Es hat von lauter Purpur ein Mäntlein um
„Das Schicksal in Zahlen hat etwas sehr Beruhigendes, den Gründen
der Mathematik widersteht keiner, und eine Arithmetik und Statistik der menschlichen
Leiden würden viel dazu beitragen, diese zu vermindern.“ Wenn nach
Ludwig Börne die Mathematik eine solche Heilfunktion für den Menschen
hat, welche Vorteile bietet sie dann der Poesie? Fraglich. In der Literaturgeschichte
ist etlicher Unsinn mit mathematischen Methoden getrieben worden. Man kann sich
fragen, welchen Nutzen die strukturale Linguistik und die akribische Datensammlung
durch Zählen der Laute, die Erstellung grammatischer Klassen und die Suche
nach Reimstrukturen für die Texterschließung haben. Man kann sich
fragen, welchen Nutzen Enzensbergers Poesieautomat in Marbach hat.
Während sich Novalis nach dem Freiheitsmoment mathematischer Symbolisierungen
und der axiomatischen Selbstreferenz gefragt hat, fragt sich Oswald Egger, was
es heißt den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen. Das poetische
Abtasten der Umgebung, des Waldes, führt Egger zu Untersuchungen mathematischer
Zusammenhänge. In der Vermessung des Raumes hält er sich in der algebraischen
Topologie auf. Die Frage über die zeitliche und räumliche Unendlichkeit
des Waldes, die Lichtkreise und Lichtspiegelungen führen Oswald Egger aber
in unendliche Orientierungslosigkeit: „Unterschieden sich das Reale (der
Sache nach) und das Wirkliche (nach seiner Aktualität) von sich: ununterschieden?“
Das wirre Männlein im Walde dreht sich ständig um die eigene Achse
und bleibt im Elementaren stecken. Zu sehr plagt die Ungewissheit, ob wirkliche
Gegenstände existent und existente Gegenstände wirklich sind, als
dass sich Egger aus dem Strudel um Sein und Nicht-Sein befreien könnte.
„Fraglos war bereits eine klare Idee mehr wert als viele verworrene.“
Ja, wäre sie in der Tat. Auch ein Essay braucht einen Blick über den
Waldesrand hinaus. Diskret und stetig werden zu viele nicht-kohärente Sprünge
vollzogen. Von der Infinitesimalrechnung zur Mengenlehre zur Integralrechnung
zur Logik zur Erkenntnistheorie zur Astronomie zur Optik und Moiré-Effekten.
Und der Zusammenhang zur Poesie? Der versteckt sich stetig und diskret irgendwo
im Wald und hat einen Heidenspaß daran, sich nicht zu zeigen.
Der Untertitel Poesie und Mathematik und das Anliegen der edition unseld, eine
Interpenetration von Natur- und Geisteswissenschaften zu beleben, verspricht
eine allumfassende Darstellung. Aber kein Wort fällt über die tatsächliche
literarische Nutzung mathematischer Strukturen. Kein Wort über Oulipo und
deren Versuch Mathematik für das Schreiben fruchtbar zu machen. Kein Wort
darüber, Matrizenmultiplikation zu benutzen, kein Wort über die Kombinatorik
und dadurch erzeugte Anagramme, Lipogramme, Homorphismen. Kein Wort über
mathematische und lyrische Formstrenge. Keine Rede darüber, was Pythagoras
umgetrieben hat, mittels Zahlenverhältnisse Harmonie und Schönheit
zu beschreiben, mittels Algorithmen die Metrik zu bestimmen. Keine Rede über
analoge Denkmuster und der Übergang von Platon zur axiomatischen Mathematik
Euklids und die Loslösung von dem, was man als Germanist Signifikat-Signifikant-Zuordnung
bezeichnen würde, und radikalen Konstruktivismus ermöglicht. Kein
Wort über das der Poesie und Mathematik gemeinsame Bestreben nach organisierten
Symbolisierungen und nach Abstraktion. Keine Rede davon.
Und doch versucht Egger stellenweise eine Anwendung aufzuzeigen: „Metrik,
in Parallelverschiebung eines fundamentalen Parallelogramms, schien sich in
zwei und zwei Richtungen zu orientieren: die Metrik -> Früher als war
vielleicht einer Früher als -> Metrik gehege, inkludiert, und beide
zueinander desgleichen irreduzibel überlagert (in Interferenz dessen, was
immer zwischenkommt): raumartige Intervalle und zeitartige Intervalle kreuzen
und queren die so und so verunschärfte Form des Amorphen.“ Na, schlauer?
Da erfährt man eher noch mehr in Helmut Kraussers UC über Poesie und
Mathematik: „Durch die Kraft der verdichteten Gedanken, also der Poesie,
kann jeder Sachverhalt fast ebenso exakt beschrieben werden wie durch Zahlenkolonnen
und Formelsammlungen. Mathematisch nicht ganz so praktikabel womöglich,
doch in gültiger Schönheit.“ Was zu beweisen gewesen wäre.
Walter Fabian Schmid
Oswald Egger: Diskrete Stetigkeit. Frankfurt am Main 2008