Das sprechende Auge


Mal freundschaftlich, mal grob rivalisieren sie derzeit in der deutschsprachigen Lyrik um den Vorrang: das Auge und das Ohr. Der Rhythmus zieht alle Register, um im Poetry Slam zu punkten. Vor Publikum wird er gern zum Schlagzeuger, der die Sprache im schnellen Beat über die Bühne treibt, tänzelnd über halsbrecherischen Reimen. Aber auch auf dem Papier umschmeichelt er die inneren Ohren seit geraumer Zeit wieder mit allem, was er aufzubieten hat. Und dazu gehören längst auch wieder die alten Strophenformen und klassischen Versmaße, bis hin zum Alexandriner.
Der Lyriker Nico Bleutge, 1972 in München geboren, hat schon in seinem Debütband keinen Zweifel daran gelassen, wo er hinwill: „Klare Konturen” (2006) hieß das schmale Buch. Nicht nur in den Gedichttiteln – „peilung”, „nachmittag, wechselnde sicht”, „honigwarme pupillen” – war das Auge allgegenwärtig. Die Gedichte selber traten so auf, als gäbe es das imaginäre Wesen, das in der modernen Lyrik souverän jedes Metrum und jeden Reimzwang außer Kraft setzt: das sprechende Auge.
Keine Treuherzigkeiten
Diesem Fabelwesen der klassischen Moderne schien in Bleutges Debüt alles zum Bild zu werden: „wolkiger himmel, am bildrand liegen äste aus / gestreckt über dem wasser . . .”. Da war in der Landschaft der Rahmen schon mitgesehen, und in den Bildgedichten auf Gemälde von Edward Hopper glitten die Worte an den Umrissen der Platzanweiserin im Kino entlang oder an den Beinen der Frau, die aus dem Fenster schaut. Aber zugleich war in diesen Gedichten die Einsicht enthalten, dass sie selbst Bild im Wortsinn nie werden können.
Wäre es anders, so wäre Nico Bleutge ein schlechterer Dichter. Einer, der an den Mythos vom sprechenden Auge glaubt und sich darauf verlässt, es reiche aus, die Aneinanderreihung von Worten, denen in der sichtbaren Welt ein Objekt entspricht, als „lyrische Momentaufnahmen” zu verkaufen. Mit solchen Treuherzigkeiten verschont Bleutge seine Leser. „aufgeblitzt” heißt die erste Sequenz in seinem neuen Gedichtband „fallstreifen”. Aber sie betreibt nicht Mimikry mit dem Flashlight einer Kamera.
Das Partizip Perfekt ist hier ernst gemeint, das Aufblitzen, von dem die Rede ist, längst vergangen: „. . . sie sagte schnee / die stimme, aufgeblitzt. das bild / sackte in sich zusammen, flackerte / noch einmal auf . . . ”. Eine Kindheitserinnerung umschreibt das Gedicht, mit einem knisternden Bildschirm an Sonntagnachmittagen. Um Nachbilder geht es diesem Autor, nicht um die Unmittelbarkeit der Momentaufnahme.
Selten nur ist das scheinbar sprechende, scheinbar mit Erinnerung begabte Auge dabei mit sich allein. Dem genauen Hinschauen entspricht als zweite Voraussetzung dieser Gedichte das Horchen und Lauschen, die Empfindlichkeit für Geräusche, wie am Beginn der eindringlichen Schilderung eines Besuches im Krankenzimmer: „an hände denken, an das netz, / derweil die schwester, unbesprochen, / ins nebenzimmer geht. die stille, fremder / atem durch die wand, der sonntagstee, / der auf dem tisch schon auskühlt, / trübe wird. / so liegt sie da, die augen / offen, und jedes wort zieht unberührt / an ihr vorbei.” Was hier ins Auge fällt, ans Ohr dringt, ist als Situation und Atmosphäre nachgezeichnet. Die Alternative wäre: eine Situation nacherzählen. Alles, was er kann – und er kann viel –, bietet Nico Bleutge auf, um diese Alternative abzuweisen.
Man sollte meinen, wer so sehr auf das genaue Hinschauen, auf das Nachbild setzt, der müsste vor allem auf Evidenz, auf das suggestiv visuelle Reizwort setzen. Aber es steht bei Nico Bleutge nicht im Zentrum. Ja, er hat ein großes Wörterbuch, und es gibt darin, wie in den Gedichten über Vogelschwärme und Küstenlandschaften oder im Abschnitt „wetterzone” die speziellen Begriffe der Natur- und Wetterkundigen. Einer, die „fallstreifen” aus dem Gedicht „schnell ziehende wolken”, gibt dem ganzen Band den Titel. Aber die Intensität, mit der hier Lebensmomente, Situationen nachgezeichnet werden, kommt nicht aus dem Wortschatz, schon gar nicht aus dem Einzelwort. Sie kommt aus der unaufdringlichen Rhythmisierung, aus verschatteten Jamben, aus taktvoll im Hintergrund bleibenden, wechselnden Metren, gelegentlich auch aus sparsam verwendeten Reimen.
Nicht nur das Partizip Perfekt, das Partizip überhaupt, spielt dabei eine Hauptrolle. Ins dritte Glied haben demgegenüber die Konjunktionen zurückzutreten. Mit den kausalen verschwindet ein ganzes Prinzip der Konstruktion von Zusammenhängen, mit den temporalen, von denen allenfalls einmal ein „derweil” auftaucht, verschwindet das Klima des Narrativen, möglichst knapp und unverschachtelt kommen die wenigen Relativsätze daher. Selbst das Komma verzichtet oft darauf, als Verbindung zwischen Sätzen aufzutreten, und doch entsteht nicht der Eindruck parataktischer Reihung: „kurven am himmel / zwei vögel / die sich betasten im flug / der eine tänzelt, schwebt / es zirpt / der andere / dann schlägt er zu”.
Mit vielen Dichtern – darunter H.C. Artmann und Amy Clampitt, Thomas Kling und Gunnar Ekelöf – dialogisiert Bleutge. In den Anmerkungen sind sie benannt. Besondere Beachtung verdienen die barocken Dichter. Denn zu den Küsten-, Gebirgs- und Industrielandschaften treten in diesem Band die Kriegslandschaften, etwa Spuren des Winters 1939/40 in norddeutschen Dünen. Die Augen werden zu „Brennespiegeln” wie bei Daniel Caspar von Lohenstein, über das zum „darin” verknappte „in dem” und das Partizip eröffnet sich die Sprachlandschaft von Gryphius: „dies endlich stille tal, darin der wind sich dreht / darin das kraut, genährt, zum sitzen / lädt. mich treibts doch auf . . . ”. In diesem schmalen Buch ist ein junger deutscher Dichter auf der Höhe nicht nur seiner Zeit.


Lothar Müller

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