Klare und zarte Konturen
Über Nico Bleutges Lyrik


„Er sieht nicht ein, warum Dichtung sich stets zu einer deklamatorischen Tonlage aufschwingen muß, warum sie sich nicht damit zufrieden geben kann, den Modulationen der normalen Sprechstimme zu folgen – warum sie sich eigentlich so sehr von Prosa unterscheiden
muß.“ (J. M. Coetzee, Die jungen Jahre)2004


Gedichte von Nico Bleutge las ich zuerst in der Zeitschrift „Sinn und Form“: wandernde teilchen, das sehen; kühlere schläfen, die wolken liegen schwer; charakterkopf. Die ruhige Gangart des Sprechens gefiel mir – sicher im Ton und im Rhythmus, nichts wirkte aufgeschäumt, nichts gespreizt, das Besprochene konnte gesehen werden. Formal fällt auf: die Langzeile (zu deren günstigen Strömungsverhältnissen die Kleinschreibung beiträgt, beizutragen hat) und die in vielen Gedichten vollständige Syntax, Endlos-Reihen von Subjekt-Prädikat-Objekt-Konstruktionen, die seltsamerweise nie verstimmen, weil sie nach außen getragen sind vom meditativen Charakter der Ansprache und nach innen von den vielfältigen Bewegungsformen im Textverlauf, seiner kinetischen Energie. Perfekter Einsatz der Verben. Der Eindruck entsteht (er soll entstehen), der Text sei nicht vorrangig dem Willen zum Gedicht gefolgt, sondern nur sich selbst, das heißt dem Schauen und der es begleitenden oder anführenden Sprachschau. Die dieser Sprachschau innewohnende Diktion tendiert zur Prosa, was ich als Teil eines umfassenderen Bemühens verstehe, alles Avancierte und Ambitionierte, das die lyrische Gattung selbst schon mitzubringen scheint, zu vermeiden. Man könnte sagen: Hier geht es um Sprach- und Wahrnehmungszustände vor der Natur, in denen das Gedicht – das ist die Utopie, die diesem Schreiben innewohnt – einen authentischen, also von Vorurteilen und Wertkontexten freien Ausgang nehmen möchte. Dazu tritt der Schauende in seiner Personalität (Prägung) zurück, er versucht, die Dinge ohne Absicht zu sehen, statt ihnen mit den bekannten Bestimmungen zuvor zu kommen, er möchte gern bei (mit) ihnen sprechen, statt über sie.

2001
Einen Tag vor meiner Abreise nach Kasachstan im November 2001 fuhr ich für eine Lesung zur Christian-Wagner-Gesellschaft nach Warmbronn bei Stuttgart. Nach der Lesung kam ein jüngerer Mann auf mich zu und stellte sich vor: Nico Bleutge. Ich hielt ihn für einen Literaturkritiker (was er, nebenher, wohl immer noch ist), von seiner Autorenschaft als Lyriker wußte ich nichts. Überdies versuchte ich – während wir miteinander sprachen – es zu vermeiden, ihn anzusehen: ich hatte ein blaues Auge, ein Veilchen, wie es verharmlosend heißt, das teils noch geschlossen, nicht vollständig aufgeblüht war – kein guter Anblick. Wenn ich mich richtig erinnere, nutzte ich die Gelegenheit, die Vermutungen, die mein kaum zu übersehendes Handicap mit Sicherheit begleiteten, zu zerstreuen und erzählte ausführlich vom Hergang der Verletzung, von den Gefahren des Hallenfußballs, von einem Ellbogen, der mich unglücklich, in vollem Lauf, mitten ins Gesicht getroffen … Heute frage ich mich vor allem, ob Nico Bleutge bei der folgenden Besichtigung der Christian-Wagner-Gedenkstuben noch dabei war – das Interieur im Schlafraum des schwäbischen Dichters hätte ihm vielleicht gefallen und könnte ein brauchbares Material liefern für einen Text in der Manier seiner Innenraumgedichte (vgl. „Hopper II“ oder „Hopper III“ in „klare konturen“). Wagners Bettstatt in der Ecke, links vom Fenster, ein Kinderbett, fast noch kleiner als das Bett der Droste, dachte ich, sein dunkler Kasten, das Fußende stand höher als der Kopf, dazwischen zwei Decken, zwei Kissen, die Bezüge angegraut, der Umriß einer Klappe im Boden, Dielenlicht, dem Stuhl am Bett fehlte ein Brett und über dem Kopfende das Bild Aus der Böcklin-Mappe, herausgegeben vom Kunstwart: Der heilige Hain, darauf drei Gestalten, die am Opferfeuer knien und sechs, die noch herankommen …

Wagners Glaube, Spiegelreflexe kämen aus dem fernsten Hinterland unseres Gedächtnisses, von einer umfassenderen Einheit her, umfassender als Individualität und Ich-Aussprache, ist nicht so weit entfernt von dem, was Nico Bleutge im Selbstkommentar „Auf der Glasfläche“ an einem Beispiel für das Schauen im Gedicht beschrieben hat: „Die Fensterscheibe [eines fahrenden Zuges, L.S.] verwandelt sich in eine Versuchsfläche, in deren strenger Umgrenzung das Wahrgenommene plötzlich aus seinen Kontexten des Gebrauchs heraustritt und für sich steht. Und das hat zunächst einmal gar nichts mit Willkür zu tun, sondern verdankt sich der Beschränkung und dem genauen Blick auf das, was hinter (fast möchte ich sagen: auf) der Glasfläche erscheint.“

2005
Leipzig, Deutsches Literaturinstitut. Bei einer Lesung, die den Studenten im Seminar Gelegenheit geben soll, Lieblingsgedichte zu präsentieren, geht es auch um jüngere Autoren; ich erwähne einen Faible für Nico Bleutge (gelesen wird sein Gedicht fransige schneisen, das auge) und gewahre Zustimmung bei einigen der Studenten – hier ein paar Merkmale seiner Gedichte:

1. Materialität
Nico Bleutge schreibt Texte, deren Blick auf Materialien und Substanzen trifft und ihre Oberflächenstruktur abtastet, unter Umständen auch bearbeitet. Diesem Blick ist der verborgene Wunsch abzulesen, sich bei den Dingen selbst einzuschreiben, ihnen ähnlich zu sein, auf die für den gewöhnlichen Gebrauch der Welt schwer vermeidbare und für deren alltägliche Anschaung liebgewordene Vorstellung einer Dualität von Subjekt und Objekt zu verzichten:

fransige schneisen, das auge

hinkt dem kopf immer ein klein wenig hinterher, der metallknauf
mit den kantigen schrauben, das grob gesichelte wasser, die bojen
und kugeln aus styropor (fast hüpfend), die schwarz-weißen stangen
die das ufer abstecken, langsam, beim wandern über den horizont
kommt die sandlinie näher. tangfäden, schmale markierungstonnen
der blick schleift die rundungen ab und die vögel
rauhen die luft auf. scharlach, malve, blau harren aus
das schauen gewinnt an den farben, an den konturen
fädeln die lider sich ein. […]


Die Möglichkeiten der Sprache, das geschaute Material (im wandernden Focus mit großer Sorgfalt behandelt) umzusetzen in ein substanzielles Sprechen – oder anders gesagt: die, zum Beispiel, onomatopoetische Qualität der Sprache hervorzukehren, um einen Eindruck von „Materialität“ in unserem Lesen/Hören zu wecken, werden ausführlich wahrgenommen. Nie aber wird hier etwas nur „benutzt“, was hieße, sich über die geschauten Dinge zu erheben – aber das steht nicht an, gerade das soll vermieden werden.
Bis sich dann die „Lider einfädeln“ an den Konturen: Vor manchen Fügungen sträubt sich das lesend mitschauende Auge, meist sind es solche, einem brachialeren Expressionismus verhaftete Bildideen – schließlich muß der Autor damit rechnen, daß sich der Leser von Gedichten das Bild zunächst und vielleicht vor allem im direkten, beziehungsweise nächstgelegenen Wortsinn aufruft, ehe er Lust empfindet, weiteren metaphorischen Qualitäten und anderen Bedeutungsebenen nachzuspüren – bis sich also die Lider einfädeln an den Konturen, bis zu diesem „k“ des Wortes „konturen“, wurde gereinigt, abgeschmirgelt, blank und klar gemacht, über „hinkt“-„kopf“-„klein“-„knauf“-„kantig“ usw. wurde die Materialqualität und die metallische, mattglänzende Klarheit der Umrisse, beschlagen bereits vom Raunen einer langen „a“-„au“-Reihe (von „rauhen“ über „scharlach“ bis „schauen“), sprachlich herausgearbeitet. Ein Verfahren, das Seamus Heaney einmal an Ted Hughes bewunderte, dessen Kunst, wie Heaney 1976 in einer Vorlesung über Larkin, Hill und Hughes darstellte, durch klare Umrißlinien gekennzeichnet sei, was er unmittelbar mit der Verwendung der Konsonanten in Zusammenhang brachte – klare konturen.
Belebend im zweiten Teil des Gedichts sind die Passagen, in denen die Landschaft dann ihrerseits die Sinne in Arbeit nimmt: „für das lauschen / treten schon wellen hervor“. Wir sehen, wie Landschaft mit der Physis des Blicks verschmilzt und entsteht. Dabei werden seine physiologischen Voraussetzungen (Lider, Wimpern) aktiv und direkt in den Wahrnehmungsvorgang eingeführt. Die Konstruktion ist deutlich, aber sie verstimmt nicht, weil sie rhythmisch und im Wortgebrauch gelingt.

2.

wandernde teilchen, das sehen

war diese eine bewegung, der landschaft punkte vorzugeben
sicherungskästen, knoten, die in den felsen gestemmten
pfosten aus holz, und die eingewickelten boote. […]

Bleutges Verfahren ist es, einen Raum abzugrenzen, sich auf einen „Sichtausschnitt“ und darin, sagen wir, auf trigonometrische Punkte festzulegen, um ihn von dort aus zu erschließen. Die Beschränkung erlaubt Intensitäten im Detail. Und sie erlaubt eine Anschauung, die davon träumt, aus den üblichen Kontexten auszuscheiden, herauszutreten in die reine Wahrnehmung, das reine (bereinigte) Schauen. Einziges Thema: das Sensorium, seine Landschafts-Aufzeichnungen, seine Aufzeichnungsmethode. Held dieser Geschichte ist der Blick: „gab dem blick nach“ / „die der blick mit seiner schärfe auszuhebeln schien“ / „der blick wurde leichter“. Nach geometrischen Mustern werden Wahrnehmungsgestelle (Raster) in den abgezirkelten, oft maritimen Raum der Betrachtung und Besprechung eingebaut, die diesen Blick leiten oder ihm zuarbeiten: von „Linien“, „Strichen“, „Schienen“, „Drähten“ und „Schraffuren“ ist die Rede; man denkt an eine bestimmte Art der Photographie (Edward Westons Landschaftsaufnahmen), die geometrische Elemente in der Landschaft hervorhebt und dabei eine überraschende Künstlichkeit erzeugt. Die Raster im Gedicht stabilisieren den Raum und halten, da sonst alles Mögliche in Bewegung ist, die Sicht frei. Die Dinge steigen, drehen, dehnen sich, tauchen auf und ab. Die Darstellung einer Bewegung und die davon induzierte Raumvorstellung – diese beiden Grundvoraussetzungen für die Vitalität des Gedichts, sind für Bleutge kein Problem. Besonderes Augenmerk gilt raumfüllenden Licht- und Luftverhältnissen sowie Wasserbewegungen und -kreisläufen; physikalische Phänomene werden einbezogen, Meterologen mit einer hermeneutischen Begabung werden sich ohne weiteres zu Hause fühlen in diesen Gedichten, „wo die luft etwas mitteilt“. Überhaupt ist das Sprechen um Sachlichkeit bemüht, jedenfalls dort, wo das Fachsprachliche die besseren, brauchbareren Komposita abwirft: sichtschneisen, anschlußsäule, markierungstonnen, randweiden, kerblinien, uferlinien, baumbestand.

3. Diskretion
Die oben vermerkte Anhäufung von Konsonanten und Vokalreihen trübt das Gesamtbild nicht: das Wohldosierte, gut Gearbeitete, bewußt Gesetzte, die Vorsicht und Treffsicherheit im Gebrauch der poetischen Mittel kennzeichnen diese Gedichte. Zurückhaltung ist ihre Tugend, zugleich das Geheimnis ihrer besonderen Eingängigkeit (im besten Sinne). Das Sprechen soll absichtlos wirken, weitgehend ohne die lästige, unangebracht vordergründig empfundene Präsenz eines Sprechers mit seiner Ansprache, mit seinen konkreten Gefühlen darin, seinen Freuden und Nöten. Es geht um die Form des möglichst unaufdringlichen Gedichts, das trotzdem in der Lage sein soll – beinah wie für sich selbst – alles das auszudrücken, was der expressionistisch und an einem Ich und seinem Weltbezug orientierte Text seinem Leser ohne lange zu fackeln um die Ohren schlägt. Eine diskrete Poetik. Das war mir nicht fremd. Das gefiel mir.

Mit seiner konsequenten Vermeidungshaltung, dem Ausschluß von Themen und seinem sich in allen Momenten, die eine beurteilende Präsenz verraten könnten, zurücknehmenden Sprechers, bewegt sich das Bleutge-Gedicht in engen Grenzen. Man möchte Nico Bleutge wünschen, daß er dabei auch auf Dauer mehr Glück hat als Italo Calvinos „Herr Palomar am Strand“ bei seinem „Versuch, eine Welle zu lesen“. Ähnlichkeiten, Parallelitäten und Wiederholungen kennzeichnen das Debüt „klare konturen“, ohne daß das störte. Man findet dort eine Reihe durchaus vergleichbarer poetischer Registraturen und Nahaufnahmen, mit welchen den Dingen wiederum nicht zu nahe getreten werden soll: etwas Aseptisches haftet diesen Bildern an, manchmal auch etwas Miniaturhaftes, Süssliches, wenn die gleichbleibende Aufmerksamkeit mit der die Landschaft betrachtet und bedacht wird (selbstverständlich außerhalb des Spektrums von „schön“ und „häßlich“), regelmäßig in einen verkleinernden und weichzeichnenden Gebrauch der Attribute und Verben mündet: die Dinge sind vor allem klein, schmal, fein, weich, süss, sie glimmen, knistern und rieseln. In der Gedichtreihe „Seelichter“ lesen wir nacheinander vom „zappeln“ der „blättchen“, „zirpenden blättchen“ und am Ende von „blättchen“, die „zweimal da“ sind. Das ist nicht unangenehm, nur auffällig, und darüber zu rechten, wäre sicher falsch: Nico Bleutge zeigt an anderer Stelle, daß sich das Mikroskopische auch ohne Diminutive in Szene setzen läßt. Und schließlich gehört auch das „blättchen“ zur Manie, die dieses Schreiben antreibt und seine sehr eigene Handschrift kenntlich macht: die Sanftheit des Schauens aus honigwarmen pupillen, die Zartheit der Konturen.


Lutz Seiler

Literatur
Nico Bleutge: klare konturen. München, 2006.
Christian Wagner: Eine Welt von einem Namenlosen, Bd. 1: Das dichterische Werk, hrsg. von Ulrich Keicher. Frankfurt am Main, 2003.
Italo Calvino: Herr Palomar. München, 1985.