimar 2006