Poesie als Lebensform
Anmerkungen zu Ann Cotten, Daniel Falb und Ulf Stolterfoht
Das Gedicht greift auf Informationen zurück, forscht aber nicht: auch die sprichwörtliche brennglasartige Zuspitzung bestimmter Sachverhalte im Gedicht ist keine Untersuchung, keine Diskussion, sondern eventuell witzig, banal und (vielleicht) weise, also aphoristisch. Varianten auf einem ziemlich ausgreifenden Feld zwischen Projektion und Konstruktion – die Möglichkeit des Gedichts besteht schlicht darin, mit der Aufmerksamkeit der Leserschaft für einen Moment hauszuhalten; es bleibt dabei immer Vorwort.
Daniel Falb
Wie ein Klotz, auf dem Idioten tanzen
liegt das Gewisse herum.
Carsten Heinrich
Will man dem Gedicht eine genuine Wirklichkeit zugestehen, muss sich die Frage,
welche spezifische Praxis eigentlich mit der Hervorbringung von Gedichten verbunden
ist, in zumindest partieller Abgrenzung zu anderen Ausdrucksformen beantworten
lassen. Um in dieser Hinsicht einige Punkte zu machen, nehme ich verschiedentlich
Trivialitäten in Kauf, um die ich im Vorfeld dieser Unternehmung nicht
herumkomme.
1. Gedichte sind eine Form des künstlerischen Ausdrucks. Künstlerisch,
im Unterschied zu etwa handwerklich, standardisiert: das Außerordentliche
ist letztlich der Wert, die bestehende Ordnung nur mehr der Hintergrund, vor
dem allein man es realisieren kann. Gedichte werden hergestellt: sie beruhen
auf Ideen und Intentionen, die auch den bildenden Künsten, der Musik und
überhaupt jeder ästhetischen Praxis zugrunde liegen. Gedichte arbeiten
mit Sprache. Sie bestehen aus mehr oder weniger komplex konfigurierten sprachlichen
Elementen und können auf dieser Ebene nichts grundlegend anderes leisten
als diese – Verbindungen herstellen und Unterscheidungen treffen, Emotionen
und abstraktes Verstehen (oder Unverständnis) evozieren. Allerdings bieten
Gedichte wie kein anderes Format die Möglichkeit, die Dichte und Komplexität
begriffslogischer und semantischer Referenz bis an die Grenzen der Unverständlichkeit
(Hermetik) oder Beliebigkeit (Geschwätz) zu steigern. Man könnte sie
als spezifische Sprachspiele beschreiben, in denen es um eine Engführung
bestehender Bedeutungen und Referenzen geht, mit dem Ziel, ihren Bestandteilen
übergeordnete, sie integrierende Bedeutung zu generieren.
2. Die synonyme Verwendung der Begriffe „Gedicht“, und „Gelingen“
im Sinne einer „Verwirklichung nichttrivialer Erfahrung“ –
so lässt sich auch ein gutes Essen als visuelles und gustatorisches Gedicht
bezeichnen, ein Parfüm als olfaktorisches, eine Park-, Stadt- oder Gartenarchitektur
als kompositorisches, atmosphärisches Gedicht usw.. Über ein spezifisches
Format künstlerischer Sprachverwendung hinaus scheint „Gedicht“
eine Grundstruktur des Gelingens zu bezeichnen, unabhängig von der jeweiligen
Praxis, der dieses sich verdankt. Geht es bei der Verfertigung von Gedichten
mit Sprache also darum, diese Struktur des Gelingens nicht lediglich im Medium
»Sprache« zu realisieren, sondern, dem analytischen Charakter der
Sprache entsprechend, ihrer Bedingungen habhaft zu werden? Das Changieren des
sprachlich verfassten Gedichts zwischen ästhetischer Praxis (Komposition)
und Diskurs (Analyse) birgt ohne Zweifel besonderes Suchtpotenzial – der
eklektische Charme dieser Ausdrucksform begründet allerdings auch den ihr
eigenen, eigentümlich stark ausgeprägten Zug zum Aphorismus, zur Aporie
und zum Scheitern.
3. Der individuelle Stil oder Ton eines Autors ist identisch mit der jeweiligen
Praxis, welche die Herstellung seiner Gedichte ausmacht. Praxis: Prozess der
Herstellung, Komposition. Komposition: Auswahl und Anordnung, Arrangement. Auswahl:
um eine Auswahl zu treffen, ist zweierlei nötig – ein realer oder
virtueller Bestand in bestimmte Hinsicht vergleichbarer Elemente, sowie ein
Algorithmus bzw. eine Verfahrensregel, der bzw. die bestimmt, was aus dem entsprechenden
Bestand gewählt wird und was nicht. Anordnung: Inbeziehungsetzen der Elemente,
auf eine Struktur mit ungefähr folgenden Eigenschaften hin: Kohärenz,
Adäquatheit, Angemessenheit, hohe Kontrastdichte und Neuheit. Die Interaktion
der Elemente erzeugt die Struktur des Gedichts – ein zunächst virtuelles
Feld, über dessen Rezeption neuartige, übergreifende, reelle Effekte
auftreten (komplexe Emotion, komplexes Verstehen). Das heißt, Sprache
wird als Transmitter nichtsprachlicher (kognitiver, emotiver, etc.) Leistungen
verwendet – das funktioniert logisch am Besten, wenn Autor und Leser einen
Kultur- oder Diskursbereich gemeinsam haben, zur Not sollte der anthropologische
Nenner genügen: von dessen Existenz wir hier optimistisch ausgehen.
4. Voraussetzung für Gedichte ist, dass sich die Auswahl ihrer Elemente
aus der Praxis ihrer Komposition ergibt, nicht umgekehrt. Texte, deren Komposition
sich auf die Verfahrensregel der Auswahl reduzieren lässt, sind selten
mehr als eine Gebrauchsanweisung oder ein Exempel, und langweilen, da außer
einer in Sprache umgesetzten Regel nichts bei ihnen zu holen ist. Die Praxis
der Komposition geht oft heuristisch vor, beginnt mit nicht viel mehr als einer,
sagen wir, Intention – meist entstehen die tragenden Konzepte erst im
Laufe der Arbeit an semantischen und formalen Konfigurationen, wobei unterliegende
Standards der Verknüpfung den Projektrahmen festlegen. Es ist dies letztlich
eine Frage der Anreicherung der Kontraste in einer Matrix, die sich aus gegen-
und gleichstrebigen »Vektoren« (formal: Rhythmus, Assonanzen, Ordnungsmuster
etc., semantisch: Modi der Bezugnahme, metaphorische und metonymische Ausfaltungen
in räumliche und zeitliche Sujets, darauf aufbauende Atmosphären,
etc.) konstituiert, und die in ihrem Bau weder zu disparat (Zerfall) noch zu
homogen (Monotonie) ausfallen darf. Als Generalanweisung für die bereits
angeführte Metakategorie des (ästhetischen) Gelingens darf in diesem
Sinne gelten: möglichst komplex, gern auch disparat und bitte originell,
aber noch integrierbar, irgendwie anschließbar (im Allgemeinen ist das
erste schwer genug, man darf sich guten Gewissens vor allem damit abgeben –
angeschlossen wird man ohnehin und schneller als einem lieb ist).
5. Woran scheitert Verstehen, Interesse und Kenntnis der Sprache etc. vorausgesetzt?
In beinahe jedem Fall können die Hörer oder Leser eines Gedichts dessen
grammatische Strukturen nachvollziehen und diese auch weitgehend in Aussagen
oder Bilder umsetzen. Sie scheitern zumeist an der eigentlich kompositorischen
Ebene, die sich über die einzelnen, jeweils verstandenen Elemente hinaus
mit deren Beziehungen untereinander befasst. Aufgrund der relativen Komplexität
bereits der Elemente selbst, ist der kompositorische Spielraum hier am Größten
und die Gefahr des Kontrollverlustes entsprechend hoch – zumal ein anspruchsvoller
Text immer schon einen gewissen Kontrollverlust innerhalb der Komposition selbst
entwickelt, sich der Statik eines in zu hohem Maße kanalisierten Bedeutens
entzieht. Irgendwas rezipieren heißt bekanntlich, es erneut und in gewissem
Sinne eigentlich erschaffen. Hier endet das vom Autor Angelegte, geht die Lektüre
von bloßem Nachvollziehen bestimmter Strukturen und Inhalte in ein eigenes
Komponieren über – so verstanden, geht es in Gedichten nicht zuletzt
auch darum, dem Leser eine anspruchsvolle Kompositionsgrundlage zur Verfügung
zu stellen.
6. Welche Art »Forschung« ist im Gedicht möglich, genauer:
welche Art »Kunst«? Der eingangs zitierte Daniel Falb gesteht Gedichten
maximal aphoristische Qualitäten zu. Immer suggestiv, nie konstruktiv,
könnte man sagen. Der ebenfalls zitierte Carsten Heinrich ist aphoristisch
(mit der kongenial antagonistische Bedeutungen umfassenden Formel „das
Gewisse“), sagt allerdings eben auch: unser Aufenthalt im Sprachspiel
macht uns gegenüber der Basis, einer Welt, in der Sprache nichts gilt,
zu Idioten. Natürlich sind wir mit Sprache nirgendwo sonst als im Sprachspiel,
und wer glaubt, dies ignorieren zu können, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit
eher lyrisch verbrämten Schwulst erzeugen als ein Gedicht. Aber es ist
ebenso klar, dass das ganze Sprachding nur ein bestimmte Leistung unserer, sagen
wir, „höheren Hirnfunktionen“ darstellt – einen Metafunktion,
zugegeben, die ohne Skrupel auf sie umgebende Funktionen wie Emotionen, Schmerzen,
Haltungen etc. zugreift, ihre Arbeitsschema auf sie fundierende Bereiche wie
Metabolismus, Zellteilung, Proteine und Neurotransmitter überträgt,
und nur lebendig ist, wo ihre Objekte Widerstand leisten. Soll heißen:
jedes Sprechen konstituiert sich über Gegenstände, die gut auch ohne
es existieren, denen manchmal wohl besser gedient wäre, wenn man sie damit
verschonte – trotz oder gerade der Tatsache wegen, dass sie für uns
nur durch eben den sprachlichen Zugriff überhaupt gegenständlich werden,
Sprache also vor allem produktiv ist, sollte der parasitäre Aspekt in ihrem
Verhältnis zur der sie fundierenden Welt doch im Gedächtnis bleiben.
Ich führe dies alles nur an, weil es sich für mich bei der Arbeit
am Gedicht vor allem um dieses Verhältnis dreht – die Sprache muss
es sich gefallen lassen, dass die Phänomene ihre Rechte einfordern, und
sie muss ihnen auf Augenhöhe begegnen, um zu etwas zu kommen, das mehr
ist als Tautologie, Negation, Kreuzworträtsel oder Regress.
Nun. Um die mich irgendwie ermüdende Liste von Punkten zu verlassen, an
dieser Stelle ein langes Zitat von Ulf Stolterfoht:
Und immer handelt es sich dabei um den Transfer einer Erscheinung aus der
Außenwelt, eines „gegenständlichen Bildes“, in die Sprache
des Gedichts. Dagegen ist zunächst gar nichts zu sagen, und es gibt genügend
Fälle, in denen das auch gelingt. Nur ist es, wie ich fürchte, zu
kurz gedacht. Gedichte, die uns solche Evidenzerfahrungen vermitteln wollen
(oder tatsächlich vermitteln – das will ich, wie gesagt, gar nicht
in Abrede stellen!), sind auf eine seltsame Art sprachlos. Indem sie nämlich
auf die Unmittelbarkeit ihres zentralen Bildes, eben der Epiphanie, vertrauen,
und sei sie sprachlich noch so kunstvoll geformt, haben sie die Lyrik längst
in Richtung Bildende Kunst verlassen. Man könnte sogar sagen, sie sind
auf die oben angedeutete, ungute Weise experimentell, weil sie die Sprache wirklich
nur als einen Werkzeugkoffer benutzen, um das „Eigentliche“, das
nicht im Bereich der Sprache angesiedelt ist, sprachlich zum Ausdruck zu bringen.
[Stolterfoht, Bella Triste 17]
Zitat Ende. Weiter mit einem Brief, den ich dem Autor auf seinen Aufsatz hin
schrieb: Lieber Ulf, hieß es dort, und ein paar Absätze weiter: Das
mit der bildenden Kunst trifft meinen eigenen Schreibansatz ziemlich genau.
Nie ist es mir eigentlich darum gegangen, das Gedicht zu verfassen, immer nur
darum, das Gedicht zu verlassen, in Richtung auf ein größer-schöner-tiefer
angelegtes Ding, und ich wäre auch nicht betrübt gewesen, wenn auf
diesem Wege irgendwann mal kein Gedicht mehr herausgekommen wäre, sondern
etwas, das meinethalben mit bildender Kunst, Design, Aisthetik, Gymnastik oder
noch nie da gewesenem zu tun hat. Leider bisher nur Gedichte – wir waren
wohl nicht konsequent, nicht mutig genug (aber arbeiten daran). Indes, um den
Spieß noch einmal zu drehen: letztlich führt die Diagnose, evidenzorientierte
Gedichte würden eine intertextuell, semiotisch oder propositional bestimmte
lyrische Kernzone in Richtung bildende Kunst verlassen, auf eine Vorstellung
von Kunst als unmittelbarer Wirklichkeit, während doch eher das Gegenteil
der Fall ist – dass sich nämlich gerade in diesem Bereich ein enormer
Diskurs materialisiert, der unmittelbare Erfahrung (Rührung, Bestürzung,
Schock etc.) allenfalls an seinen Rändern, als Abfallprodukt oder Zitat
oder Zierrat generiert. Ebenso scheint mir eine rein sprachbezogene (und insofern
unmittelbare) Lyrik stets nur als Grenz- oder Ausnahmefall eines wirksamen Sprachdings
denkbar, dessen reeller Hintergrund (die »Multitude« der bereits
vollzogenen und sich vollziehenden Sprachspiele) ihre Immanenz überhaupt
erst ermöglicht. Unter dem Decknamen Spee von Ohrenberg schrieb ich:
Die Sprecher sind das organische Drama ihrer Körper und der Dimension
einer Wirklichkeit ausgesetzt, für die Sprache als reines Verweisungssystem
nichts bedeutet. Das Existenzielle ist nicht wahr, sondern da, wirklich im Leid
der Organe, des Materials, der Wesen im Griff ihres Werdens, ihrer unendlichen
Anwesenheit. Und jedes Gedicht entsteht analog, als ein heimliches Integral
seines Autors; das existierende Sprachding wird nie etwas anderes sein als ein
vergleichsweise trister Trabant eines dämonischen Universalkörpers,
das Machbare stets die verwirklichte Sprache, das Denkbare die noch zu schaffende.
Die Sehnsucht nach einer Form, die nichts verliert, bleibt ohne Stillstand.
[Spee von Ohrenberg, Poetisches Häuserbuch, in: Steffen Popp, Wie Alpen]
Erscheinen Gedichte, die den synthetischen Weg suchen, auf seltsame Art und
Weise sprachlos, so erscheinen Gedichte, die ihr Heil in einer wie auch immer
angelegten Analyse der Sprache suchen, auf unerträgliche Art fleischlos,
tot... Mir ist derartiges bestenfalls als eine Propädeutik zu einem poetischen
Sprechen einsichtig, nie aber als etwas für sich, eine Kunst, von der ich
vorbehaltlos sagen könnte, genau das wollte ich haben, darum geht es mir,
usw.. Sprache ist für mich in erster Linie ein Set von Werkzeugen, das
man beherrschen sollte – um etwas damit anzufangen. Nun, und was? Das
winzige Segment der Welt, das wir für uns erschlossen und kulturell verdaut
haben, lädt zu Erweiterungen ein; das Unternehmen Poesie liegt hier nahe
als eines der Weltaneignung, eine phänomenologische Entdeckerfahrt. Es
braucht nicht eben besondere Einsicht zu der Behauptung, das 99% der uns betreffenden
Phänomene bislang nicht oder nur unbefriedigend sprachlich gefasst sind,
zumeist lediglich sensormotorisch vorjustiert, sowohl ästhetisch als auch
diskursiv unerschlossen herumliegen. Der unerhörte Rest ist bislang allenfalls
implizit mit dabei, wenn wir unsere Sprechakte als symbolische Handlungen irgendwie
in den Raum ausführen, seltsame Gymnastik eines ungelenken Selbst auf die
nicht minder ungelenken Anderen hin. […]
Ende des Briefs, soweit er mir für die Untersuchung hier von Nutzen scheint.
Die Migration des Gedichts „in Richtung bildende Kunst“ –
will man den missverständlichen Begriff denn verwenden, bleibt nichts anderes
übrig als zu konstatieren, dass das Gedicht immer schon bildende Kunst
war, nämlich ästhetische Praxis. „Gebildet“ wird ja nicht
hinsichtlich etwelchen Materials, sondern bezüglich Konzepten, und das
manifestiert sich sprachlich als Komposition semantischer und propositionaler
Elemente – „Architektur“, sagt Daniel Falb, and that’s
it. Auf die Praxis ihrer Herstellung hin betrachtet, lässt sich sagen,
dass Gedichte nichts anderes abbilden als das Verhalten ihres Autors mit Mitteln
der Sprache im Raum – eine virtuelle Aktion, die sich im Zug des Entwurfs
und seiner Bearbeitung aktualisiert, im Nachvollzug der Lektüre eine Wirklichkeit
(Wahrnehmung, Evokation, Erfahrung) ausbildet. Wir begegnen hier sowohl einem
genetischen als auch einem mimetischen Wesenzug des Gedichtes als eines Entwurfs,
der Dichtkunst als einer Kunst des Entwerfens. Genetisch, weil sich mit dem
Gedicht eine Wirklichkeit (eine »Welt«) herstellt, mimetisch, weil
in dieser Struktur die ästhetische Praxis ihres Herstellers sichtbar wird,
sich zumindest eine Ahnung von seinem Temperament, seinem Horizont, seinem Verhältnis
zum Leben und unvermeidlich auch einiges von seiner momentanen Befindlichkeit
vermittelt. Hilfreich für Herstellung und Rezeption wäre mithin, nicht
einseitig auf die Werkzeuge zu schielen, sondern sich mehr mit der jeweiligen
Praxis zu befassen, in der diese zur Anwendung kommen. Wenn das Gedicht ohnehin
Ausdruck einer Praxis ist, die Spur eines Verhaltens, die weniger etwas bedeutet,
mehr einen bestimmten Umgang mit Empfindungen und Dingen, Erfahrungen und Theorien
anzeigt, scheint es mir nur folgerichtig, die Aspekte dieser Praxis im Text
auch explizit zu machen oder zumindest eine Lesart zu eröffnen, die mit
diesen Elementen (Tempi, Gestik, Spannung, Kontraste, Aussetzer, Sprünge
etc.) rechnet – und im Gegenzug wenig wünschenswert, diese Praxis
mit seriellen, narrativen, konstatierenden oder im einfachen Sinn formalen Mustern
zu kaschieren. Das Sprachspiel sollte als Ausgangspunkt, nicht als Ziel der
Unternehmung verstanden werden – solange Gedichte in Propädeutik
verharren, wird man niemandem erklären können, warum die mit ihnen
verbundene Praxis sich grundsätzlich von der Praxis des Briefmarkensammelns,
des Häkelns von Topflappen oder der Kultivierung japanischer Zwergeichen
unterscheidet.
Lieber Ulf,
soweit ich das sehe, gibt es, was das Verlassen der Literatur angeht, zwei Fluchtlinien:
einmal »back to the roots«, also Naturwesen-Anverwandlungsgedanken,
wie die von dir beschriebenen bei Hans-Henny Jahnn, ich denke aber auch an Heidegger
auf seinem Alphof, Bernhard auf seinem Bauernhof, Sarah Kirsch auf ihrem Nordhof
usw. – all die Autoren auf ihren Gütern und Höfen, nachgerade
eine Feudalgesellschaft (wobei hier wohl eher die bürgerliche Heil- und
Heimschleife wirksam ist). Diese Idee führt leider, wenn überhaupt,
zu den Indianerspielen der Jugend, Öko- und Zenfantasien, Werwolflegenden
oder Kapitän Nemo – kein wirklich gangbarer Weg, befürchte ich,
zumal neben der für solche Visionen nötigen Fitness (Eisbaden nach
Turnvater Jahn etc.) schlicht die Biotope fehlen, so etwas auszuleben. Wo, zum
Teufel, kriegt Hans-Henny im Fall der Verwundung die von ihm propagierte heilende
Hirschpisse her? Da müsste er schon einen recht abgefuckten Delikatessenshop
bei der Hand haben! Die andere Idee wäre, im Gegensatz zum Gang in die
Wälder, der Gang ins Labor. Literatur als eine Art Sondierung von Phänomenlagen
auf ihre Relevanz und mögliche Erforschung hin – nicht mehr rein
privat, autodidaktisch, sondern zu einem maßgeblichen Teil im Austausch
und Bündnis mit anderen, es müssen ja nicht nur Dichtungsschaffende
sein. Also eher die Struktur erweitern und verfeinern, als sie zu verlassen;
sie auf ihren Werkzeugcharakter, ihre dienende Funktion zurückführen,
das Schreiben von Gedichten als eine Kunst des Entwerfens in den Blick bekommen
– in Bezug auf deren Charakter sich dann weitergehend fragen lässt,
wie und wo man mit poetischen Verfahrensweisen an die sog. realen (politischen,
ökonomischen etc.) Prozesse anschließt bzw. sich in ihnen wiederfindet.
Nun, allein der Bau, die eigentliche Konzeption eines solchen Labors wirft einen
Haufen Fragen auf – allerdings, Fragen sind besser als nichts, oder?
Was sich mir als das eigentlich poetische Projekt erschließt, und in meinem
Schreiben zumindest versuchsweise ständig geschieht, ist die Verwirklichung
dieser Praxis als Lebensform; zunächst ein beständiges Abtasten, inwieweit
die für poetisches Sprechen konstitutiven Verfahrensweisen etwas mit denen
anderer Lebensbereiche gemein haben, und vor allem die Frage, ob sie dort nur
neben anderen relevant sind oder essenzielle Funktionen bezeichnen. Offenkundig,
dass die Dichotomie von Gedichten und bildender Kunst auf ebenso tönernen
Füßen steht wie die von „Kunst und Leben“ – dass,
genauer gesagt, immer nur die Kategorie des Lebens den Gegenstand unseres Bemühens
darstellt, wir immer nur das Leben als unsere einzige Praxis mit allen Mitteln
bearbeiten und dass wir, wenn wir die poetische Praxis hier überhaupt von
der lebendigen abheben, einfach nur sagen wollen: obwohl wir wissen, dass wir
mit unseren Anstrengungen denen des Bios, des Geos und der Quanten stets hinterherhinken,
dass unser umständliches Sprechen immer nur eine Annäherung an diese
zwar banalen, aber unendlich viel größeren Prozesse sein wird –
obwohl wir dies wissen, und nicht zuletzt eben darum, betreiben wir eigentlich
die entgegengesetzte Bewegung, nämlich die Annäherung der lebendigen
Wirklichkeit an die Vision, ihre Erhebung zum Gedicht. Grmpf. Dies mag verstiegen
klingen, indes, ganz abwegig scheint es mir es nicht – indem wir die Sprache
wählten, das lebensfernste Medium und, um noch einmal Ohrenberg zu zitieren,
„das offenbar schlechteste Werkzeug für alles“, wählten
wir zugleich den am weitesten entwickelten Hebel; in diesem Sinne stellt das
Gedicht, in seiner Lebensferne, nichts anderes dar als eben unser Bemühen
um dieses Leben: nur was wir in poetische Praxis umsetzen, kann guten Gewissens
als „anthropologisch gemeistert“ gelten.
Steffen Popp