Von der Unrentabilität des poetischen Denkens etc.
Wenedikt Jerofejews „Aufzeichnungen eines Psychopathen“
Keiner wie er hat so reichlich für Legenden und Mythen gesorgt: Wenedikt
Jerofejew, geboren 1938 im russischen Norden, aufgewachsen im Kinderheim (während
sein Vater im Gulag sass), vom Studium mehrfach „wegen moralischer Zersetzung“
relegiert; Heizer, Kabelverleger, Leerguthändler, Hilfsarbeiter und begnadeter
Säufer; Verfasser der orgiastischen Satire „Die Reise nach Petuschki“,
die ihm Weltruhm bescherte, sowie einer satirischen „Kleinen Leniniana“
und des sozialkritischen Theaterstücks „Walpurgisnacht oder die Schritte
des Komturs“; gestorben 1990 in Moskau an Kehlkopfkrebs. Zur verifizierbaren
literarischen Hinterlassenschaft des Lebenskünstlers und Kultautors „Wenitschka“
gehörten 2500 Seiten Notiz- bzw. Tagebücher und mehrere Fragment gebliebene
Texte, während der angeblich verloren gegangene Roman „Schostakowitsch“,
bis dato unauffindbar, wohl nie existiert haben dürfte. Doch hat Jerofejew
seinen Lesern noch ein weiteres Geschenk vermacht: eingelagert bei Freund Wladimir
Murawjow fanden sich seine 1956 bis 1957 entstandenen „Aufzeichnungen eines
Psychopathen“, jenes Erstlingswerk, das bereits den ganzen Jerofejew vorwegnimmt.
Der Titel gemahnt unverhohlen an Gogols „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“,
wo ein kleiner Beamter sich als König von Spanien imaginiert, am Schluss
jedoch, hilflos und verzweifelt, bei der leiblichen Mutter Zuflucht sucht. Grössenwahn
und Schwermut grundieren auch Jerofejews Text, mehr noch das gogoleske Groteske,
das seinen Gegenpart in religiöser Sinnsuche hat. Aber das Spektrum dieser
fünfteiligen Aufzeichnungen ist weiter, reicht vom Existenziellen zum Politischen,
vom Alltäglich-Banalen zum Allegorischen, von den erbärmlichen Niederungen
des Seins zu den deliranten Höhen des Rauschs, den flirrenden Gegenden exzentrischer
Anomalie. Der (behauptete) Wahnsinn erweist sich dabei als fintenreich: er gibt
dem Sonderling Narrenfreiheit und dem Schriftsteller poetische Lizenz.
Jerofejew übt sich im fröhlichen Tabubruch ebenso wie im Ausreizen des
Paradoxes: selbstanklägerische Ichergüsse (in Sachen Trinken, faulem
Herumliegen usw.) kontrastieren mit scharfen Invektiven gegen die sogenannten
Hüter von Ordnung und Normalität, penible Alltagsprotokolle mit Reihen
von Bibelzitaten, die beklemmende politische Allegorie eines Vogelimperiums (mit
„Tauwetter“-Periode und einem Bergadler-Führer, der „vor
dem Wort Militarisierung die Vorsilben ‘re’ und ‘de’ verwechselt“)
mit absurden Minidramen à la Daniil Charms, eine „Theorie der Wochentage“
mit einer „Liste der freien Gedanken“. Was sich als säuberlich
datiertes Tagebuch ausgibt, besteht in Wirklichkeit aus einem bunten Gemisch von
Selbstgesprächen, Erzählungen, Notaten und dokumentarischen Skizzen,
von echten oder fingierten Bekenntnissen Dritter, von phantastischen Visionen
(u.a. des eigenen Todes) und skurrilen bis anrührenden Reflexionen über
Liebe, Glück, Sinn und Sinnlosigkeit. Kaum zu beschreiben, über wieviele
rhetorische Register Jerofejews „Psychopath“ verfügt: es wird
hysterisch gelacht („hä-hä-hä“, „hia-hia-hia“,
„hi-hi-hi“), vulgär geschimpft und elegisch gejammert, der delirante
Furor bedient sich der Hyperbel, um rasend komische Szenen zu entwerfen, und gerät
die Sinnkohärenz ins Wanken und der Wortfluss ins Stocken, regiert die Lakonie
von Sätzen wie: „...aber ich will ja nicht, dass ich will...“
oder „Geht das denn - zu zweit allein?“
Jenseits aller provokativen Blödeleien sind die „Aufzeichnungen eines
Psychpathen“ ein zutiefst ernstes, kluges und vielseitiges Werk, das nicht
nur über eine singuläre Befindlichkeit, sondern indirekt über den
Zustand der (damaligen) sowjetischen Gesellschaft und über die Welt im allgemeinen
Auskunft gibt, freilich aus betont unorthodoxer Sicht. Dem Pathos offiziell proklamierter
Prosperität stellt Jerofejew in Gestalt seines Icherzählers ein luzides
Scheitern entgegen, dessen Tragikomik berührt. Die stärksten Textstellen
sind dabei wohl nicht die räsonierenden, sondern die deskriptiven. Eintragung
vom 15.-16. Februar 1957: „Der Bahnhofsfussboden lässt das Rückgrat
vereisen. (...) Die Augen sehen keine gebratenen Buletten und keine weiblichen
Reize. Sie sehen banale Heizkörper.“ Oder sie sehnen sich nach dem
„Eingeschlafenwerden“, dem seligen Moment des „Verlusts der
Empfindungen“.
Ist denn die Realität so arg, dass sie der verkehrten Welt von Rausch und
Wahnsinn weichen muss? Irgendwo fallen die Worte „Sumpf“ und „Zukunftslosigkeit“,
doch wird aus dem Alkoholismus des Helden nicht eine Parabel gesellschaftlicher
Zerrüttung konstruiert. (Dieses Kunststück gelingt Jerofejew fünfzehn
Jahre später in seiner „Reise nach Petuschki“.) Statt simplen
Kausalitäten huldigt das Tagebuch einer ironisch-verzweifelten Moral (und
Ästhetik) des Andersseins. Exemplarisch der unter dem 22. August 1957 resümierte
verrückte Tagesablauf von W.J.: das Frühstück, bestehend aus 500
Gramm Shiguljowskoje-Bier, 250 Gramm Schwarzbrot und zwei Papirossy findet abends
beim Eindunkeln statt, begleitet vom Nachdenken über Regierungsformen. Es
folgen, über die zum Tag gemachte Nacht verteilt, Fremdsprachenunterricht,
Flanieren, Bier- und Wodkakonsum, literarisches Schaffen und „Eindringen
in das Dickicht meiner Weltanschauung“, ein bescheidenes Mittagessen und
ein diätetisches Abendessen („mit Brustserviette und Wattepropfen in
den Ohren“), dann die Vorbereitungen zum Schlaf: „In straffer Haltung
vor dem Bett Aufstellung nehmen und mit heller Stimme ein Wiegenlied von Mozart
singen... So hinlegen, dass der Hinterkopf, die Beine, der Bauch und das Nervensystem
nach oben gekehrt sind und alles andere nach unten (freitags können auch
die Beine nach unten gekehrt sein).“
Wer es noch nicht ahnt: die euphorisch-melancholischen Grenzgänge des Antihelden
Wenedikt Jerofejew halten wundersame Überraschungen bereit.
Ilma Rakusa
Wenedikt Jerofejew: Aufzeichnungen eines Psychpathen. Aus dem Russischen von Thomas
Reschke. Mit einer editorischen Notiz von Sergej Gladkich. Tropen Verlag, Köln
2004. 191 S.
Diese Rezension erschien zuerst in der Neuen Züricher Zeitung am 29. Juni
2004