„Vergessen du musst was früher
du gelernt“
Mao Tse-tung, "Schwimmen", deutsch von Joachim Schickel
Schwimmen
1956, Juni
Hab kaum getrunken von Ch'ang-shas Wasser,
und hab gegessen von Wu-ch'angs Fisch:
den Zehntausendmeilenfluß gequert und hinüber,
ins Ferne den Blick, Ch'us Himmel entlang.
Unbesorgt um Windstoß, um Wellenschlag,
besser als müßig zuhause, ziellos umher
heute wird weit mir, überaus frei.
Der Meister, als er am Strom war, sagte:
'Geht weiter alles, wie dieses da!'
Im Wind die Masten bewegt,
Schildkröte, Schlange still;
Anfang mit großen Plänen.
Die eine Brücke, im Flug sich spannend,
nordsüdlichen Himmelsgraben macht sie passierbar.
Weiter stehn, westwärts am Fluß, die steinernen Wälle,
abzuschneiden des Zauberbergs Wolken und Regen,
hohe Kliffs über ebenem See.
Die Geisterfee, sollte sie noch wohlauf sein,
sie müsste erschrecken: die Welt wurde anders.
Küchler: Können schlechte Menschen gute Gedichte schreiben?
Scheck: Sie tun es unentwegt.
Aber ein Massenmörder wie Mao? Der Erfinder der „Menschenwellen-Taktik“
im Koreakrieg, der einfach so viele Soldaten gegen eine Stellung anrennen ließ,
bis dem Gegner die Munition ausging?
Streng genommen waren auch Christopher Marlowe und Heinrich von Kleist Mörder.
Und vergessen wir nicht die Romanautoren Saddam Hussein und Muhammar al-Gaddafi.
Steckt hinter Ihrer Frage nicht die Vorstellung vom guten Gedicht als Spiegel
einer reinen, geretteten oder sonstwie privilegierten Seele?
Jedenfalls als Spiegel einer Seele, die nicht 75 Millionen Tote auf dem Gewissen
hat.
Nehmen wir der Frage ein wenig das Pathos: Wieso sollte ausgerechnet ein Massenmörder
nicht auch köstliche Saucen anrühren oder hübsche Kleider entwerfen
können? Oder meinetwegen eben auch schöne Gedichte schreiben?
Eine Kunst ohne Moral endet im unverbindlichen L’art pour l’art.
Ich gebe doch auch nicht jedem die Hand - warum sollte ich da ohne Ansehen der
Person jedermanns Gedichte lesen?
So gesehen ist jede Lektüre eine moralische Entscheidung – genau
wie die, ob man sich in Peking heute von Maos Nachfolgern Medaillen um den Hals
hängen läßt oder nicht. Aber mich interessiert viel mehr, ob
„Schwimmen“ ein gutes Gedicht ist.
Es ist jedenfalls ein übersetztes Gedicht. „Geht weiter alles,
wie dieses da“ sagt Maos Meister am Fluß. Diesen Tonfall kenne ich
nur aus dem Kino, so spricht Meister Yoda in „Das Imperium schlägt
zurück“: „Vergessen du musst was früher du gelernt, Luke!“
Yoda spricht so, weil Konfuzius so spricht. Aber zugegeben: eine englische Übersetzung
macht aus „Geht weiter alles, wie dieses da“ das doch bedeutend
eingängigere und elegantere 'Thus do things flow away!' Mag man im einzelnen
mit der deutschen Version von Maos Übersetzer Joachim Schickel aus dem
Jahr 1965 noch so hadern, seine ausführlichen Anmerkungen haben mir Maos
Gedicht erst erschlossen. Und mehr kann eine Lyrik-Übersetzung vielleicht
auch gar nicht leisten.
Wir können beide kein Chinesisch – aber „besser als müßig
zuhause, ziellos umher“ ist weder Chinesisch noch Deutsch, sondern reines
Translatorisch.
Punkt für Sie. Wie bei jeder Metamorphose geht auch die Verwandlung der
Übersetzung mitunter nicht ohne Schmerz ab. Aber was wäre denn die
Alternative: ewig im nationalen Mußtopf der heimischen Lyrik sitzen?
Bewahre! Man liest nur, was man weiß. Daß die ersten beiden
Verse ein chinesisches Volkslied paraphrasieren, daß mit “Schildkröte“
und „Schlange“ zwei reale Berge gemeint sind, zwischen denen die
Brücke über den „Zehntausend-meilenfluß“ Yangtze
gebaut wird, ja dass die Form dieses Gedichts diesen Brückenschlag selbst
reflektiert: ohne Schickels Anmerkungen wäre das alles an mir vorbeigegangen.
Aber ein gutes Gedicht muß ohne die Krücken eines Anmerkungsapparat
laufen können.
Schickel schafft immerhin den Schattenriss eines guten Gedichts. Das Erschrecken
der chinesischen Geisterfee in ihrem Zauberberg angesichts von Maos Stahlbeton-Moderne
wird als Bild bei mir bleiben.
Mich erschreckt eher, dass Mao den Schrecken dieser Geisterfee mitdenken
konnte. Seine Biographen berichten von Maos Angewohnheit, Gedichte bei Sitzungen
auf Blätter zu kritzeln und diese scheinbar achtlos im Aufstehen unter
den Tisch zu werfen – wohlwissend, dass eine ganze Schar Sykophanten sich
sogleich darum balgen würden.
Sabine Küchler/ Dennis Scheck
Gedicht und Gespräch erschienen im Tagesspiegel am 12.07.2008
( mit dem Untertitel Richtiges und gutes Deutsch mit Sabine
Küchler und Denis Scheck)