DENKE: KNALL



Als ich Elke Erbe zum ersten Mal aus ihren 5-Minuten-Texten lesen hörte (erschienen sind sie soeben unter dem Titel "Sonanz" bei Engeler), war das in Lana, Südtirol, am 24. Juni 2006. In dem tiefen Tal stand die Hitze wie ein Drescher und in der Bibliothek, in der die Lesung stattfinden sollte, wurde sie abendlich konserviert. Es floss uns der Schweiß in die Augen, ein Weckglas in der Wüste, jedoch eines mit schönstem Panoramablick: Die Alpen! Inzwischen ist die Bibliothek klimatisiert. Damals war sie es nicht. Und wann immer die Raumtemperatur die Körpertemperatur übersteigt, tut sich etwas an den Grenzen. Es zeigt sich dann umso deutlicher, dass der Versuch, zwischen Innenwelt und Außenwelt zu trennen, in die Irre führt, und dass, wie Klaus Heinrich formuliert, "sich das Substrat von Erfahrung nicht in den Gegensatz von innen und außen auflösen lässt, sondern ein Medium zwischen beidem ist."

Dann begann Elke Erb zu lesen, mit jener federnden Energie, die sie unmittelbar von der zu Stelle zu beziehen schien, an der Welt und Wahrnehmung aufeinander reagieren, ein ungeheuerlicher Vorgang, der alles Mögliche freizusetzen vermag. Medium und Funkenflug. Da war es, als würden innerhalb eines sehr großen Moleküls - groß genug, um alles zu beinhalten, was wir kennen - chemische Bindungen aufgebrochen und neue Bindungen hergestellt. Welche Courage, sich dazwischen zu stellen. Ich konnte es kaum fassen, wie nah diese Gedichte an den Dingen waren, und wie unendlich nah sie dem Denken. Unfassbar. Gleichzeitig ist klar: wenn es jemals etwas zu fassen gab, dann das. Diese wendige Weisheit, die sich selbst organisiert.

Nun hat Weisheit es an sich, dass sie ein Schwellenwesen ist. Ihre Wohnstatt ist die Tür. Weisheit lehrt nicht - sie konsterniert. Sie konsterniert zum Besseren, und sie ist von einem irren Tempo. Langsam wie ein Baumstamm sich rundet, und schwallgeschwind dazu. Unlängst sagte Elke Erb, wer das Assoziative ablehnt, verzichte auf den Reiz des Ungebundenen, um dann an den Gedanken aufzuschließen (oder den Gedanken selbst aufzuschließen), dass das Assoziative ja gerade das Verbindende und Verbundene sei - denn woher sonst wäre die Bindung zu nehmen? Gedankensturz - und welche Klarheit.

An diesem heißen Sommerabend war es, als würde Erb sich an der Weltformel selbst zu schaffen machen. Jene Klarheit schien mir mit einem Mal nachgerade apokalyptische Züge zu tragen, als ginge es der Welt jetzt an den Kragen. Gleich stellte ich mir eine geheime Schaltzentrale vor, durch die nun ein plötzlicher Aufruhr gehen musste. Wie dort alles alarmiert aufspringt, wie unzählige Hebel, Schalter und Tastaturen betätigt werden und von überallher Administratoren herbeieilen, um perplex auf die sprunghaften Phänomene auf vierhundert Monitoren zu starren. Dann wieder richteten sich panische Blicke auf diesen kleinen Südtiroler Bergort Lana - ausgerechnet von dort! Wir hätten es wissen müssen! In der letzten Sekunde wird es dem aufgescheuchten Team gelungen sein, den Weltlauf zu stabilisieren. Das ist zumindest anzunehmen, im Rückblick, denn es war gut möglich, ohne Hindernisse nach der Lesung unter großen Bäumen in einem lauen Biergarten zu sitzen, wo indes das Spiel Argentinien gegen Schweden auf Großleinwand übertragen wurde. Woran sich sicher zeigte: alles war noch da.

Irgendwo erwähnt Scholem die Vorstellung, das Ende der Welt könne auch mit der leisen Unwucht der geringsten Verschiebung anbrechen, indem man vielleicht ein Glas auf den Tisch stellt. Nicht geheimnisvoll raunend, sondern wie eine Verrichtung am helllichten Tag. Oder, wie es die exakte Wissenschaft definiert: "Eine Reaktion kann also durchaus zu einem Endzustand führen, der dem Ausgangszustand gleicht." Geht es allerdings, wie hier, um eine im strikten Sinn metaphysische Reaktion, wird zudem das Medium der Erfahrung selbst geschult - und das teilt sich mit. Wie sich überhaupt alles mitteilt, was Elke Erb austeilt. Unverständlich ist das nicht, ebenso wenig wie ihre Gedichte unverständlich sind, als was sie unverständlicherweise lange galten. Aber es kommt mir so vor, als habe sich das kürzlich leicht geändert. Sicherlich kamen ihre Gedichte nicht schlichtend der Stumpfheit entgegen, nein, es muss umgekehrt gewesen sein. Eine andere, sich selbst erneuernde Lektüre ihrer Gedichte wird begonnen haben. Und das ist sehr schön, denn es geht in ihnen, in jedem einzelnen, auch um die immer wieder neue Freude des Anfangens, und mit nichts kann man so oft anfangen wie mit dem Denken.
Und um einen Punkt zu machen, darf ich hier vielleicht noch anführen, dass es Orsolya Kalász und mir in der jüngsten Zeit zur lieben Gewohnheit geworden ist, wann immer ein ungenannter lyrischer Grusel von Sonstwo unsere Sinne streift, von ganzem Herzen auszurufen: "Lang lebe Elke Erb". So sei es.


Monika Rinck, für Sprache im technischen Zeitalter.
Frühjahr 2008