Zerhacktes oder Zusammengehämmertes?
Über Norbert Langes Lyrik
Das junge deutsche Gedicht! Es wächst und gedeiht wohlsituiert und -behütet.
Seine Orte sind Cafés, Einkaufszentren, Schneelandschaften und Polstermöbel
mit Sojasauceflecken. Es ist narrativ und doch ohne Handlung, eine Großstadtballade,
die keinen Anfang und keine Höhepunkte kennt. Vor allem kein Ende.
Aber nein, es geht um aufmerksame Tatbestände! Um präzise Beobachtungen
und seismographisches Wahrnehmungstrullala ... So jedenfalls lehren es professorale
FAZ-Fritzen, so raunen es nach Worten kramende Sibyllen. Um Momentaufnahmen,
Belichtungen und Zooms. Um Wirklichkeitsschnitte, Grauzonen und Seinsmikroskopien.
Und es stimmt auch, denn irgendwie hat ja alles irgendwas mit Betrachtung zu
tun. Irgendwie, irgendwas, und schon sei das lyrische Produkt greifbarer geworden.
Insbesondere das wohlsituierte und -behütete, das sich nicht über
den gewohnten Horizont hinauswagt. Und wenn doch, dann ist es? ... Ach so, dann
ist es experimentell! Da muß freilich ein anderes Vokabular her, vielleicht
ein paar Klingsche Figuren, wie »Mundraum« oder »Sprechpartitur«
und: Phänomen erfaßt. Dabei ist es ganz unerheblich, daß ein
Experiment, als wissenschaftliche Methode, eigentlich genau definierte Aufstellung
von Versuchsbedingungen zwecks Überprüfbarkeit voraussetzt, zur Auswertung
und Schlußfolgerung führt und dadurch zuverlässige Kausalaussage
wird. Ein »Sprachexperiment« ist immer unverbindlich, denn Kunst
genießt, wie jeder Nichtkünstler gern verkündet, künstlerische
Freiheit ...
»Präzise Wahrnehmung« und »Experiment« sind die
feuilletonistischen Instrumente, mit deren Hilfe immer und überall alles
erklärt werden kann. Uljana Wolf unter Vollnarkose? Hendrik Jackson auf
der Weide? Silke Scheuermann im Kuschelkörbchen? – Präzise Wahrnehmung!
Sabine Scho mit entblößtem Zahnfleisch? – Experiment! Doch
mitten in diese Trostlosigkeit ein Schrei: ZERRRRHAKKT! Ausgestoßen von
Norbert Lange, ders nicht mehr aushält:
Zerrrrhakkt, heisst das: selbst die Tannen
Bretter (?) (20mm); das Reisszeug ist die
Feder, mit der der zerrrrhakkt selbst den Lack
Der der flatterflatter Gefieder-Tarnanstrich
Jetzt der Vogel in den Blick reisst tirili am Loft
Gezeter, weil dem sein Seelchen, sichtlich
Vom anderen überrascht, andere Sprache spricht;
In eine Irre Sprödigkeit [...]
Nun, was ists? »Präzise Wahrnehmung« oder »Experiment«?
Gar beides? Wie immer und überall bescheinigt denn auch hier der Buchrücken
von Norbert Langes Debütband »Rauhfasern«: »In seinem
ersten Gedichtband zeigt Norbert Lange, daß die Sprache noch immer entwicklungsfähig
ist und zu weiteren Experimenten einlädt. Seine zum Teil der Logik widersprechende
Syntax und Zeichensetzung überträgt die fragmentarische Struktur der
Wahrnehmung auf eine äußere Ebene ...« Da ist das hübsche
Paar ja wieder! Auch sonst Fragen über Fragen: Sprache entwicklungsfähig
... Etwa im Sinne der Evolution? Lädt zu Experimenten ein ... Wen und auf
welche Weise? Zum Teil der Logik widersprechende Syntax ... Zu welchem Teil
und warum?
ZERRRRHAKKT! schreit Norbert Lange, ders nicht mehr aushält. Dem diese
um sich greifende zentrifugale Beliebigkeit (auch die des eigenen Buchrückens!)
an die Gurgel geht, die Luft abschraubt, Krämpfe auslöst. Und genau
da setzt die Paradoxie der echten Avantgarden an: Nach außen hin Zertrümmern,
im Innern aber Sammeln und Stauen. Die Geste der Zerstörung, mit der in
Wirklichkeit gestaltet wird. Klangzellenarbeit: »Zerrrr« –
»Bretter« – »überrascht« – »irre
Sprödigkeit«. »heisst« – »Reisszeug«.
»hakkt« – »Lack« – »flatterflatter«.
»Tarnanstrich« – »Tannen«.
Ökonomisch gewähltes Baumaterial. Die Rute eines jeden Lauts läßt
sich im Gesamtplan verfolgen. Nirgends die Spur jener quasi naturgesetzmäßigen
Entwicklungsfähigkeit der Sprache, stattdessen letzte Rettungsmaßnahme,
um sie vor dem Verbröckeln zu bewahren. Nirgends Unlogik, vielmehr ein
Kraftakt, um dem positivistischen Schein die wahre Logik der künstlerischen
Komposition entgegenzuhalten. Nirgends Experiment um des Experiments willen,
sondern ein Zusammenhämmern dessen, was durch all die Experimentiererei
der Voraussetzungslosen zerstückelt worden ist, zu einem geformten Ganzen.
Und selbstverständlich keine »präzise Wahrnehmung«, schon
gar keine journalistisch optische. Wie auch, wenn der Dichter die Dinge nicht
anders sehen kann, als mit dem Ohr?
Klang führt zu Rhythmus, und auf beiden Ebenen erweist sich Norbert Lange
als jemand, der über ein feinfühliges und geschultes Gehör verfügt.
Im jungen deutschen Gedicht eine Rarität, aber eigentlich das Allererste,
was aufhorchen lassen müßte, wenn ein Lyriker zu sprechen beginnt.
In dieser Intensität, heißt: auf derart schmalem Raum, findet sich
eine solche Phonetik vielleicht nur bei Anja Utler, über die Thomas Kling
ja nicht umsonst sagte: »Das ist ganz selten. Sie empfindet die Sprache.
Daher schreibt sie so hart und so blitzend, so mitleidend genau.« Ganz
selten, in der Tat. Hart, blitzend, mitleidend genau sind denn auch die Verse
Norbert Langes, einfach darum weil beide Dichter die vom Aussterben bedrohte
Kunst der Instrumentation beherrschen. Und es ist eben diese Arbeit, der die
Alltagsgrammatik und -syntax fast zwangsläufig zum Opfer fallen, was nur
jemandem, der außerhalb der entstandenen Gebilde steht, als Verstoß
gegen die Logik vorkommen wird. Aber seit wann hat der gemeine Gebrauch der
Sprache Relevanz für die hochartifizielle lyrische Konstruktion? Er besitzt
keine ästhetische Komponente, die sich doch nur aus einer inneren Ordnung
heraus erklären läßt. Ein Gedicht indes folgt einer eigenen,
im übrigen wesentlich strengeren Logik: jener der Gestaltung und ist, wie
Nikolaj Gumiljow sagt, »höheres Gestammel«.
Glücklicherweise zählen Norbert Langes Gedichte nicht zu jenen Großstadtballaden
ohne Handlung. Überhaupt orientiert er sich kaum am äußeren
Geschehen, sondern entzündet sich am Wort. Es ist das Wort, das ihn anzieht,
sich unter seinen Händen – Silbe für Silbe – mit anderen
Wörtern zu einem sympathetischen Geflecht verknüpft und auf diese
Weise Thema wird, das sich nach allen Richtungen hin verzweigt. Das Wichtigste
aber ist, was jede Zeile verrät: Ihr Erzeuger kennt und liest die Weltpoesie!
Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, heutzutage aber weit davon entfernt,
eine Selbstverständlichkeit zu sein. Es sind eben all die FAZ-Fritzen und
nach Worten kramenden Sibyllen, die mit ihren vollkommen austauschbaren Hymnen
auf das, was nie und nimmer eine Basis für Kunst bilden kann, den Geschmack
und das Handwerk junger Dichter lahmlegen, indem sie ihnen suggerieren: »Eigentlich
seid ja ihr in euren Cafés, Einkaufszentren, Schneelandschaften und Polstermöbeln
mit Sojasauceflecken selbst das Gedicht.« Aber nein, der Dichter ist nicht
das Gedicht, er macht Gedichte. Wenn er es kann. Und Norbert Lange gehört
zweifellos zu denen, die es können.
Alexander Nitzberg