Lemma: »Gerhard Falkner«
Material zu einem persönlichen Lexikoneintrag (und ein Gruß von den
Epheben)
mit den söhnen sollen die väter
nicht spaßen, sie wachsen unter
der hand, sie werden, wenn sie
groß sind, funkeln wie messer
Gerhard Falkner
Ich muß wirklich gestehen: schändlich spät! habe ich Gerhard
Falkners Bücher gefunden. Ich weiß gar nicht, wie das passieren konnte,
denn eigentlich war ich in Sachen Gedicht schon einmal ganz fit, so zwischen
dreizehn und zwanzig, ungefähr sieben Jahre lang. Ich bin 1975 geboren,
und alles hätte also in eine sehr produktive Zeit fallen können. Im
Jahr 1989 erschien Falkners damals vorläufig letzter Gedichtband wemut,
1993 kam seine Fragmentesammlung Über den Unwert des Gedichts heraus. In
jenen fünf Jahren – auch unter dem starken Eindruck eines doppelten
Systembruchs: dem Untergang der DDR und meiner sogenannten Pubertät (um
die Dinge hier ausnahmsweise in der Reihenfolge ihres weltpolitischen Gewichts
zu nennen) – war ich ein hoffnungsvoller Jungdichter. Damals war für
mich auch klar, daß das so bleiben mußte. Ich wurde hier und da
eingeladen, fuhr im Herbst auf einen Bauernhof bei Berlin, wo sich der Nachwuchs
traf, am Lagerfeuer knutschte und über Gedichte diskutierte; nahm im Umkreis
der frisch gegründeten Edit in Leipzig an einem gar nicht so blöden
Literaturkreis teil. Verhältnismäßig früh erschienen dann
auch ein paar Gedichte in der Edit, und ich bekam in Berlin einen kleinen Jugendliteraturpreis.
–
Gerhard Falkners Gedichte kannte ich damals nicht. – Aber was genau sagt
das? Sicher war ich in dieser Epoche auch sonst nicht besonders gut orientiert.
Schon gar nicht, im entferntesten, up to date. Das konnte man damals als Ostdeutscher
aber auch nicht sein. (Oder man war es bereits – auf eine sehr subtile
Weise, die aber weder der Westen noch der Osten bis heute einholen konnte, weil
sie sich vielleicht überhaupt erst in den kommenden zwanzig Jahren zeigt.)
Jedenfalls waren damals die sozialistischen Folgelasten wirklich drückend.
Und wir hatten am westdeutschen Buchmarkt ein ziemliches Ding zu verdauen. (Obwohl’s
damals noch ging.) – Aber trotzdem. Habe ich in diesen Jahren eigentlich
geschlafen? (Eher wenig.) Und was habe ich gelesen? Immer noch Bobrowski und
Sarah Kirsch? Auf alle Fälle immerhin die klassische Moderne, die ja auch
der Prenzlauer Berg noch einmal so schmackhaft aufkochte. Und Galrev kannte
ich ja, und einiges andere auch. Aber den fraglichen Band mit Kling, Waterhouse
und Falkner: ich habe ihn verpaßt. Unfaßbar!
Die Umstände, unter denen ich dann doch in Kontakt mit Gerhard Falkners
Büchern kam, waren in verschiedener Hinsicht eher unglücklich. Für
mich sowieso, denn ich hatte das Schreiben aufgegeben und versuchte mich gerade
an einer akademische Kom(pro)miß-Existenz. Aber auch für jenes erste
Falkner-Buch, das ich schließlich lesen durfte, waren die Umstände
nicht besonders gut. Es fiel in diese Umstände im Jahr 2003, also zehn
Jahre nach seinem Erscheinen, denn es betraf die schon genannte Sammlung Über
den Unwert des Gedichts. Der Band kam mir im modernen Antiquariat unter, genauer
gesagt in einer Filiale der Buchhandelskette Wohlthat. Er kostete einen ganzen
Euro und war als Mängelexemplar ausgewiesen (immerhin: nicht gestempelt).
Für ein Druckwerk, das nicht zuletzt den Unwert des in ihm verhandelten
Gegenstands beklagt, ist eine solche Entwertung natürlich bitter. Andererseits,
so traurig es ist: Die Tatsache, daß es an einem solchen Ort aufgefunden
werden konnte (als Erstausgabe, eingeschweißt), ist nichts weniger als
das Golgatha seiner Beglaubigung: Alles in diesem Buch ist wahr. – Und
im passenden Modus einer Erlösung erwies sich dieses rosafarbene Bändchen
dann für mich auch tatsächlich als Wohlthat. Denn ich hatte nun für
lange Zeit mein gültiges Klage- und Trostbuch gefunden. Und wie habe ich
mich in den folgenden Monaten, mit diesem Band in den Händen, an den endlos
vorüberziehenden glänzenden Sentenzen über das Gedicht delektiert.
Was für ein tröstlicher Zuspruch quoll mir aus jeder einzelnen Seite
entgegen. Immerfort konnte ich, in süßem Schmerz, beseelt und erleuchtet,
über einzelnen Zeilen aufschauen und sagen: Genau, auf dieser Höhe
brauchen wir das Gedicht, sonst gilt es nicht. Endlich hatte das jemand mal
gültig formuliert. – Und wie!
Aber ich durfte mit Gerhard Falkner auch beklagen, daß die böse,
kalte, grausame Welt all unsere großartigen Gedichte nicht verdient. –
Obwohl ich (by the way) damals gerade gar keine Gedichte schrieb, derer sich
die Welt (selbst bei äußerster Gutwilligkeit) hätte als würdig
erweisen können. Geschweige denn ich selbst (nämlich des von mir,
mit Hilfe von Falkners ›Bibelkommentar‹, immer wieder bis zur Zwanghaftigkeit
invozierten Gedichts). Aber genau das war ja der Trick bei meiner ganzen Lektüre:
Sie spendierte mir wahlweise entweder die voyeuristische Befriedigung meiner
Lust durch die Schau einer immer aufs Neue, und wunderbar gezeichneten, erotischen
Imago des Gedichts – oder aber eine fette, auf schalkhafte Weise selbst
zubereitete Portion Hochmut, Ressentiment, Wehleidigkeit und Misanthropie. Und
– das war eigentlich das beste – diese Lektüre hatte auch noch
eine aufschiebende Wirkung: Ich mußte nicht schreiben, durfte aber trotzdem
mit heimlicher Wollust, und aus ganzem Herzen, elevatorisch klagen. (Denn daß
ich ein Dichter war, und von diesem Buch also mitgemeint, wußte ich selbstverständlich
auch ohne eigenes Gedicht.) – Aber war nicht zugleich eben wirklich auch
alles wahr? Und die bittere Klage berechtigt? Standen und stehen wir nicht auf
verlorenem Posten mit unseren so glückhaften wie qualvollen Bemühungen
um das Gedicht?
Natürlich habe ich mir nach dem Schock dieses Buches auch die Gedichtbände
von Gerhard Falkner besorgt. Jedenfalls vor ein paar Jahren waren alle im Internet
antiquarisch leicht zu bekommen, bis rückwärts zu so beginnen am körper
die tage, in gut erhaltenen Erstauflagen um die zehn, fünfzehn Euro. Für
der atem unter der erde habe ich noch am meisten bezahlt, weil es signiert war.
(Adressiert an einen gewissen Rainer G. Feucht, damals selbst Antiquar. –
Kennen Sie den Mann?) Wenn mich heute jemand fragte, welches der Falknerschen
Bücher ich am häufigsten in den Händen gehabt hätte, dann
wäre die Auskunft wirklich Über den Unwert des Gedichts. – Es
ist inzwischen übrigens bereits das zweite Exemplar, denn das erste habe
ich irgendwann einmal im Delirium so verschmiert, daß ich es hinterher,
im Spiegel meiner eigenen graphischen Verfratzung, leider wegwerfen mußte.
(Mein persönlicher Vollzug der oben schon protokollierten Kreuzigung auf
dem Büchertisch. – Wir tragen an solchen Dingen schwer; darum soll
man beichten.) Das Ersatzexemplar war mit sieben Euro nicht mehr völlig
geschenkt, aber immer noch billig. Es ist inzwischen auch schon wieder ziemlich
beschabt und bestoßen. Leider habe ich (wo wir schon bei Geständnissen
sind) auch hier eine Seite rausgerissen: Irgendwo (ich sage jetzt nicht, wo)
wurde die Falknersche Klage über dem Leichentuch des Gedichts für
meine Ohren so apokalyptisch, daß mir seine Ansprache fast wie ein Fluch,
eine Verwünschung aller künftig zu schreibenden Gedichte vorkam. Das
mußte ich dann doch (wenn ich selbst überleben wollte) im hohlen,
blutigen Angesicht einer ödipalen Konstellation: – auslöschen.
Und die Gedichte? – Für mich sind es schon die ersten Bücher
bis wemut, die zählen. Ich habe sie in den auf meine damalige späte
Entdeckung folgenden Monaten gründlich gelesen. Der größte Gewinn
waren die beiden Bände so beginnen am körper die tage und wemut. (Den
Ertrag dieser Jahre versammelt, fürs Lemma, die Suhrkamp-Sammlung X-te
Person Einzahl, die ich wegen ihrer guten Auswahl und Handlichkeit sehr mag.)
Und da ist natürlich überall so viel zu finden, daß es eine
Schande wäre, hier irgendwas rauszupicken. Insgesamt neige ich (falls das
irgendwen interessiert) eher zu den Klassikern. Gerade wenn sie mit schund überschrieben
sind. Die Gedichte dort: der Wahnsinn. – Hier und da Schwierigkeiten habe
ich am ehesten mit der atem unter der erde. Da wird es manchmal so eine 80er-Jahre-Moderne,
mit der ich wenig anfangen kann. Diese coole, vielleicht auch wegen des kalten
Krieges in der Poesie, und trotz des aufreizend Amerikanoiden im Ton, irgendwie
bemühte Urbanität. Und immer wieder diese Variationen auf gewonnene
und verlorene Frauen. Wobei natürlich diese Gedichte, wo sie gelingen,
fraglos zum allerbesten gehören: vielleicht sogar die Falknersche Spezialität!
– Und wenn für mich heute einiges angestaubt wirkt, so kommt das
auch daher, daß ich die Sachen zum Teil ja erst zwanzig Jahre nach Erscheinen
kennengelernt habe. Damals wird natürlich alles anders gewesen sein. Aber
ich kann’s nicht wissen. – Aber eben solche Gedichte wie seestück
oder das graue und das kalte. – Da kann man sich einfach nur noch verneigen!
Bleiben (fürs Lemma) die Bücher aus den letzten Jahren (wobei mir
bewußt wird, daß Falkner sich auch als Bühnenschriftsteller
betätigt hat; diese Sachen kenne ich nicht). – Über den endogenen
Gedichten schwebt für mich immer dieses Motto aus der Zauberflöte
als Drohung: »Der Arme kann von Strafe sagen, denn seine Sprache ist dahin.«
Es mag ein Bekenntnis sein, eine Interpretationshilfe für die Destabilisierung
oder gar (auch ins Optische gewendete) Zerrüttung sein, die Falkners Gedichte
in den Jahren nach wemut erfahren haben. Das kann ich nicht endgültig einschätzen.
Ich erschrecke aber deshalb jedesmal, weil ich auch höre, wie dieser Satz
an mich gerichtet ist. (Und mein Schreiben richtet.) Indes, entgegen allen durch
das Motto geweckten Befürchtungen gibt es in diesem DuMont-Band viele gute
Gedichte. Freilich auch ein bisweilen etwas fades, experimentelles Design. Bei
aller Intelligenz im Einzelnen – den Versuchen zu einer (An)Spannung irgendwo
zwischen »Animiertheit« und »Intellektrifizierung« des
Gedichts (Halbzitat aus dem Nachwort) – vermisse ich doch an vielen Stellen
die Falknersche Anmut und Magie. Mit Falkners eigenem Bild aus einer späteren
Polemik: Es sind auch etliche Vögel dabei, die nicht fliegen.
Ja, und dann kommt die Gegensprechstadt. Sie hat einen traumhaft schönen
elegischen Ton. Ich achte auch das Risiko dieses Unternehmens hoch. Aber um
ehrlich zu sein: ich mag den Band insgesamt trotzdem nicht besonders. Was mich
in den früheren Bänden manchmal etwas stört, dort aber meist
in gut durchgearbeiteter Form erscheint (auf überzeugende Weise gebunden!),
geht mir in der Gegensprechstadt zu oft aus dem Leim: Das Großstadtgetue,
der Chauvinismus, die große Geste, das Bittere, die Hochmut, das Selbst
mit Leid (Zitat aus dem Grundbuch, in der Gegensprechstadt leider sehr gründlich
ausgebaut). Und dann fühle ich mich auch manchmal vom Sound verraten: Die
Melodie verlockt zwar immer wieder, aber an vielen Stellen, zum Beispiel wenn
es um Odysseus geht oder Hölderlin, möchte ich mir doch lieber die
Ohren zustopfen (und sei’s mit Unterwäsche von Calvin Klein), als
an diesen Klippen zu zerschellen. – Vielleicht sind ja auch einige der
Falknerschen Themen allmählich doch etwas strapaziert. Die beiden neuen,
in der BELLA triste (19) abgedruckten Gedichte, stehen für mich als Symptome.
So, das war die fällige Adoration. Hoffentlich deutlich genug. Ich halte
Gerhard Falkner tatsächlich für den besten Dichter seiner Generation.
– Wenn ich das im rhetorischen Schema eines ›persönlichen Erlebens‹
formuliere, so weiß ich sehr wohl um das Risiko einer gewissen Anstößigkeit.
Man kann ja immer wieder dieses lustige Spiel beobachten, wie sich Leute scheinbar
vor einem großen Autor verneigen, es dann aber durch eine perfide Privatisierung
ihrer Demutsgeste (James Joyce und ich) am Ende hinkriegen, diese Verneigung
in einer Höhe stattfinden zu lassen, die in erster Linie sie selbst erhöht
(und die sie aus eigener Kraft gar nicht erreicht hätten). Um sowas geht
es mir natürlich gar nicht. (Umgekehrt geht mir selbstverständlich
auch jegliche eigene Verstiegenheit vollständig ab, die es mir auch ohne
diesen Fahrstuhl-Trick erlauben würde, mein Erleben mit Falkners Texten
hier für mitteilenswert zu halten.) – Ja, nein. Mein rhetorisches
privatissimé folgt einer einfachen Strategie: Gerhard Falkner hat jüngst
eine Polemik geschrieben, in der er eine ganze Generation von jüngeren
Lyrikern (der ich mittlerweile wieder anzugehören scheine) auf eine sehr
weitreichende Abhängigkeit von seinem eigenen Schreiben verpflichtet. Er
urteilt über die Generation kollektiv, in kathedraler Anmaßung und
in übergriffiger Weise. Und weil ich mich angesprochen fühle, aber
nicht für die ganze Generation sprechen will – falls es mir doch
einmal aus Versehen! unterlaufen sollte, dann tritt automatisch ein toller Satz
von Monika Rinck in Kraft: »Ein Wir allein muß keine Gruppe sein.«
– weil das alles also so ist (und obwohl ich weiß, daß die
argumentative Beweiskraft des Exempels in den traditionellen Logiken nicht unbedingt
hoch veranschlagt wird) spreche ich hier selbstredend ganz für mich allein
…
So, jetzt aber die Reflektorenschilder wieder eingefahren, und auf in den Kampf!
– Ja leider, in der Polemik geht es schon vom Wort her selten ohne Kampf
ab, auch wenn das irgendwie nervt. Soll ich hier wirklich irgendwas kämpfen?
Muß ich mich ernsthaft damit abplagen, mit einem selbstgewählten
literarischen Ahnen in Streit zu treten? Wofür soll das gut sein? Wissen
wir nicht genug über die traurigen Konsequenzen solcher häßlichen
Taten für unser (ohnedies) vom Inzest gezeichnetes Schaffen, über
die prospektive Folge der Blindheit, überhaupt den ganzen familiären
Ruin? – Und trotzdem gegen die mächtigen Väter ankämpfen?
Ich habe mich wirklich gefragt, ob ich das tun soll. Und ob ich es mir antun
soll. Denn die Söhne kämpfen in dieser Konstellation immer auch gegen
sich selbst. Wäre da nicht noch jenes berühmte Motiv, das auch das
vorliegende Unternehmen sicherlich heimlich (mit)steuert. Um es zur Abwechslung
mit dem von mir verehrten A. P. Gütersloh zu sagen: Die Söhne werden
den Vätern den Stab des Eros entwinden. – Und das müssen sie
auch. Offenbar bin ich selbst also mit Falkner noch nicht ganz durch, und muß
die Bloomsche Konstante hier noch einmal austherapieren. – Ok. Versuch
bitte trotzdem, es als Spiel zu behandeln. Irgendwo, ganz in der Ferne, gibt
es dann zum Dank jenen kraftvollen Satz der Liebe: Ich und der Vater sind eins.
–
Also gut. Für den vorliegenden Fall ist jetzt zu untersuchen, was eigentlich
in Gerhard Falkners Aufsatz mich dazu bringt, diese klassische Vater-Sohn-Konstellation
aus dem Geiste des Polemos hier überhaupt zu aktivieren. Nun, entgegen
der (wahnhaften) Möglichkeit einer ›reinen‹ Projektion lädt
die Polemik Das Gedicht und sein Double durchaus von sich aus zum exemplarischen
Austrag eines Generationenkonflikts ein. Denn diesem Text (in dem es natürlich
auch um anderes geht, an dem ich mich gar nicht störe) ist für mich
eine Art Zeus’sches Szenario eingeschrieben. Und dieses Szenario beginnt
gleich am Anfang, mit einer dezidierten Provokation. Der große Dichter
Gerhard Falkner installiert sich selbst als Herrscher auf dem Olymp und verpflichtet
alle Kinder der Erde (bis auf die Lahmen und Blinden) auf die Herkunft aus seinem
Samen: »Die poetischen Verfahren dieser Generation und ihr Ausdrucksglanz
beruhen zu einem erheblichen Teil auf von mir in den 80er Jahren bis zu dem
Band wemut entwickelten Sprechweisen.«
Wow! – Was für ein Anspruch, was für eine Hybris. Eigentlich
ist es wirklich allein dieser Satz, der mich meine Entgegnung hier schreiben
läßt: So kann das nicht stehenbleiben. In einem solchen autoritären
Akt kollektiv unterworfen zu werden, das haben »wir« nicht nötig.
Und das muß wenigstens einmal auch formuliert werden, sonst bleibt nämlich
das andere stehen: und gilt.
Zunächst scheint klar zu sein: Der Satz ist ernst gemeint. Offenbar will
Falkner tatsächlich die gesamte nachfolgende Generation genealogisch auf
die eigenen, zwischen 1981 und 1989 entwickelten »Sprechweisen«
zurückführen. Vergeblich hält man Ausschau nach einem Anschein
von Ironie oder einer Relativierung. Einige Ausnahmen vom »Einfluß«
werden unter dem »Mayröcker-Pastior-Komplex« zwar konzediert,
die ungenannten Vertreter dieses Komplexes aber sogleich als flügellahm
diffamiert. – Anschließend wird der besagte spekulative Satz unter
Fingierung eines wissenschaftlichen Befundes gleichsam ›bewiesen‹.
Falkner setzt drei der insgesamt vier Fußnoten seines Beitrags (er spendiert
sie alle großzügig sich selbst, bzw. seinen Verehrern), hebt durch
Zitate seine (in der Szene, für die er schreibt, übrigens hinlänglich
bekannten) Verdienste um die Literatur hervor, verweist auf einige Druckerzeugnisse,
die seinen Autornamen tragen, eine über ihn erschienene wissenschaftliche
Monographie und weitere, seiner Dichtung gewidmete Artikel. – Dann wechselt
der Autor von der Ausgießung seines eigenen, gigantischen Einflusses aus
drei Gedichtbänden, ins Genre der Inkulpation. Dabei verbinden sich in
der Melodie seiner Sätze (jedenfalls für meine Ohren) Selbstgerechtigkeit,
Denunziation und tragischer Heroismus zu einer traurigen Weise:
»Die Kugeln dieses ›neuen Tons und neuen Materials‹, die wemut
vorlegte, wurden ab Ende der 80er Jahre in ein paar wenigen Fällen direkt,
öfter per Karambolage, in den meisten Fällen aber über Bande
gespielt und schließlich klammheimlich und gut vermummt in die jeweils
eigenen Texte eingelocht. […] Aufgrund meiner vollkommenen Abwesenheit
von allen Literaturbordellen, Umschlagplätzen, Hebebühnen und Lyrikbörsen
war es mir versagt, meine Anteile zu reklamieren.«
Das also sind wir: eine Generation von Spielern und Dieben, die sich auf Börsen
und in den Literaturbordellen herumdrückt und das gewaltige, von Gerhard
Falkner allein mühevoll gehobene, und gleich wieder spendierte lyrische
Kapital ohne jeden Dank an den Geber (ja, diesen sogar mutwillig verleugnend)
verzockt und verpraßt. – Der Vorwurf ist in dieser Form einfach
traurig. Lieber Herr Falkner! Sie haben das auf keine Weise nötig. Eine
Reihe von Leuten aus dieser Generation, das ist immer wieder zu hören,
schätzt Sie wirklich sehr hoch. Sollten Sie Ihrer eigenen Bedeutung so
unsicher geworden sein, daß Sie es neuerdings sinnvoll finden, Ihre wahnsinnige
Größe unter Beschimpfungen unters Volk zu bringen? – Selbst
wenn Sie nur halb soviel von dem Einfluß hätten, den Sie für
sich beanspruchen, wie können Sie uns dann im nächsten Schritt vorwerfen,
wir hätten Sie ausgeraubt? Mein Gott, wir haben Sie gelesen! Das wollten
Sie doch? –
Ja, wir haben Gerhard Falkner gelesen.Wir haben ihn gelesen, und von ihm gelernt,
was wir lernen konnten. Nachdem wir ihn gelesen haben, haben wir ihn verdaut
und als Nahrung in unsere verzweigten Zellensysteme mit eingespeist, wie andere
Autoren auch. Dann haben wir ihn ins Regal gestellt, wo schon ein paar andere
standen. Und da steht er also jetzt unter ihnen herum. Bei mir jedenfalls (sagte
ich eben schon wieder fünfmal: »wir«?) ist er zuletzt etwas
verstaubt. Aber er steht da in meinem lyrischen Schrein in der Gesellschaft
der besten. Petrarca und Shakespeare, Novalis und Hölderlin, Rilke und
Benn waren schon lange vor ihm da. Auch Valéry und Char, Vallejo und
Garcia Lorca. Celan stand schon ewig da. Irgendwann kam für mich Gerhard
Falkner dazu, mit starken Impulsen. Aber es kamen auch andere. Zum Beispiel
O’Hara. Charles Simic. Auch Ashbery war ein Schock. – Ein großer
Schock war für mich vor etwa zwei Jahren Reinhard Priessnitz. (Kommen jetzt
noch mehr peinliche Bekenntnisse?) Irgendwann Tranströmer. Ein großer
Einfluß. – Die letzte größere Korrektur war für
mich, im vergangenen Sommer: Tomaz� S�alamun.
Aber es ist auch egal. Wenn ich meine Liste jetzt nochmal durchlese, kommt sie
mir völlig bescheuert vor. Nichts als eine sinnlose Aufzählung von
Namen. (Habe ich W.C. Williams und Wallace Stevens schon genannt? Und Hilbig?
Christine Lavant? Was ist mit Ted Hughes? – Na klar, Mann. Hughes. Und
Jesse Thor? Großer Einfluß!) – Es scheint, die Argumentation
gerät an ihre Grenzen. Soll sie. Für die deutschsprachige Szene scheint
mir übrigens Falkner seinen Kollegen Thomas Kling ein wenig zu depotenzieren,
der sich einflußmäßig sehr wohl auf seiner Höhe bewegen
dürfte. Denn wenn ich nicht völlig falsch liege, ist Kling mit ein
paar anderen, inklusive der großen österreichischen Fraktion, für
einige Protagonisten » meiner Generation« schon immer eine gültige
Falkner-Alternative gewesen. (Für mich nicht. Ich habe von Kling vor allem
Technik gelernt, ansonsten sind in meinen Systemen aus dieser Ecke vor allem
Priessnitz, Heißenbüttel und Waterhouse angekommen. Artmann vielleicht.)
– Auch die Kugeln dieser Töne und Materialien haben wir in unsere
verhurten Spielerseelen mit eingeschmolzen!
So, genug davon. Gibt es nicht noch irgendeine andere Argumentation? Die Aufzählung
von fünfzig anderen Einflüssen, Güssen und Einschüssen (mit
oder ohne Freud und Harold Bloom) mag immerhin eine (leider, wie sich zeigt:
nicht sehr elegante) Möglichkeit sein, sich vor dem versuchten Übergriff
Gerhard Falkners auf die eigenen poetischen Ressourcen zu schützen. Eine
weitere könnte von der Frage ausgehen, wie Falkner überhaupt zu der
überzogenen Einschätzung kommt, wir hingen in »erheblichem«
Maße kollektiv an seinem Tropf? – Ich weiß es ehrlich gesagt
nicht. Vielleicht besteht ein Mißverständnis der von ihm vorgetragenen
Selbstsicht mit Blick auf die nachfolgende Generation darin, daß er »uns«
immer noch auf einem Standort am Ende der 80er Jahre anzutreffen meint? Bei
der Lektüre seines Aufsatzes stoße ich da aber auf das generelle
Deutungsproblem, daß letztlich nicht völlig klar wird, als wie groß
der Kreis der insgesamt ›erheblich Beeinflußten‹ eigentlich
anzunehmen sei: Von Durs Grünbein bis Björn Kuhligk oder Uljana Wolf
ist es schon eine ziemliche Spanne. Und so ein 1975er Jahrgang (außer
mir) hat sich ja damals nicht in derselben Lyrikwüste auf die Suche nach
den Wasserbrunnen gemacht, wie das in den 80er Jahren vielleicht nötig
war. Wir hatten nicht nur Falkner.
Da sitzt er also, der große Zeus, der allgewaltige Herrscher. Eine ganze
undankbare Generation von turmhoch eingerüsteten Athenen hat er aus seinem
riesigen Schädel entlassen, und dabei (der eigenen Kränkung durch
den Chronos offenbar allein auf dem Umweg über seine eigene, despotische
Vaterschaft noch gedenkend) eine klassische Vaterkränkung ausgesprochen:
Ohne mich würde es euch alle gar nicht geben. – Also sprach er, setzte
sich auf einer Wolke zurecht, und fing an, Blitze zu schleudern. Den Rest der
Geschichte kennen wir ja. … Am schlimmsten erwischte es die kriechende
Spezies der Großkritiker. Einige Treffer setzten ein paar Scheunen des
schändlichen Schlangenbetriebs der Literatur in Brand. Unterschiedlich
ist es hingegen den vielen, niedlichen Kleinen ergangen, die, seinem Schädel
entronnen, nun stolpernd (und bisweilen Banden bildend) sich ihre Wege durchs
Gestrüpp bahnen, von Apoll insgesamt eher sparsam beschienen. – Einige
kamen in den Genuß seiner manchmal ein wenig zwiespältigen Akklamationen.
Einige, die mit Glück ein Blättlein von dem eigentlich ihm allein
zugedachten Lorbeer erhaschten, bestrafte er finster mit einem furchtbaren Blitz.
Einige andere, eigentlich sogar beliebte Kinder, bekamen auch noch was ab, aber
ihnen blieb ja wenigstens noch ihr Spiel mit Schablonen. Einigen der olympischen
Kollegen erging es da weitaus schlechter: Ihnen drohte er mit Auslöschung,
oder verspottete sie auf garstige Weise. – Unter denen, die nicht einmal
seine Kinder waren, fand er schließlich ein verletzliches Wesen, das ihn
auf eine verborgene, marsyalische! Weise so sehr verzauberte, daß er gar
völlig aus der Fassung geriet, und sein eigenes, heimliches Begehren mit
Blitz und Donner ganz zu vernichten versuchte. – Wir hoffen, dass dieses
ihm nicht gelang.
André Rudolph