Semantische Fugen
Gedichte von Franz Josef Czernin
Franz Josef Czernins Gedichte gehören zu den interessantesten in der
deutschsprachigen Gegenwartslyrik: Von geradezu mathematischer Stringenz und
zugleich von mystischem Pathos, wirken sie archaisch und experimentell, kalkuliert
und erhaben. Czernin weiss, was er tut: Als poeta doctus untermauert er sein
Schreiben durch komplexe poetologische Theorien. Doch wie kommt es, dass sich
in ihm Professorales mit Seraphischem verbindet? Aus dieser einzigartigen Mixtur
nämlich geht Czernins Stil hervor, unverwechselbar in seiner Unschärfe
und schillernden Paradoxalität.
Kein Band erscheint geeigneter, um dies nachzuprüfen, als die unter dem
Titel «staub.gefässe» erschienenen «gesammelten gedichte»
mit einem ausführlichen Essay von Martin Mosebach. Darin finden sich «anfängliche»
und «natur gedichte», «lieder», «pastoralen»,
«epitaphe» und zahllose «sonette» (u. a. «sonett,
destillat», «sonett, nach loreley», «sonett, orpheisch»,
«sonett, essenz»). Allein schon die – in sechshebigen Alexandrinern
– verfassten Sonette zeigen Czernins (prozessualen) Anspruch, Welt elementar
und buchstäblich einzufangen. Zu diesem Exerzitium gehören auch die
eigenwilligen Übertragungen (oder eher Überschreibungen) Shakespearescher
Sonette sowie die Umschriften von Rilke- und Borchardt-Gedichten. Czernin fügt
das ursprüngliche Wortmaterial neu zusammen – verschiebt, variiert,
«transsubstanzialisiert». Dass er dabei nicht nur «Mundgymnastik»
betreibt, sondern auch «Engelszungen» bemüht, ist seine Kunst.
Czernin beherrscht den barocken Memento-mori-Ton und den klangreichen des Romantikers
Brentano, er streift die Dramatik Trakls und die zerklüftete Metaphorik
einer Christine Lavant. Den eigenen – vielstimmigen – Ton generiert
er aus «sprachlichen Extremzuständen», indem er Formeln und
alltägliche Idiomatik entautomatisiert. Martin Mosebach spricht von der
Ekstatik Czerninschen Sprachgebrauchs, basierend auf einer «impliziten
Lehre von den Gemeinplätzen».
Auch wenn Czernins «semantische Fugen» oft rätselhaft, abstrakt
und verwirrend vieldeutig bleiben, üben sie doch eine starke Sogwirkung
aus. Es ist das Ohr, das ihren Stimm- und Sinnverläufen, ihren Rhythmen,
Harmonien und Dissonanzen gebannt folgt, als wäre es Zeuge einer Wiederverzauberung
der Welt. Wiederverzauberung mittels Entzauberung – auch dies ist eines
der Paradoxe des Franz Josef Czernin.
Ilma Rakusa
franz josef czernin: staub.gefässe. gesammelte gedichte. Mit einem Essay
von Martin Mosebach. Verlag Carl Hanser, München 2009
schmematische Darstellung eines Artikels vom 23. Mai 2009 in der Neuen Zürcher Zeitung, alle Rechte bei der NZZ mit freundlicher Genehmigung des Verlags