Bilinguale Kippfiguren


Als Uljana Wolf 2006 mit gerade einmal 26 Jahren der Peter-Huchel-Preis für ihr Debüt verliehen wurde, war die Überraschung groß im kleinen Lyrikbetrieb. Die Erwartungen auf den Nachfolgeband, für den sich die Dichterin vier Jahre lang Zeit gelassen hat, hingen entsprechend hoch. Mit falsche freunde legt die Lyrikerin, die sich in der Zwischenzeit als Übersetzerin aus dem Amerikanischen verdient gemacht hat, einen durch und durch komponierten zweiten Band vor, der ebenfalls auf einem Motiv des Übersetzens basiert. Falsche Freunde, eigentlich Stolpersteine in der Übersetzungsarbeit, sind Wörter aus zwei Sprachen, die gleich aussehen oder gleich klingen, allerdings unterschiedliche Bedeutungen haben.
Was ansonsten leicht zu Missverständnissen führen kann, wird gekonnt eingesetzt, um in den Gedichten mehrere Sinnebenen übereinander zu legen. Hierfür hat Uljana Wolf ihr persönliches DICHTionary angelegt – eine alphabetische Sammlung falscher Freunde, aus der sie das titelgebende erste Kapitel entwickelt. Und das ist ein Spiel. Ein Spiel, bei dem die Wörter durch ihre Doppelbedeutungen in stets neue und zusätzliche Richtungen weisen, ohne dass sich der Sinn in alle Richtungen verstreut. Die Dichterin fängt die verschiedenen Bedeutungen immer wieder ein und kristallisiert ihre Gedichte zu kompakten, schillernden Prismen. Die gleitenden Wörter dringen nicht gewaltsam in neue sinnliche Räume vor, sondern sie ertasten sich einen neuen Bereich, so wie sich das Gedicht zu seinem angesprochenen Du vortastet und sich ihm anschmiegt.

well~~~e
wink – wink~el – wink
wär ich ein uferschneck, or more sophisticated: wentletrap, wühlte
mich das meer vor deine füße, doch du suchtest, pulend, stur, dem
namen nach in meinem haus die weißen treppen nur, und dunkle
winkel. draußen gäb ich, ach vergeblich, mit den fühleraugen
winke, algenschminke an der wange, wissend, dies wird niemals
gut, das heißt mit wellen enden, bloß ein rauschen bleibt zuletzt
in deinem ohr.


Eine »Sprachlandschaft von spielerischer Frische« attestierte die Huchel-Preis-Jury der Autorin 2006. Ihren Spieltrieb scheint die Lyrikerin allerdings erst jetzt so richtig zu entfalten und übersetzt sich sogar selbst. Das Kapitel Subsisters, sozusagen verschwisterte Subtitles, fußt auf dem Problem der kognitiven Überforderung durch Filme mit Untertiteln. Um Hollywood-Schauspieler der 50er und 60er Jahre herum schreibt Uljana Wolf Paargedichte. Das jeweilige Basisgedicht, die Originalversion, wird abgewandelt und übersetzt in ein Parallelgedicht. Wie bei Filmen mit Untertiteln, wo man hinterherhinkt, nur je einen Teil aus Bild und Text wahrnimmt, und es für sich neu zusammensetzen muss, geraten in den Parallelgedichten die Wörter durcheinander, sie werden umgestellt und abgewandelt. Die Neukombination verschiebt das Setting der Filmszenen aber in einen ganz anderen Raum, in eine andere Situation und spult eine andere Handlung ab.
Auf der Suche nach doppelten Bedeutungen und Sinnverschiebungen bezieht die Lyrikerin auch das Motiv des Buches mit ein. Wo es in den ersten beiden Kapiteln ums Übersetzen als Übertragungen in eine andere Sprache und in ein anderes Sinnverständnis geht, bedichten die letzten beiden Kapitel das körperliche Übersetzen. Alien I widmet sich den Kontrollen an amerikanischen Einwanderern auf Ellis Island, wo zwischen 1892 und 1954 binnen Sekunden individuelle Schicksale entschieden wurden. Der Verlauf der Weiterreise war abhängig von der medizinischen Durchleuchtung auf der »Tränensinsel«. Sollte sich hier ein gesundheitlicher Mangel herausstellen, wurden die Einreisenden durch einen entsprechenden Buchstaben mit Kreide auf der Schulter stigmatisiert. So stand etwa g für goiter, den Kropf.

goiter
»kathl jetzt in münchen im operiren.« wochen darauf, müde von
der überfahrt, dieses würgen an der gurgel: noch nie von einem
mann berührt, aber die hand des inspektors wühlt. wie er sortiert!
die guten, wie kathl, ins töpfchen, schmelzen sich ein. die schlech-
ten, mit kröpfchen: nimm, liebes, deine schöne tracht, geh heim.
das bestickte halsband in der schlange stand bald allgemein für
bayrischen [sic!] jodmangel. das kreidebleiche g nicht für glück.


Gerade in Zeiten moderner Kontrolltechniken haben die Überwachung und die Durchleuchtung von Menschen an Grenzen eine verschärfte politische Dimension bekommen, um die sich Uljana Wolf im letzten Kapitel Alien II annimmt. Die Gedichte schöpft sie aus Fachtexten, Regierungstexten und Verordnungen. Durch Ausstreichungen an den Ursprungstexten bleibt nur noch ein entkörpertes, lückenhaftes Textgerüst übrig; ein Propagandamitschnitt, bei dem die Hintergründe und Zusammenhänge unaufgedeckt bleiben. Alien II will sich dem gesamten Band aber nicht nur methodisch nicht so recht fügen; es bleibt fremd, weil sich eine justiziale, knorrige Sprache einschleicht. Durch das verstreute Ausspucken von Wörtern erzeugen die Gedichte aber ein Abbild der kalten Mechanik moderner Kontrollsysteme.

Ein methodisch so aufgeladener Band wie falsche freunde läuft immer Gefahr, dass man nur noch die Methode wahrnimmt, dass der Stoff zum l(i)eblosen Material wird. Doch für Uljana Wolf zahlt sich das Wagnis voll und ganz aus. Sie behält stets die absolute Souveränität über die Energieüberschüsse, die sie erzeugt, und die Gedichte bleiben schwebeleicht dabei. Sie verzaubert den Leser mit ihrem grandiosen Spiel, ohne ihn zu zerstreuen; sondern lädt ihn ein, durch die Räume zu spazieren, die die gleitenden Wörter öffnen. So ein Zusammenspiel von Kopf und Lust sucht seines-gleichen in der derzeitigen Lyrik.


Walter Fabian Schmid


Uljana Wolf – falsche freunde, Berlin 2009