Anruf von weiter oben im Stammbaum
selbstverständlich kannst du ein Weltall haben. oder
nimm zwei. als Trostblüte oder gleich als Vizesituation
für einen Kopiergast. wie geht’s eigentlich? immer
noch waffenartiger Hunger? gründe doch eine Party gegen das
industrielle Kauen. und fülle bitte einige Beschreibungen
auf. du weißt ja: Sonntag ist zu.
ich bin fast noch im Halbschlamm. ich mein: diese Entität hier ist
bis auf die Faunenverfälschung okay, meine Korrekturschleife
aber noch nicht ganz zu Ende. meld dich doch bitte zurück.
am Besten im Ordner erwünscht.
ich wünsche dir noch eine gute Kontaktrealität. und am Himmel
immer ein Auch von Sonne.
Berge von Rehaus
einer vorbereiteten Köderlandschaft extrahierten wir
einen Teil des Weichbilds: eine typische Unschärfepopulation Rehe.
wir tauchten eine homöopathische Probe davon in unsere synaptische Lösung
und stellten fest, ihre Waldfunktion verlief umgekehrt reziprok
zu den Bäumen, beziehungsweise verhielt sich so (_Schrödingerflimmern).
ihre Frequenz war das Grün, ihr Medium weit größer als Null
und messbar mit Farblehren und Uhren.
einige jener Muster spalteten wir in Gestelle, Geräusche und Geometrie
(ich aber mochte vor allem die Augen, sie ergaben keine schlüssigen Werte).
wir kategorisierten sie als Paket gleichgerichteter Impulse
mit wechselndem Ort. sie überkoppelten sich und waren orthographisch
miteinander verwandt. ihre gebremste Evolution ließ uns Zeit.
so ließen wir sie radial zerfallen und gingen gelassen
in unsere Wohnungsprodukte zurück.
Souvenirfahrt
für Jan Wagner
hinter ausgiebigen Schafen lagen Premium Highlands,
die Alphalandschaft war sofort erkennbar, das adäquate Design:
tektonischer Mittelstand in seinen besten Jahren. du sprachst
von gemeinsamem mounting, einige egozentrische Pubs später
von manischer Ernte. wer weiß, diese Fremde war eine intransitive
Heimat – und daher gefährlich. man hielt Malzkühe,
die sich wie Malzkühe verhielten. jeder Tag enthielt vielleicht
zehn Kilogramm Schönheit. Sonnenaufgänge wie Monsune.
Niederschläge manchmal wie Licht, manchmal wie Substantive.
um uns herum so genannte Glenn-Gould-Vögel. seltsame Fenster.
auch sie basierten auf einer Chartersprache. und überbrückten
etwas, das fehlte. beim Abschied blicktest du
ihnen merkwürdig viktorianisch nach.
Rollrasen auf Selbstfahrlafette
Zu drei Gedichten von Ron Winkler
Gern sind Rehe in der Nähe, und sei es als ... Unschärfepopulation
..., auch andere Tiere, manche von ihnen mit hinreißend merkwürdigen
Eigenschaften, ... Malzkühe, die sich wie Malzkühe verhielten
... , ... hinter ausgiebigen Schafen ... – auch Wetter,
Pflanzen, Weitläufigkeiten kommen vor, in denen Wirs und Dus und Ichs sich
bewegen, die sich im einen oder anderen Moment des Gedichts fast für natürliche
Personen halten lassen, doch weiß das Lesen schon, daß es sich damit
dümmer stellt als es ist – zwar haben wir, als Leonce&Lena-Jury,
Ron Winkler vor zwei Jahren das Etikett des „Naturgedichts“ angehängt,
aber was heißt das in seinem Fall (am Beispiel von drei neueren Gedichten)?
selbstverständlich kannst du ein Weltall haben. oder
nimm zwei. als Trostblüte oder gleich als Vizesituation
Tür einen Kopiergast. wie geht’s eigentlich? immer
noch waffenartiger Hunger?
Das ist ein kleiner Test, für mich selbst, wie lange ich ein fremdes
Gedicht abschreiben will, bis mir die erste Zäsur erreicht scheint, unabhängig
von den Zeilenbrüchen und Zäsuren, die das Gedicht selbst setzt. Denn
natürlich lese ich subjektiv, auf eigene Entdeckungen aus – weshalb
nach zwei Stunden die Seiten im Notizbuch den Formeln eines wahnsinnigen Kryptologen
gleichen, mit Pfeilen und Fragezeichen durchsetzt und mit einem Beigeschmack
von Milchkaffee und halbtürkischen Gesprächen an den Nebentischen.
Fünf von zwölf Zeilen also, ehe für mich die Zäsur erreicht
ist, die das Abschreiben stoppt. Warum hier?
Die nächstliegende Vermutung richtet sich auf die Skansion, auf das Ausmessen
der Hebungen und Senkungen in den Versen, aber der Versuch ist eher halbherzig,
denn tatsächlich reizen diese dichten, langzeiligen Gebilde nicht zum Skandieren.
Sie folgen beiläufig harmonisch der deutschen Prosodie, einem natürlichen
Sprechfluß, aber ihre Spannung entsteht nicht aus einem erkennbaren Metrum.
Wie dann? Ich gebe zu, daß das eins der interessantesten Rätsel für
mich ist, auch in den Gedichten anderer jüngerer AutorInnen: daß
es darin Sätze gibt, die Verse bilden, ohne ihre gewöhnliche Satzhaftigkeit
zu verlieren. Wir kennen das aus der englischsprachigen Poesie, die der alltagssprachlichen
Prosodie folgen kann, ohne es ausdrücklich auf ein klassifizierbares Metrum
anzulegen – ein Umstand, an dem bis in die jüngste Zeit hinein für
mein Empfinden auch große ÜbersetzerInnen aus dem Englischen gescheitert
sind, weil ihre deutschen Zeilen immer noch zu sperrig oder zu belanglos klangen,
die Tonlage zu hoch oder zu flach. Andererseits haben sich Wortbestand und Syntax
der deutschen Umgangssprache in den letzten beiden Jahrzehnten spürbar
verändert, durch Übernahmen aus dem polyphonen Pop-Pidgin, der global
expandierenden Werbe- und Mediensprache und den Migrationseinflüssen. Vielleicht
ist es einfach die Offenheit für dieses veränderte, geschmeidigere,
weniger regulierte Neu-Deutsch, aus dem jüngere AutorInnen ihre poetischen
(Er-)Findungen schöpfen. Und nicht zuletzt übersetzt Ron Winkler selbst
aus dem Englischen.
Aber warum meine eigensinnige Zäsur beim Abschreiben dieser ersten fünf
Zeilen?
... waffenartiger Hunger ...
natürlich eine wunderbar doppelbödige Konsonantenhäufung, weshalb
mein euphonischer Detektor ausschlägt und die Lesebewegung zurückschleudert
zum Titel, unterwegs noch einmal die kaum weniger starke Bildung ... Trostblüte
... aufnehmend, und plötzlich schnellt Sinn in diese Titelzeile: ...
weiter oben im Stammbaum ... – „weiter oben“ demnach
ganz wörtlich, denn es steht ja weiter oben, in der Titelzeile –,
aber wann ist das? Früher oder später als „wir“ im Stammbaum?
Die Gegenwart des Angesprochenen (Angerufenen) jedenfalls sind E-mails und die
alltägliche ... Faunenverfälschung ..., und wer oder was
da spricht, sagt von sich selbst: ... ich bin noch im Halbschlamm ...,
es kokettiert mit der Aufforderung zum Rückruf ... im Ordner erwünscht
..., mit der ironischen Aussicht auf eine ... gute Kontaktrealität
... in diesem Weltall, von dem man auf der Party des industriellen Kauens
auch zwei verschlingen könnte, Hauptsache, der Nachschub ist gesichert
vor dem Wochenende, denn Sonntag wäre ja zu.
Wenn das ein Naturgedicht ist, dann kommt es jedenfalls eher prä- oder
posthistorisch daher, und durch wieviele Mutationen die Ironie darin gegangen
ist, vermag ich nicht auszurechnen. Die Formel dafür könnte Tsching-Tschang-Tschong
sein – der Stein stumpft die Schere, die Schere zerschneidet Papier, Papier
überdeckt den Stein ...
Apropos Formeln: Die poetischen Naturreize können bei Ron Winkler auch
anders zerfallen. – Was zum Beispiel mag einmal das „Hinsehen“
des hergebrachten Naturgedichts gewesen sein? Ehe Physiologie, Psychologie,
Neurowissenschaften die Spekulationen der griechischen Naturerkenntnis und die
tautologischen Tastversuche der Alchemie ablösten? So daß wir heutzutage,
nach dem Ausflug in eine beinahe erhabene Naturkulisse (Hintergrund Berge, Vordergrund
Rehe ... in der vorbereiteten Köderlandschaft ...), so uneigentlich
zurückkehren in ... unsere Wohnungsprodukte ...? Immer noch haben
wir etwas gesehen, aber was? Das Gedicht bietet uns eine Serie von pseudowissenschaftlichen
Herstellungsweisen dieses Eindrucks, eine aberwitziger als die andere, und doch
entstehen diese ... Berge von Reh ... vor unseren Augen wie eine fast
schon wirkliche Erfahrung, und die Gelassenheit, das Erholtsein von dem kurzen
Ausflug ins Anschauen einer Landschaft, fühlt sich beinahe echt an am Ende
des Gedichts.
Beinahe echt? Die Wirs und Dus und Ichs, die in den Gedichten Ron Winklers so
viele Positionen einnehmen können, haben vielleicht doch einen wahren Kern,
den ich mit den ganz realen Netzen der nachfolgend jüngeren Lyrikkohorte
identifiziere. Was immer so eine Kohorte letztlich ausmacht: die (spätestens
im Rückblick) gemeinsame Generationserfahrung, Knotenpunkte wie Berlin,
bestimmte Verlage, bestimmte Festivals, die langen Nächte in den Clubs
der nachwachsenden Dichter. Es ist auch in Ron Winklers Gedichten noch spürbar,
aber schon nostalgisch, im Bewußtsein ... einer intransitiven Heimat
... –. Diese Gedichte erscheinen als Sprungmutationen aus einem Milieu,
das sich im Sichtbarwerden bereits in eine ... Souvenirfahrt ... verflüchtigt,
... einige egozentrische Pubs später... sehen wir es in einer
... Alphalandschaft ... neuer Kataloge und Klappentexte liegen, als
... Premium Highlands ... in adäquatem Design … :
seltsame Fenster.
auch sie basierten auf einer Chartersprache. und überbrückten
etwas, das fehlte.
Dieses Fehlen ist weder ein Fehler der Gedichte noch der Kohorten, ganz
im Gegenteil: sie schlagen die erstaunlichsten Funken aus diesen digitalisierten
Feuersteinen und schweißen die seltsamsten poetischen Container daraus,
verpackt in Rollrasen auf Selbstfahrlafette. Bestelle ich also noch einen Milchkaffee.
Und genieße die Fragezeichen.
Brigitte Oleschinski