Elke Erb zum Siebzigsten Geburtstag


Da die Werke von Elke Erb in unserer Bibliothek unter „Junge Lyrik“ stehen, fällt es einigermaßen schwer, an ihren siebzigsten Geburtstag zu glauben. Die Texte der Dichterin gehören zum Lebendigsten und Innovativsten, was die deutschsprachige Lyrik derzeit zu bieten hat, weitgehend unabhängig vom Datum ihrer Publikation und gänzlich von den Lebensjahren ihrer Verfasserin, die letztere offenbar in einer anderen Ablage sammelt – in Nachbarschaft möglicherweise mit Themen wie „Steuer“, „Versicherungen“ etc. –, während ihre Gedichte und Notizen seit längerem vorbildlich aufgemacht im Verlag Urs Engeler erscheinen. Herausragende Werke sind definitionsgemäß dünn gesät, das gilt auch für den Bereich der Lyrik und für diesen vielleicht in besonderem Maße. Angesichts des Werks von Elke Erb jedoch darf man bedenkenlos „wunderbar“, „umwerfend“ oder eben „herausragend“ in Anschlag bringen. Wie weit die beglückende Wirkung dieser Gedichte reicht, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, es steht zu befürchten, dass sie nicht über die von Hans Magnus Enzensberger geschätzten ca. 1200 ernsthaften deutschen Lyrikleser hinausgeht. Unter diesen allerdings haben die Gedichte Elke Erbs einen Stellenwert wie in der bildenden Kunst die Werke eines Kiefers oder Richters – dass wir hier einen eher ungelenken Vergleich bemühen, tut der Tatsache selbst keinen Abbruch. Möglicherweise noch mehr für Elke Erb spricht, dass sie als eine von wenigen Dichterinnen über zwei Generationen hinweg auch für jüngere Autoren außerordentlich wichtig ist. Dabei wird sie keinesfalls nur mit bereits länger zurück liegende Arbeiten wahrgenommen, sondern gerade auch mit aktuellen Publikationen, etwa den Gedichtbänden „Gänsesommer“ (2005) und „Sonanz“ (2008).

Die Hochschätzung Elke Erbs gerade auch unter den jüngeren Dichtern beruht auf verschiedenen Qualitäten, fast möchte man sagen „Tugenden“ ihrer Arbeiten. Ihre Gedichte sind unprätentiös, stellen sich jedem Klischee, jeder Phrase entgegen; die Verse wirken bis ins Detail beherrscht, dennoch nie steif, und nehmen mit einem klugen Ineinander von eigensinniger Wahrnehmung und einer großen Lust am Denken für sich ein. Die Erfahrungen, die man mit diesen Gedichten machen kann, entstehen nicht auf Kosten ihrer Gegenstände, sondern aus der Perspektive, die wie eine Prüfsonde der Verfasserin zwischen ihnen navigiert, Verbindungen herstellt und auch den Brüchen, dem ständigen Ungenügen vor den Dingen nicht ausweicht. Das Sprechen Elke Erbs ereignet sich gleichsam in Augenhöhe dieser Bewegung, nie wird man sich hier unterschätzt oder bevormundet vorkommen – und sei es nur aufgrund der subtilen Ironie, die in vielen Texten durchscheint, einer Ironie, die irgendwie mit dem Bestehen der Welt zusammenhängt und sich vielleicht als eine „mehrfach gewendet romantische“ beschreiben ließe: »Der Abend hat viel Laub. Er kennt sich nicht. / Wir gehen. Gehen, gehen. Übermüdet. // Die Blätter spiegeln. Stille. / Zu keinem Ende. Die Spirale wirbelt. Übermüdet. // Das Schachbrett weicht von Nässe auf. Es schwillt. / Ein Zoll wird nicht entrichtet, niemals lügen. // In früheren Schichten trat an dieser Stelle gut / ein Jäger auf, der einen Hasen trug.« [Sonanz, »Selbander«]

Elke Erbs Gedichte sind Forschungen, die den Forschenden selbst verändern und sich eben um diese Veränderungen drehen, mit ihnen umgehen. Sie wirken als Spuren, diskrete Körper dieser doppelten Bewegung, bilden Partituren eines Wahrnehmens, das aktiv ist, nichts einfach hinnimmt: »Ein Vogel, zerrissen in der Luft! Ich wende mich / gegen die Luft, tilge sie, hemme sie, sende sie um. // […] // Mein Gelb, mein Rosa, mein Blau, / erlaube nicht, was geschehen ist, / Meinung, nimm es zurück!« [Sonanz, »Zurück«]. Die Eigengesetzlichkeit der Sprache trifft hier auf die Eigensinnigkeit der Sprechenden; beide verstärken sich gegenseitig, treiben das Gedicht zu überraschenden Einsichten, die den Lesenden in dem verwunderten Gefühl zurücklassen, sie aus eigener Kraft erlangt zu haben: »Himmel die weißen Eiswolken fasernd / & federnd Seidiger Glanz // Es ist das Grundstück Wüste eines Gartens // Die Einsamkeit ist eines Gartens Wüste / Der Wüste Hortus ist darin Alleinsein // Es ist das Gartengrundstück Einsamkeit der Wüste / Parzelle ist durch eine Wüste wandern. // Es fehlt etwas. Es ist das Vaterhaus. // Die Mutter war nach allen Seiten Umkehr / von einem Eispol. Mehr ist ja nicht möglich.« [Gänsesommer, »Parzelle«].

Elke Erb gibt sich jedoch nicht mit dichterischem Gelingen zufrieden, sie unterzieht das poetische Moment selbst einer beständigen Prüfung, fragt nach seinen Bedingungen. Bereits in dem Band „Kastanienallee“ von 1987 werden die Gedichte unmittelbar mit den Umständen ihres Entstehens konfrontiert, durch fortlaufende Kommentare, die als Erweiterungen, als Speicher für Ungesagtes lesbar sind und in ihrem prosaischen Gestus an Außenskelette empfindlicher Seetiere erinnern. Noch deutlicher wird dies in jüngeren Büchern wie „Mensch sein, nicht“, in denen Gedichte als „Tagebuchnotizen“ unter anderen auftauchen. Das unter Dichtern häufig anzutreffende Nebeneinander von Lyrik und Essay wird hier aufgehoben, zugunsten einer Forschung mit verschiedenen Mitteln, die, vergleichbar etwa mit den Arbeiten Francis Ponges, Wechselwirkungen in einem Feld des Sprechens und Wahrnehmens sichtbar macht. Dieses Interesse kommt auch in den Gedichten selbst zur Sprache: »Eine Reihe von Silben, eine Betonung dazu: / Gehen nicht auch Wege so wie die Sprache in der Zeit? // Erwägung unten am Haus, bei der Kiefer. / Man kommt ja auch schlecht weg hier / vom Seeufer, aus dem Gebirge. // Von oben, vom dritten Stock, der Blick in den Baum: / Wie ein Wedel über dem anderen der unaufhörlichen Sprache / etwas zu malen scheint. Auf dies Wedeln begrenzt. // Ort: Cadenabbia, Villa Collina am Comer See / (das obere Haus).« [Gänsesommer, »Passierbarkeit«].

Abschließend möchten wir noch einmal auf das Anlass gebende Jubiläum zu sprechen kommen, den eingangs nur unter Vorbehalt hingenommenen Siebzigsten Geburtstag der Dichterin. Wir müssen ihn wohl akzeptieren, und gratulieren ihr hiermit aufs Herzlichste. Und möchten Elke Erb bei dieser Gelegenheit danken, für ihre Werke, die Literatur als etwas Lebendiges greifbar machen, als die einzigartige Möglichkeit, das Andere, das man weitgehend ist, vehement zu behaupten, es gegen die Welt zu halten, die ihm – ganz unvermutet – aufmunternd winkt.

Steffen Popp