Noch einmal: Über Avantgarde und experimentelle Lyrik


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Wenn man Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre begann, sich für Gedichte zu interessieren, deren Autoren sich in irgendeinem Sinn dem Experimentbegriff verpflichtet fühlten, befand man sich in einer eigenartigen Situation – Philatelisten nennen so etwas, glaube ich, ein abgeschlossenes Sammelgebiet. Zwar stellte der Zugriff auf die Schlüsseltexte der deutsch- und fremdsprachigen Avantgarden, anders als für die beiden Generationen zuvor, kein großes Problem mehr dar – eine mittelflotte Universitätsbibliothek, eine ambitionierte Stadtbücherei war damals oft besser als heute in der Lage, die dringlichsten Sehnsüchte zu befriedigen – nur hatte sich die allgemeine Einschätzung dieser Form von Literatur radikal verändert. Der Avantgarde-Begriff war vom Feuilleton und der Mainstream-Theorie für obsolet erklärt und mit einem Aufatmen verabschiedet worden, für die jüngeren Lyriker der »Neuen Subjektivität« hatte er von Anfang an keine große Rolle gespielt oder taugte gar, neben dem »Elitarismus«, zum Feindbild, und so waren es alleine die in den zwanziger Jahren geborenen Lyriker: Friederike Mayröcker, H.C. Artmann, Helmut Heißenbüttel, Ernst Jandl, Oskar Pastior und einige wenige andere, die die Fahne hoch und das Sammelgebiet einen spaltbreit offen hielten. Womit natürlich auch ein Rezeptionsproblem benannt ist – vieles war für mich damals schwer greifbar oder einfach noch nicht wahrnehmbar: in welcher Weise Elke Erb und Adolf Endler in Berlin/DDR wirbelten, was Gunter Falk in Graz und Reinhard Priessnitz oder Dominik Steiger in Wien für Sensationen lieferten, ganz zu schweigen davon, dass die ersten Gedichtbände von Franz Josef Czernin und Ferdinand Schmatz in diesen Jahren erschienen – in Stuttgart liefen die Uhren eben etwas langsamer.
Wie auch immer – mir kam es jedenfalls so vor, als hätte ich etwas entdeckt, eine ästhetische Revolution, die spätestens im Moment der Entdeckung durch mich historisch geworden war – oder doch zumindest dazu erklärt wurde. Was bedeutete, dass sich auch meine eigenen Gedichtbemühungen, noch weitgehend unbeleckt von avantgardistischer Theorie und Praxis, doch irgendwie in diese Richtung zielend, wohl nicht ganz auf der Höhe der Zeit bewegten. Keine Katastrophe, aber doch eine nachhaltige Irritation, die so lange währte, bis ich, viel zu spät, Helmut Heißenbüttels großartigen Aufsatzband »Zur Tradition der Moderne« gelesen hatte und mir klar geworden war, dass es bei den Scharmützeln rund um den Avantgarde-Begriff nicht um Literatur und ihre Entwicklungsmöglichkeiten, sondern um Positionierung und Meinungshoheit ging – Machtkämpfe auf einem sehr überschaubaren Feld. Heißenbüttel zeigte nun eindrücklich, dass die Geschichte der Avantgarde nicht mit Marinetti und Majakowski, mit Ball und Schwitters beginnt, sondern spätestens mit Fischart und Kuhlmann, und dass sie nicht mit der Konkreten Poesie endet – vielmehr verhalte es sich so (auf diesen Nenner lassen sich Heißenbüttels Thesen vielleicht bringen), dass wir es hier mit einem unabgeschlossenen, unabschließbaren Prozess zu tun haben, und dass es kein Zurück gibt hinter die Erreichungen der Avantgarde, was in gleichem Maße für ihre Verächter wie für ihre Apologeten gilt. So waren die Dinge also wieder zurechtgerückt, nur schienen eben Heißenbüttels Erkenntnisse die jüngere Lyrikszene noch nicht erreicht zu haben, zumindest war in den einschlägigen Jahrbüchern und Anthologien noch nichts zu spüren davon.

Doch dann ereignete sich, inmitten der öden Achtziger, mit einem Paukenschlag das »Pfingstwunder der deutschsprachigen Lyrik« (Tobias Lehmkuhl): Innerhalb kürzester Zeit erschienen die ersten Gedichtbände von Peter Waterhouse, Thomas Kling, Bert Papenfuß und vielen, vielen anderen. Die Szene zeigte sich von heute auf morgen vollständig verändert und mir wurde offensichtlich, dass es sehr wohl Leute gab, die sich in den vergangenen Jahren mit denselben Problemen beschäftigt hatten wie ich, nur waren sie in ihrer Arbeit schon wesentlich weiter vorangeschritten. Noch eine Revolution also, die ohne Eigenbeteiligung stattfand.
Als die Anfang bis Mitte der sechziger Jahre geborenen Lyriker ihre ersten Bücher veröffentlichten, zeigte sich die Lage abermals verändert. Das lyrische Pfingstwunder hatte die fortschreitende Marginalisierung der Gattung nicht aufhalten können, was einen stärkeren Zusammenhalt der Lyriker untereinander zur Folge hatte, auch über Lagergrenzen hinweg. So blieben die Frontverläufe zwar deutlich erkennbar, es wurde aber möglich, die unterschiedlichen poetologischen Grundlagen zu diskutieren und zu respektieren. Heißenbüttels Thesen waren endlich auf fruchtbaren Boden gefallen, denn so wie es undenkbar sein sollte, einen experimentellen Ansatz zu verfolgen, ohne nicht über meinetwegen Peter Huchel oder Paul Celan einigermaßen Bescheid zu wissen, so war es auch für die Vertreter einer eher narrativ orientierten Lyrik eine Selbstverständlichkeit geworden, Konrad Bayer oder Oswald Wiener gelesen zu haben. Wenn das kein Fortschritt ist!
Dieser Prozess hat sich, wenn ich es richtig sehe, bei den um 1970 und später geborenen Lyrikern fortgesetzt und noch verstärkt. Mögen sich die literarischen Bezugsgrößen auch verändert haben – die neuere nordamerikanische Lyrik mit Charles Simic und John Ashbery spielt jetzt sicher eine größere Rolle als die alten Zausel der Avantgarde –, wird man doch kaum einen Jüngeren finden, der nicht auch Thomas Klings Gedichte als wichtigen Einfluss nennen würde. Dies hat zur Folge, dass heute kaum noch richtig schlechte Gedichte geschrieben werden – davor schützt die Kenntnis der Tradition – und sich darüber hinaus eine unglaubliche Vielfalt der stilistischen Ansätze entwickelt hat, die Gruppen zulässt, aber Schulen verhindert. Und so gibt es unter den jüngeren Lyrikern dann auch nur noch ganz wenige, die ihr Schreiben als experimentell bezeichnen würden. Wenn ich nun im Folgenden zu zeigen versuche, warum es mir trotzdem und weiterhin sinnvoll erscheint, an den Konzepten der Avantgarde, des experimentellen Schreibens festzuhalten, dann ganz bestimmt nicht deshalb, um glücklich zugeschüttete Gräben wieder aufzureißen – ganz im Gegenteil empfinde ich die gegenwärtige, unaufgeregte Situation als äußerst hilfreich und wäre froh und dankbar, wenn sie bis zu meinem Abschied von der Lyrik andauern könnte. Andererseits bin ich aber nach wie vor davon überzeugt, dass das, was Gedichte zu leisten vermögen, wesentlich davon abhängt, welche theoretischen oder poetologischen Maßgaben ihnen zugrunde liegen und dass, um es vorsichtig zu sagen, unterschiedliche Konzepte unterschiedlich weit tragen. Unterschiedenes ist/ gut.

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Vielleicht muss man aber erst einmal zurück zum Ursprung allen Elends, zu Hans Magnus Enzensbergers Aufsatz »Die Aporien der Avantgarde« von 1962. Dieser Aufsatz hat einen großen Makel, nämlich den, dass nicht alles so ganz von der Hand zu weisen ist, was Enzensberger darin behauptet – dazu später; der überwiegende Teil der Enzensberger’schen Argumentation ist aber hochproblematisch oder schlichtweg taktischer Quatsch, geschrieben wider besseres Wissen.
Das fängt damit an, dass Enzensberger die Avantgarde wesentlich als soziologisch relevantes Phänomen begreift, das im Wettstreit der ästhetischen Ideologien einen für seinen Geschmack zu hohen Marktanteil errungen hat. Nun müssen Polemiken nicht empirisch belegbar sein, um zu funktionieren – aber die Behauptung, dass avantgardistische Kunst, Literatur zumal, auf dem Markt überrepräsentiert sei, war 1962 genauso absurd wie sie es 2007 wäre. Trotzdem ist diese Fehleinschätzung langlebig und nach wie vor weit verbreitet, allerdings kaum unter Menschen mit der Auffassungsgabe H.M. Enzensbergers.
Genau hier liegt das zweite Problem dieses Aufsatzes: Wer so argumentiert, wie es Enzensberger tut, muss nicht nur mit Beifall von der falschen Seite rechnen – er zielt darauf ab. Geschenkt die obligatorische Herleitung des Avantgarde-Begriffs aus der militärischen Terminologie, geschenkt das Ausspielen der Avantgarde-Metapher Lenins gegen die des Futurismus’, geschenkt (auch wenn es schwer fällt) die Gleichsetzung von »Neuem Deutschland« und »Völkischem Beobachter« – nicht geschenkt allerdings, niemals, die Kritik an Lukács’ sicherlich bizarrem Realismuskonzept als sprachlich »verlumpt und verrottet«! Wer es nicht glauben mag, lese es für € 9,90 nach: »Die Aporien der Avantgarde« sind wieder greifbar, nämlich in: Hans Magnus Enzensberger: Einzelheiten I & II. SPIEGEL-Edition, Band 24, 2007.
Und dieser Aufsatz hat noch mehr zu bieten: Von der überraschenden Inthronisation Jack Kerouacs zum »Oberhaupt der Beatnik-Sekte«, von Enzensberger als die nordamerikanische Avantgarde-Division verstanden – sehr ulkig! – bis hin zum schmissig-schmähenden Evergreen: »Ein Laboratoriumskittel verhüllt die von visionären Krämpfen durchzuckte Brust; und was die Avantgarde hervorbringt, seien es Gedichte, Romane, Bilder, Filme, Bauten oder Musikstücke, ist und bleibt experimentell.« Yo! Man muss es wirklich selbst gelesen haben! Wenn ich nun oben angedeutet habe, dass nicht alles falsch ist an Enzensbergers Rundumschlag, dann betrifft das vor allem zwei Punkte: Erstens: den wenig erfreulichen Ausschließlichkeitsgestus der Avantgarde: So, und nur so! Enzensberger: »Unrecht hat bereits, wer auf objektive Notwendigkeit, Materialzwang und zwangsläufige Weiterentwicklung sich versteift. Jede derartige Doktrin verlässt sich auf die Methode der Extrapolation: sie verlängert Linien ins Unbekannte hinein.« Und zweitens: das Problem der verordneten Freiheit. Enzensberger: »Nicht anders als der Kommunismus in der Gesellschaft [!] will Avantgarde in den Künsten Freiheit doktrinär durchsetzen. Ganz wie die Partei glaubt sie, als revolutionäre Elite, und das heißt als Kollektiv, die Zukunft für sich gepachtet zu haben. [...] Sie proklamiert als ihr Ziel die totale Freiheit und überlässt sich widerstandslos dem historischen Prozess, der sie von eben dieser Freiheit erlösen soll.« Das sind nun in der Tat, und nicht nur für Hans Magnus Enzensberger, zwei Selbstwidersprüche, die in der Konsequenz dazu führten, dass heute auch viele ältere Autoren, deren Arbeit ohne jeden Zweifel der Avantgarde-Tradition zuzuordnen ist, größte Bedenken haben, diesen Begriff für ihr Schreiben in Anspruch zu nehmen.

Auflösbar scheinen mir diese Widersprüche (die eigentlich nur einer sind) allein dadurch, die Forderung nach und das Versprechen von Freiheit endlich ernst zu nehmen – sie muss ja deshalb nicht gleich »total« sein! Das unangenehm Autoritäre, das vielen Manifesten der fünfziger und sechziger Jahre anhaftete und in der reinen Lehre des Experimentellen bis heute fortdauert, ist mir psychologisch, als Notwehrreaktion einer an die Wand gedrückten Minderheit, durchaus verständlich: gegen das vorherrschende Raunen und Bedeutungsgehubere der 50er, gegen das »anything goes« heute – sympathischer wird es mir dadurch nicht. Und wenn eine Öffnung sowohl der Begriffe als auch der Methoden zu einer Verwässerung führen sollte – bitte schön!
Renate Kühn schreibt in der Einleitung zu ihrem nicht genug zu lobenden Interpretationsband »Der poetische Imperativ« (Aisthesis, 1997, 3. Aufl . 2002): »Daß eine solche offene Definition angemessen ist, wurde durch die weitere Entwicklung bestätigt. Seit den 70er Jahren hat die Verschiebung des Experimentierfeldes zugunsten der ›Inhalte‹ zu einer zunehmenden Differenzierung geführt, die mit den historisch bedingten Tabus der ersten Phase bricht und dadurch einen Grad an textueller Komplexität erreicht, die in spürbarem Gegensatz zu den Reduktionen der ersten Phase steht.« Und: »Als Fazit bleibt damit nur, dass sich neuerliche Definitionsversuche ›der‹ experimentellen Literatur zum gegenwärtigen Zeitpunkt verbieten.«

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Zwei Definitionsversuche: Wenn im Folgenden von »experimenteller Lyrik« die Rede ist, dann sind damit Texte gemeint, deren Aussage (falls vorhanden) nicht schon vor Beginn des Schreibprozesses feststeht, die also nicht ein vorgegebenes Bedeutungsziel ansteuern oder dieses womöglich entsprechend illustrieren. Freiheit ist immer auch Absichtsfreiheit. So wäre selbst ein Gedicht, das uns vermitteln möchte, dass man nur auf experimentellem Wege: regel- oder klanggeleitet, permutativ, kombinatorisch usw. zu einem haltbaren Ergebnis kommen kann, in diesem strengeren Sinne eben kein experimenteller Text. »Experimentell« soll eine Haltung (Priessnitz) beschreiben, nicht ein Bündel von Verfahren oder einen prall gefüllten Werkzeugkoffer. »Avantgarde« soll heißen: Die Gruppe von Leuten, die solche Texte schreibt. Das war es schon. Ende der Anmaßung.

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Beginn des haarigen Teils, des Versuchs der Rettung einiger avantgardistischer Grundeinsichten und der Nobilitierung des experimentellen Schreibens. Und um gleich mit dem allerhaarigsten Punkt zu beginnen: Absichtsfreiheit, fehlende Aussagen- oder Bedeutungsziele implizieren nicht die Abwesenheit von Sinn – ganz im Gegenteil! Nur ist Sinn nichts, was sich planvoll erstellen und vermitteln ließe, etwa in der Art eines »lyrischen Sprechens über« oder in der Addition der semantischen Bausteine durch den Leser – er muss sich vielmehr, etwas vage gesprochen: selbst erzeugen.
Noch einmal Renate Kühn: »Diesbezüglich besonders aufschlussreich ist ein Blick auf die französische ›Szene‹ der 60er Jahre. Der damaligen, vor allem durch die Gruppe Tel Quel repräsentierte ›Avantgarde‹ wurde seitens der konservativen Kritik immer wieder vorgeworfen, sowohl den ›Autor‹ als auch den ›Sinn‹ abschaffen zu wollen. De facto wurde die Kategorie des Sinns jedoch keineswegs grundsätzlich in Frage gestellt. In Frage gestellt wurde vielmehr nur die überkommene, an mimetischen Vorstellungen orientierte Auffassung eines dem Text vorausgehenden ›Sinns‹, der damit zugleich als ein von ihm ablösbarer begriffen wird. [...] Dies markiert nicht nur den Übergang vom ›Sinn‹ zur Sinnkonstitution, sondern steht in direkter Beziehung zur Konzeption des Autors, der seinen ehemals privilegierten Status als autonomer Schöpfergott verliert und nunmehr zum Subjekt wird ...«

Besser kann man es, glaube ich, nicht sagen. Diesem verbreiteten Missverständnis gegenüber der Kategorie des Sinns entspricht nun ganz direkt ein Missverständnis gegenüber dem Begriff des Verstehens: So wie es möglich sei, eine Bedienungsanleitung oder ein Kochrezept zu verstehen, müsse es auch, bei entsprechendem Vorwissen, möglich sein, ein Gedicht zu verstehen. Hier liegen gleich mehrere Hunde begraben. Ich bin mir nämlich überhaupt nicht so sicher, ob es tatsächlich möglich ist, auch nur einen Gebrauchstext im intendierten Sinne zu verstehen – dies hier zu diskutieren, mit all seinen semantischen und referentiellen Implikationen oder – na ja: Aporien, würde mit Sicherheit zu weit führen – ein kleines Fragezeichen soll genügen.
Ein Gedicht jedoch zu verstehen, ganz egal ob von Goethe oder Oskar Pastior, im Sinne eines Verständnisses einer oder mehrerer destillierbarer Aussagen, scheint mir nicht nur unmöglich, sondern vor allem wenig erstrebenswert. Um auch hier die erkenntniskritische Ebene auszusparen, nur eine vorläufige Arbeitshypothese: Gedichte liest man nicht, um sie zu verstehen, sondern um das Verstehen ein bisschen besser zu verstehen. Was dann allerdings, in einer geradezu Frege’schen Volte, dazu führen würde, dass alle Gedichte, experimentell oder nicht, denselben Sinn hätten, nämlich den, uns die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten unserer Erkenntnis vor Augen zu führen. Das ist viel und wenig zugleich, vor allem aber ist es gefährlich für den Fortgang meiner Argumentation, denn wenn es stimmt, dass ein »konventionelles« Gedicht denselben Sinn hat wie ein experimentelles, dann müssten doch die Wege, die zu diesem Sinn führen, gleichwertig oder zumindest vergleichbar sein.
Das ist ein ganz gewichtiger Einwand, und ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn vollständig entkräften kann. Wenn wir also weiterhin davon ausgehen, dass alle Gedichte denselben Sinn haben, so scheint es mir doch zumindest zwei wesentliche Unterschiede zu geben. Zum einen weiß das konventionelle Gedicht nicht, dass sein semantisches Strampeln für die Katz ist – es will ja gerade auf ein spezifisches, singuläres Sinnziel hinaus! Dieses formuliert sich im plattesten Fall in einer Schlusspointe, in elaborierteren Versionen scheint es auf als als eine Art Epiphanie oder Evidenz, die nur so, in der Form dieses einen Gedichtes, gezeigt und nachvollzogen werden kann. Und immer handelt es sich dabei um den Transfer einer Erscheinung aus der Außenwelt, eines »gegenständlichen Bildes«, in die Sprache des Gedichts.
Dagegen ist zunächst gar nichts zu sagen, und es gibt genügend Fälle, in denen das auch gelingt. Nur ist es, wie ich fürchte, zu kurz gedacht. Gedichte, die uns solche Evidenzerfahrungen vermitteln wollen (oder tatsächlich vermitteln – das will ich, wie gesagt, gar nicht in Abrede stellen!), sind auf eine seltsame Art sprachlos. Indem sie nämlich auf die Unmittelbarkeit ihres zentralen Bildes, eben der Epiphanie, vertrauen, und sei sie sprachlich noch so kunstvoll geformt, haben sie die Lyrik längst in Richtung Bildende Kunst verlassen. Man könnte sogar sagen, sie sind auf die oben angedeutete, ungute Weise experimentell, weil sie die Sprache wirklich nur als einen Werkzeugkoffer benutzen, um das »Eigentliche«, das nicht im Bereich der Sprache angesiedelt ist, sprachlich zum Ausdruck zu bringen.

Die Evidenzen, um die es der experimentellen Lyrik geht, sind aber immer binnensprachliche Evidenzen, ein Nachdenken der Sprache über sich selbst, und das, was im Gedicht an Welt zum Vorschein kommt, bleibt immer als sprachlich konstruiert erkennbar. Denn wie wäre Welt, auch außerhalb des Gedichts, anders denkbar als sprachlich konstruiert und konstituiert; und das, was allenthalben als ein Manko der experimentellen, auf sich und die Sprache bezugnehmenden Lyrik betrachtet wird, wäre in Wahrheit ihr großer Vorzug: die Dinge so zu nehmen und zu behandeln, wie sie gegeben sind: sprachlich. Dies ist der eine wesentliche Unterschied zwischen experimentellen (also eigentlich realistischen) und konventionellen Gedichten. Der zweite folgt daraus und besteht darin, dass experimentelle, »ausprobierende« Texte in besonderer Weise dazu geeignet scheinen, mit dem Sinnbefund »Verständnis- und Erkenntnisanalyse« produktiv umzugehen.
Wenn es richtig ist, dass wir mit »Verstehen« und »Erkennen« keine vor- oder nebensprachlichen Phänomene meinen, sondern genuin sprachliche, und zwar sowohl was den Prozess des Verstehens und Erkennens selbst betrifft, als auch bezüglich ihrer Inhalte (was immer das sein mag – womöglich wieder nur das Verstehen und Erkennen), dann scheint es mir auf der Hand zu liegen, dass in Gedichten, denen diese Einsicht zugrunde liegt, kaum noch zu unterscheiden ist zwischen Gedichtverlauf und Erkenntnisprozess – sie demonstrieren beides gleichermaßen.
Der Sinn des Gedichts: das Verstehen zu verstehen, wäre dann nicht nur Resultat, sondern zeigte sich bereits in Machart und Form – wohlgemerkt zwangsläufig und nicht etwa, weil der Autor es im Schilde führte. Im Idealfall – und jetzt wird es noch verschwurbelter: verstünde sich so das experimentelle Gedicht selbst, und auch wenn ich nicht genau weiß, was das bedeutet, scheint es mir doch die Sache ganz gut zu beschreiben.Hinter dem sich selbst verstehenden Gedicht lauert natürlich auch das sich selbst schreibende Gedicht, und wir sind bei der Instanz des Autors gelandet. Bei Renate Kühn klang das Problem schon an, als Verlust des »privilegierten Status als autonomer Schöpfergott«.
Nun ist die Erfahrung des »Es schreibt« für jeden Lyriker eine so existentielle Gegebenheit, dass ich hier keine großen Differenzen sehe. Selbst die Installierung eines »Lyrischen Ichs« kann und soll diese Tatsache nicht überdecken. Abgesehen davon, dass »Ich« und Autor natürlich verschiedene Entitäten sind, scheint das »Ich« eine Autorschaft allerdings nahe zu legen, andererseits fiktionalisiert es sie so stark, dass man mit dem gleichen Recht sagen könnte, das »Ich« im Gedicht problematisiere die Autorschaft oder hebe sie auf. Überhaupt ist das »Ich«-Verbot, wie die meisten anderen Verbote auch, natürlich dem doktrinären Gestus geschuldet und wird hiermit (liberal und doktrinär zugleich) in aller Form aufgehoben. Und von Ferne grüßen die Konzepte der radikalen Selbstentblößung, die ja auch einmal ein wichtiger avantgardistischer Topos war ...

Ein Wort zu den Methoden. Mir kommt es, wie oben angedeutet, mittlerweile schwierig bis müßig vor, experimentelle Lyrik über ihre Methoden definieren zu wollen. Zum einen ist beispielsweise die Permutation weder Errungenschaft, noch exklusives Eigentum der experimentellen Literatur, sondern kam und kommt sehr wohl auch in der nicht-experimentellen Literatur zum Einsatz, auf der anderen Seite wüsste ich nicht, was die Permutation, abgesehen von ihrer etwas weniger starken Konventionalisierung, von durchgehaltenen Metren, strengen Reimschemata oder bestimmten strophischen Setzungen unterscheidet. Der Sinn eines Schreibens nach festen Regeln lag allerdings von Anfang an darin, die als der Sprache aufoktroyiert empfundene Bedeutungs- und Referenzlast an die Regel zu delegieren.
Was dann im Gedicht zur Sprache kommt, tut es so nicht deshalb, weil der Autor tatsächlich darüber sprechen wollte, sondern weil es die Spielregel nahe legt oder fordert, genau diesen Satz, dieses Wort zu bilden. Am deutlichsten wird diese Verschiebung bei den besonders strengen Spielformen wie Anagramm und Palindrom. Das »Es schreibt« wird also doppelt demonstriert, indem nicht nur die Sprache, sondern daneben auch noch die Regel mit am Schreibtisch sitzt. Und darüber hinaus wird das »Es schreibt« sozusagen dingfest gemacht – allein dadurch, dass der Autor die Regel, nach der er verfährt, normalerweise benennt.
Hier liegt dann doch ein kleiner Unterschied zu beispielsweise einem festen Metrum. Die Gleichzeitigkeit eines Sprechens und eines Sprechens über das Sprechen, die eingezogene Meta-Ebene also, ist sicher eine der wenigen methodischen Konstanten der experimentellen Literatur. Nur darf man dabei nicht in den Fehler verfallen, den meta-sprachlichen Anteil eines Gedichtes für das eigentliche Sprechen zu halten, ein Sprechen höherer Ordnung, für das die referentielle und semantische Problematik aufgehoben wäre. Dieser Fehler wurde oft gemacht, auch von mir selbst, und ist tatsächlich verhängnisvoll. Logischerweise ist das Meta-Sprechen mit denselben Schwierigkeiten und Unmöglichkeiten konfrontiert wie das »reguläre« Gedicht-Sprechen (und wie ich glaube: auch das Alltags-Sprechen) – wäre es anders, hätte das zur Folge, dass das gesamte experimentelle Konzept in sich zusammenfiele oder sich doch zumindest als überflüssig herausstellte.
Die Vorstellung, man müsse nur die sprachliche Ebene hoch genug legen (oder tief genug – siehe die Diskussion um den klanglichen Subtext in Gertrude Steins »Tender Buttons«, den es dann als »eigentlichen« Text zu etablieren gelte) und wäre damit in ein Sprachparadies zurückgekehrt, in dem Wörter und Dinge vielleicht nicht identisch sind, aber Referieren und Bedeuten ihre Unschuld wiedererlangt haben, diese Vorstellung ist so verlockend wie schwachsinnig. Was bleibt, sind die Randphänomene des experimentellen Fächers: Kleinschreibung und phonetische Schreibung, Titellosigkeit, Blocksatz, syntaktische Eigenwilligkeiten, überhaupt das weite Feld der Abweichungen. Abweichendes ist / gut. Muss aber auch nicht unbedingt sein.

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Nicht die Methode also, sondern die Haltung. Experimentelle Lyrik als die Form »realisierter Freiheit« (Ernst Jandl), die aus sich selbst heraus jeden methodischen Zwang zurückweisen muss – und letztlich wohl auch einen Aufsatz wie diesen. Es ist ein unauflösbares Dilemma, absolute Freiheit im Schreiben einzufordern und gleichzeitig bestimmte, unliebsame Weisen ihrer Verwirklichung zu monieren. Freiheit bedeutet natürlich immer auch und gerade die Freiheit, anders zu schreiben. Nur scheint mir Freiheit nicht nur etwas zu sein, was einem zugestanden wird, sondern in gleichem Maße etwas, das man sich herausnehmen muss.
Obwohl Freiheit zu nichts verpfl ichtet, bleibt ihr Begriff leer ohne die drei großen R’s: Risikobereitschaft, Rücksichtslosigkeit und Radikalität. Oder – eine Nummer kleiner: Man sollte schon versuchen, im Gedicht die Grenzen des konventionalisierten Sprachgebrauchs zu überschreiten, will man an einen Ort gelangen, der nicht schon stark touristisch geprägt ist. Und wenn Harald Hartung 1975 in seinem Band »Experimentelle Literatur und konkrete Poesie« konstatiert, die experimentelle Literatur sei etabliert, ihre Methoden seien vielfach erprobt und inzwischen sei es »eigentlich der Mangel an Irritation und Überraschung, der uns hindert, diese Literatur als experimentell im provozierenden Sinne des Wortes zu begreifen«, dann muss man, auch ohne Hartungs Einschätzung im mindesten zu teilen, doch immerhin zugestehen, dass diese Gefahr durchaus bestand und weiterhin besteht – eben weil auch die experimentelle Literatur nicht frei davon ist, Geläufigkeiten und Konventionen auszubilden und über die Jahre mitzuschleppen.
Auf der anderen Seite scheint Hartung damit implizit sagen zu wollen, dass der Mangel an Irritation und Überraschung für die konventionelle Literatur schon immer konstitutiv war. Sei’s drum. Aber selbst wenn es der experimentellen Literatur, der probierenden Lyrik auch in Zukunft gelingen sollte, durch geschickte Haken dem Igel der Konvention immer wieder aufs Neue ein Schnippchen zu schlagen (was nichts anderes heißt als: ihr Glücksversprechen einzulösen), dann bleibt doch ein Problem. Es stellt sich heute so wie vor hundert Jahren und hat mit dem Grundanspruch der Avantgarde zu tun, Kunst und Lebenswirklichkeit zur Deckung zu bringen. Das schien mir nun lange Zeit besonders einfach zu sein: dadurch, dass ich die Realität als sprachlich geformt und genormt erkenne und dasselbe wohl auch für die Lyrik annehmen darf, habe ich doch nichts anderes zu tun, als diese Kongruenz im Gedicht vorzuführen bzw. würde das (siehe oben) das Gedicht von ganz alleine leisten, falls es sich eben dieser Erkenntnis verdankt. Was mir nicht klar war – und auch heute noch nicht richtig klar ist: welche Konsequenzen diese Einsicht im Umkehrschluss für mein Leben hat – das logisch naheliegende »Keine!« scheint mir mittlerweile zu wenig zu sein – und was das dann wiederum für die Gedichte bedeutet. Mal schauen.

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»zur ausführung sei bemerkt, dass unsere untersuchung keinen anspruch auf vollständigkeit erhebt. die mängel unserer arbeit, die unter zeitdruck entstand, sind uns wohl bewusst. wir hätten sie gern noch einmal durchgearbeitet, die beobachtungen vermehrt, den diskurs gestrafft, die terminologie vereinheitlicht. wir hoffen jedoch, dass es bei äußeren mängeln, schönheitsfehlern geblieben ist und dass sie der argumentation keinen abbruch tun. wir legen die arbeit mit dem versprechen vor, einmal mit einer gründlicheren version aufzuwarten.« (reinhard priessnitz, mechthild rausch: tribut an die tradition. aspekte einer postexperimentellen literatur. In: Wie die Grazer auszogen, die Literatur zu erobern, edition text + kritik 1975; 1979)


Ulf Stolterfoht