Universalienstreit, Fortsetzung

Vor nicht langer Zeit führte lyrikkritik eine kleine Umfrage durch:

Verehrte Dichter, Verleger, Kritiker, Übersetzer und Werkschaffende
ich führe eine kleine Umfrage durch in eigenem Interesse, möchte eventuell aber auch eure Antworten auf lyrikkritk stellen (falls ihr einverstanden seid).
Ich beschäftige mich zur Zeit unter anderem mit dem sogenannten Universalienstreit, der besonders im Mittelalter eine wichtige Rolle spielte.
Der Einfachheit halber zitiere ich aus dem Netz, worum es, extrem kurz gesagt, geht:
Realisten: Diejenigen, die an Platon orientiert, in den Allgemeinbegriffen die wahre Wirklichkeit oder das Primäre sahen, wurden "Realisten" genannt. (Universalia ante res)
Nominalisten: Diejenigen, die in den Einzeldingen die wahre Wirklichkeit sahen und die Allgemeinbegriffe für bloße Namen hielten, die im Menschenkopf gebildet werden, wurden "Nominalisten" genannt. Nach lat. nomen. (Universalia post res) Die Nominalisten orientierten sich an Aristoteles, gingen aber weiter als der.
Nach heutigem Sprachgebrauch würde man die Realisten <pfeili.gif> "Idealisten" und die Nomina-listen <pfeili.gif> "Realisten" (oder <pfeili.gif> "Materialisten") nennen.Diese Definition ist natürlich sehr verkürzend. Einen genaueren, aber auch nicht ganz einwandfreien Artikel findet ihr unter "Universalienstreit" auf Wikipedia.
Mir geht es aber auch eher darum, welchen Wert ihr dem Wort beimesst. Hat es "abbildenden" Character, ist es nur Benennung von wortunabhängigen Gegebenheiten oder bezeichnet es "reale" Wesenheiten.Ich finde diesen Streit interessant, weil er sich, immer neu gewendet, durch die ganze Geschichte zieht.
Es scheint so, daß die Nominalisten die "moderne" Position vertreten würden (das schien aber schon dem Mittelalter so) – doch erst jüngst erlebte der sogenannte "Realismus" in der Mathematik eine Rennaissance.
Ich möchte der Frage nachgehen, ob sich der eher unproduktive Widerstreit zwischen "Sprachexperiment" und "Erzählhaltung" nicht durch an dem Universalienstreit geschulte konträre Begriffe besser ersetzen liesse.LANGE REDE KURZER SINN:
Ihr müßt in keine philosophischen Details gehen (könnt ihr aber). Mich interessiert nur, welche "Schule" liegt euch/ läge euch wohl näher, wie würdet ihr am ehesten das Wort auffassen?
Lange und kurze Antworten, läppische und ironische, böse oder zweifelnde etc. sind herzlich willkommen.
Alles, was der Fall, die Realie oder die Imagination eingibt...ich danke Euch für die Aufmerksamkeit,
viele Grüße
Hendrik Jackson


Hier nun die Antworten:

Alexander Nitzberg
freue mich über die Frage, die zu stellen mir wichtig erscheint. Natürlich bin ich ein ausgesprochener Realist: Halte das Wort, ganz in der Tradition des Akmeismus, für eine wesentlich höhere Realität als die der "faktischen" Dinge und die Dinge selbst für so etwas wie "Gerinnungen" des Wortes. In einem ähnlichen Verhältnis steht das Wort wiederum zur geistigen Idee, ist seinerseits auf analoge Weise eine "Gerinnung" der Idee, die ihrem Wesen nach nonverbal ist. Doch ließe sich diese "stumme" Idee sinnbildlich durchaus als "Das Wort" bezeichnen, im Sinne von "Logos". Im Gedicht verwandelt sich die Idee stufenweise in gesprochene Worte und zuletzt in einen aus Sprache gemachten Gegenstand und wird somit "stofflich", "Fleisch". Wenn das Deine Frage beantwortet?

Elke Erb
Soso. Aha. kleine universität lostreten?

Gerhard Falkner
konnte leider deine gifs nicht öffen
obwohl mich ganz ähnliche fragen umtreiben
nikolaus von kuesmeister eckhart
eigentlich die ganze scholastik

Ann Cotten
ob gerade die begriffe aus dem universalienstreit geeignet wären, heute klärend eingesetzt zu werden, scheint mir zweifelhaft. du hast doch eben gerade eine halbe mail dazu gebraucht, die begriffsverschiebung zu erklären! und wenn das einmal geklärt ist, muss man immer noch darauf hinweisen, auf welche version man sich bezieht, wenn man redet. wäre es nicht besser, neue begriffe zu erfinden, witzige, plastische? würde mir aber nicht selbst anmaßen, es zu tun. ich bin mit "sprachdeterminismus" bzw. "-relativismus" vertraut, aber so richtig knackig ist das natürlich nicht.
ansonsten zoom ich mal so rein wie am anfang von einem film aus dem weltall in ein kleines einfamilienhaus in einer us-amerikanischen kleinstadt reingefahren wird. global gesehen bin ich skeptische eklektikerin und pluralistin und realistin oder materialistin. ohne mich mit dem ganzen gewicht auf die überzeugung, es gäbe wirklichkeit, stützen zu wollen, brauche ich das, was mir als umgebung, außenwelt vorkommt und sich unabhängig von meinem bewusstsein abzuspielen scheint, als korrektiv für dieses, ähnlich wie die hypothese, es gäbe andere bewusstseine als die meine. realistin aber auch insofern, als ich nicht nur meistens davon ausgehe - schon aus praktischen gründen - dass es eine realität gibt, von der ich nur ein winziger bestandteil bin und die ich mehr oder weniger auf irgendeine weise (relativ beschränktes fensterlein) wahrnehmen kann, sondern es auch für wichtig halte, sich mit dieser umgebung und den anderen körpern und bewusstseinen zu beschäftigen, währen eine theoretische, idealistische, gar rein introspektive beschäftigung mit den bedingungen von erkenntnis ebenfalls wichtig ist, und diese beiden sachen gegenseitig sehr produktiv in interaktion zu bringen sind oder wären. und natürlich bin ich auch noch mystikerin, in bezug auf den witz nämlich, das, was in einer pointe passiert, scheint mir vergleichbar mit der flamme des heiligen geists oder dem inneren eines tempels: es passiert irgendwas und es passiert vielen und man kann umschreibend drüber reden, aber man weiß nicht genau, was es ist und wie es funktioniert, obwohl man es doch auf eine gewisse weise ganz genau weiß und auch ständig damit hantiert.
so. das wort ist ein physisches (in verschiedenen aggregatszuständen) und geistiges (bedeutung) ding, letzteres eher in bündelform oder lämpchenform: man kann schwer sagen, wo es aufhört und sein dunstkreis beginnt und wo der wieder sich in die fantasierereien eines individuums verläuft. es bezieht sich auf ein interface, das wir alle aus unterschiedlichen augen kennen, und gliedert es so, dass wir uns über dieses interface unterhalten können, sowie auch über dinge, die wir nicht sehen können, und auch dinge, die wir in uns selbst vermuten. wie eine hand ist es (greif)werkzeug, aber auch objekt, ästhetisch, im weg, bestandteil, fehlendes etc.
kannst du damit was anfangen? ist was neues dabei? was schrieben die anderen? (wahrscheinlich sind alle so neugierig, sodass du unbedingt die resultate irgendwie zumindest zu einem newsletter verarbeiten musst?)

Ulf Stolterfoht
mir scheint das auch der springende punkt zu sein, oder zumindest
kommt er hier auf eine mögliche art zum vorschein.

Ulrike Draesner
ah, der gute alte universalienstreit!
mir als "promovierter mediävistin" (endlich kann ich diese schöne wortkombination mal wieder benutzen) nicht ganz unvertraut.

und das ganze: basiert auf einem grund-logischen (logischen und gründlichen) denkfehler, ähnlich wie zenos paradoxon. der fehler: zu glauben, dass gegenstände naturgegeben sind. dass sie, ganz ohne sprache, erscheinen. ich halte es da mit wittgenstiens erstem paragraphem aus den philosophischen untersuchungen:

"Augustinus, in den Confessiones I/8: (folgt das lateinische zitat, das abzutippen ich hier zu faul bin)
(dann die deutsche übersetzung)

und dann Wittgentein:
In diesen Worten erhalten wir, so scheint es mir, ein bestimmtes Bild von dem Wesen der menschlichen Sprache. Nämlich dieses: Die Wörter der Sprache benennen Gegenstände - Sätze sind Verbindungen von solchen Benennungen. - In diesem Bild von der Sprache finden wir die Wurzeln der Idee: Jedes Wort hat eine Bedeutung: Diese Bedeutung ist dem Wort zugeordnet. Sie ist der Gegenstand, für welchen das Wort steht.
Von einem Unterschied der Wortarten spricht Augustinus nicht. Wer das Lernen der Sprache so beschreibt, denkt, so möchte ich glauben, zunächst an Hauptwörter wie "Tisch", "Stuhl", "Brot", und die Namen von Personen, erst in zweiter Linie an die Namen gewisser Tätigkeiten und Eigenschaften, und an die übrigen Wortarten als etwas, das sich finden wird.

(der paragraph geht noch weiter, mit einem einkaufsbeispiel - und lenkt über zum gebrauch der sprache. ....)


anders gesagt: wörter sind nicht wie etiketten auf gegenstände geklebt.

anders: halten wir doch die intensität der komplikation des verhältnisses sprache/"ding" aufrecht

anders: lacan hat sich dem nicht-kleben der wörter auf den dingen von seiner seite her genähert

anders: gertrude stein: "wenn es wirklich schwierig wird, will man den Knoten eher entwirren als zerschneiden, so fühlt wenigtens jeder der mit irgendeinem Faden arbeitet, so fühlt jedr der mit irgendeinem Werkzeug arbeitet so fühlt jeder der irgendeinen Satz schreibt oder liest nachdem er geschrieben worden ist"

anders: Augustinus & Co betrachten das Wort als einen Zustand. Ich sehe es als Anwendungsprozess. Den ich, mit Stein, gern als "gern haben" bezeichnen möchte.


Auf die Nachfrage hin, ob sie damit eine "Zwischenposition" einnehme, antwortete Draesner:

nein, keine zwischenposition. ich denke, die universalienfrage selbst kollabiert, wenn man den logischen fehler erst mal sieht.
dass wörter nich tetiketten sind, bedeutet nich, dass sie "auch" dinge erschaffne, sondern das ssie es ÜBERHAUPT tun - ohne sprache kein konzept "ding". dabei haben sie nichts "wesenhaftes", denn das selbt ist ebenfalls ein sprachkonzept!!!
bingo...
wittgenstein: es gibt kein "hinter" der sprache, denn dieses hinter ist selbst ein von der sprache entworfener raum.
kant: machte das ganze epistemologisch klar. schon da starb der universalienstreit.

Volker Sielaff
folgend meine notizbuch-antwort, versbrocken,
du hast ausdrücklich jede form einer antwort
erbeten, auch die so hingeschriebene?, an sich
zweifelnde?
gibt es Gott, die Zahlen, die Psychoanalyse?
Jedenfalls sprechen wir darüber...
materialistisch erzogen, müßte ich, nach heutigem
Sprachgebrauch, eine realistische Weltsicht haben,
"objektive Wahrheit" war zu Schulzeiten ein
Kampfbegriff, Ideologie.
bei Les Murray gibt es das große Gedicht,
und die Gedichte, die wir schreiben
natürlich fasse ich gern die Rinde eines Baumes
an, aber der Baum hinter dem Baum ist ebenso
da, der große Baum
die Entscheidung trifft das Gedicht
der Bleistift trifft sie, die Hand die schreibt

Steffen Popp
also, erstmal:
wie du schon bemerktest, gibt es die - in späteren Terminologie - Idealisten und die Realisten - wobei die Materialisten, und inbes. der avancierte Materialismus á la Evolutionäre Erkenntnistheorie (Vollmer), Psychogenetische EKT (Piaget) u.a. in diese Dichotomen Kategorien nicht mehr hineinpassen.
historisch anzumerken: neben dem erwähnten Gegensatz gibt es den weitergehenden, in gewisser Hinsicht analogen Gegensatz von Rationalisten (Leibnitz u.a.) und Empiristen (Hume u.a.).
die verbindungen zw. Idealismus und Realismus, Realismus und Empirismus, und vor allem die verbindungen von rationalismus und empirismus auf einen elaborierten materialismus hin kannst man bei wiki nachlesen. heute ist eigentlich nur folgende Gegenüberstellung sinnvoll: (Radikaler) Konstruktivismus vs. Evolutionäre/Psychogenetische Erkenntnistheorie - wenn überhaupt.
Beide Seiten integrieren jeweils die andere ganz gut in ihre Konzepte, wobei dies den -wenn du willst, materialistischen- Ansätzen der Erkenntnistheorie m.E. etwas besser gelingt.
Also: machen wir die Welt, oder macht sie uns? allen ist klar: in gewissem Maße machen wir sie, in gewisser Hinsicht macht sie uns. Ein geben und nehmen, genauer gesagt aber ein Sprechen auf verschiedenen Ebenen: materialistisch bezieht sich auf unvermittelte Leistungen einer vom Menschen unabhängigen Natur (der Teil und Produkt er ist), konstruktivistisch auf kulturell vermittelte Leistungen des Menschen (der Natur zum Objekt macht und sich in diesem Prozess der Objektivierung erst als Subjekt konstituiert). Zugespitzt könnt man sagen, die Leistungen der Natur, insofern sie unabhängig von uns bestehen, lassen sich allenfalls im Nachhinein wahrnehmen/messen/etc., und da diese Zugangsweisen selbst wiederum menschengemachte Produkte sind, gilt grundsätzlich, dass wir uns nur mit Leistungen der zivilisatorischen Sphäre überhaupt auseinandersetzen können. Auseinandersetzung ist Bezugnahme ist Differenz, Sprache, und wir kommen da nie raus, welche Technik/Methode wir immer anwenden. Insofern wäre Materialismus lediglich eine Unterkategorie des Konstruktivismus - die sich mit Phänomenen befasst, die wir nur insofern hervorbringen als wir sie messen - die aber unabhängig von diesem Zugang in einem, sagen wir, ontologischen Sinn, existieren. Na ja. Die Materialisten sagen im Grunde dasselbe, nur mit verschobenem Akzent - all unsere Leistungen beruhen letztlich auf Prozessen, an denen wir als Subjekte nicht beteiligt sind, da sie vor/unterhalb der Subjektivierung ablaufen (Quanten, Atome, Molküle, Biosysteme incl. den phänomenologisch nachweisbaren "Sphären"). Diese Prozesse sind in einem elementaren Sinn da - und wir, als ihre Produkte, ebenso. Sprache etc. kommt erst in einer extrem späten Phase dieser Prozesse auf, und wird in einer noch späteren Phase signifikant relevant - später meint hier: nachgeordnet, wobei Quanten etc. die Basis, Reflexion die Spitze einer Relevanzhierarchie markieren. Dabei wird nicht geleugnet, dass alles, was für uns von kognitiver Relevanz ist, sich auf Ebene der Sprache abspielt, bzw. den spezifischen Relationen, die sie über die physikalischen und biologischen Relationen hinaus schafft. Ich sagte, kognitiv - aber eigentlich müsste es heißen: sprachlich. Tautologie: alles was für uns von Sprachlicher relevanz ist, spielt sich auf Ebene der Sprache ab. Also Denken im Sinne von Urteilen, Differenzieren, Kategorisieren etc. (alles schon bei Kant). Für den umfassenderen kognitiven Bereich spielen schon ganz andere Aspekte außerhalb und unabhängig von sprachlichen Leistungen eine Rolle (sensorischer Apparat, Sensibilisierung, Wachheit, Konzentration, Einstellung, motorische Ausrichtung etc.). und je weiter mein in der Hierarchie zu den Grundlagen hin absteigt, desto geringer wird der Anteil, den sprachliche Leistungen haben. Phänomenologische Integration, Selbstbezug, Zwischenmenschliche Beziehungen, weiter gefasst Gesellschaftliche Prozesse (Kybernetik, Soziologie) - alles nur sehr partiell auf Sprache beruhend - nur eben die Erforschung dieser bereiche erfolgt, wie alle Erforschung, sprachlich. Alles im Grunde simpel, tausendmal durchgekaut, eben auf der Hand liegend.
Nun. Status der Sprache: Produkt von Prozessen, die ihrerseits nichtsprachlich/vorsprachlich sind - allerdings slebstbezüglich, und slebstreproduktiv, als in gewissen Grenzen eigendynamisch, und zwar in höherem Maße als die hierarchisch tieferliegenden Prozesse. Man kann es auch so sagen: je allgemeiner, relevanter, grundlegender, desto weniger kontrastreich, selbstbezüglich, eigendynamisch - und umgekehrt. Sprache ist der bisherige Gipfel - das Prinzip Differenz, d.h. eine abgeleitete, selbstreferentielle Form des phänomenolog. Kontrasts. Dazu habe ich einiges geschrieben - kannste lesen, wenn es dich interessiert. Deine Frage ließe sich in dieser Terminologie ungefähr so fassen: Verhältnis von Differenz (sprachl. Bezugnahme) und Kontrast (messbare/irgendwie feststellbare phänomenale Abhebung (Hintergrund/Struktur-Verhältnis u.ä.)).


Die mit Abstand ausführlichste Antwort gab bisher der Berliner Philosophiedozent Dr. Ludger Schwarte. Das ist aber auch darin begründet, daß mit dieser Umfrage sein aktuelles Forschungsthema berührt wird.


Dr. Ludger Schwarte – Wie kommt der Universalismus in die Welt?

Wenn ich einen Satz äußere wie „Dieses Buch ist rot“, dann muss ich wissen, ob das Buch Teil einer Menge ist, die alles umfasst, was rot ist und ob alles, was rot ist, Teil eines Ganzen ist, das die Röte bildet, oder ob diese Röte, als Begriff, unabhängig und vor allem existiert, was rot ist. Kann es dieses Rot-Sein unabhängig von konkreten einzelnen roten Dingen geben? Aber wie könnte ich etwas als rot bezeichnen, wenn ich nicht schon über einen Begriff „das Rote“ verfügte? Ist „das Rote“ im Kopf oder existiert es, als Grundlage der Dinge, in der Welt? Was der mittelalterliche Streit über den ontologischen Status der Universalien nicht verhandelt hat, ist die Ausweitung von Anwendungskriterien überhaupt so etwas wie eine Universalie hervorbringt. Denn wenn nicht auch andere Bücher diese Farbe hätten oder wenigstens haben könnten, wäre diese Eigenschaft singulär, zufällig, ein Eigenname und kein Begriff.
Universalisierung ist der Prozess, bei dem bestimmte Akteure von einer entsprechenden Wirkstätte aus den Radius glei-cher Bedingungen über alle Begrenzungen hinweg ausdehnen, wobei zugleich – dies ist die andere Seite des „Universalen” – die Vielseitigkeit der dabei in Kontakt tretenden Dinge zur Erscheinung kommt, die Wirkungsrichtungen verkompliziert und die Gleichheit der Bedingun-gen entsprechend differenziert werden. Wenn folglich die Rahmung eine architektonische Prädisposition für das Sich-Zeigen einer Sache ist, so scheint dies einen Prozess der Lokalisierung zu implizieren.
Begriffe stellen den Anspruch, dass sie universell gültig sind und dass ihre Anwendung prinzipiell überall jedem gezeigt werden kann. Dieselbe Ubiquität, welche in der Uni-versalitätsbehauptung steckt, gilt nicht für offenbartes Wissen, dem es wesentlich ist, sich nur distinguierten Menschen (Propheten) an heiligen Orten zu zeigen. Es gilt auch nicht für Erzählungen, die in einer allgemeinverständlichen, indexikalischen Sprache von einem Ereignis berichten, das nur wenigen an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit zugestoßen ist. Eine Erzählung kann sich mit Metaphern und Analogien zur Beschreibung behelfen, sie benötigt im strengen Sinne keine Begriffe. Die Kunst des Erzählens geht daher in zwei Richtungen vor, einerseits in der trefflichen Schilderung und in der bewegenden Nacherzählung, beides Formen der Dichtung, die durchaus ihre eigenen Wahrheitskriterien kennt. Diese Wahrheit ist eher eine des Zur Erscheinung-Bringens und des Erfahrbar-Machens. Die Wahrheit des Begriffs ist entweder der Idealität des Gedankens oder der Struktur der Welt verpflichtet. Eine interessante Ausnahme bildet hier die konzeptualistische Variante des Nominalismus, bei der erst die Erfindung bzw. der Gebrauch eines Begriffes diejenige Realie hervorbringt, die der Begriff bezeichnet. Erst ab dem Zeitpunkt, wo es den Namen, und anschließend den Begriff „Violett“ oder „Pink“ gibt, wäre demzufolge etwas in der Welt, das violett oder pink ist. Diese Farben gab es, der konzeptualistischen Auffassung zufolge, im Mittelalter genauso wenig wie „Yves-Klein-Blau.“

Dennoch geht die logische Diskussion von Begriffen davon aus, dass sie sich nicht auf persönlichen Fertigkeiten reduzieren lassen und letztlich nicht von der Heimlichkeit der Korporationen geschützt oder von Privatfirmen besessen werden können. Begriffliches Wissen ist nicht personengebunden, sterblich, von Begnadung abhängig oder angeeignet: begriffliches Wissen ist kein Eigentum, es stellt sich allen zur Verfügung und drängt auf Verbreitung.
Wenn wirklich ein typisch christlicher Zug im Begriff des Universalismus liegt, so können wir Alain Badiou folgen in der Annahme, dass der heilige Paulus den Universalismus gegründet hat. Warum muss man den Universalismus überhaupt gründen? Der Universalismus ist Badiou zufolge eine paradoxe Verknüpfung zwischen einem identi-tätslosen Subjekt und einem Gesetz ohne (logische) Unterstützung in einer kommunalen Handlung. Nur wer in einer Stadt oder in einem Imperium keine Identität hat, wer ohne Terri-torium und ohne soziale Klasse ist, qualifiziert sich dazu, das Universelle zu verkünden. Dar-über hinaus demonstriert nur das Ereignis seiner Deklaration und nicht sein logischer Gehalt die Universalität eines Gesetzes.
Badiou schreibt, eine universalistische Logik könne nicht mit einem kontinuierlichen Gesetz vereinbart werden, weder mit dem Gesetz, das das Denken mit dem Kosmos verbindet, noch mit der Wirkung einer göttlichen Selektion (der Auserwähltheit oder Begnadung). Weil sie das Ganze voraussetzten, waren die jüdischen und die griechischen Diskurse, so Badiou, „Diskurse des Vaters“, die Kommunen auf der Grundlage des Gehorsams installierten (Unter-werfung unter den Kosmos oder das Imperium, unter Gott oder unter das Gesetz). Aber der Heilige Paulus instauriert eine Legitimation des Universalismus, die Badiou den „Diskurs des Sohnes“ nennt. Dieser Diskurs enthält die Gleichheit durch die Deklaration des Neuen. Gegen das aktuelle Faible für das Gedächtnis, die Erinnerung und das Andenken setzt Badiou die Wichtigkeit des Möglichen, das nur durch das reine Ereignis eröffnet wird. Sein Beispiel ist die Erfolgsgeschichte der Idee der Auferstehung: indem er nämlich die Ereignishaftigkeit der Auf-erstehung schlicht deklariert, operiert der Apostel Paulus jenseits des Vergleichs, der Faktizität und damit jenseits der Falsifizierbarkeit.
Universalistische Deklarationen sind daher, wie Paulus erkennt, skandalös (für die Ju-den) und irrsinnig (für die Griechen). Nur die Kraft des Glaubens, die Militanz, stellt die Of-fenbarung unter Beweis. Genau darin, so kommentiert Badiou, bereitet Paulus das Denken der Revolution vor, denn die Revolution benötigt nicht den Kommunismus als Begründung oder als Ziel. Indem sie beendet, was zuvor gültig war, und damit die Zukunft öffnet, ist die Revo-lution ein reiner Anfang , genauso wie die Verkündung der Auferstehung.
Die Auferstehung kann ebenso wenig wie die Richtigkeit des revolutionären Aktes hi-storisch oder phänomenologisch, durch Zeichen oder durch Weisheit demonstriert werden. Den Beweis bringt die wundersame Kraft öffentlicher Deklarationen („la déclaration publique de l'événement”). Badiou interpretiert diese öffentlichen Deklarationen zugleich als das Sagen des Unsagbaren. Militanz ist der zur Schau gestellte Glaube an das Skandalöse und Irrsinnige. Nur indem man militant wird, politischer Aktivist, so lässt sich Badious Position zusammenfassen, kann man Wirklichkeit erschaffen.
Die Kraft des Glaubens, des Für-Wahr-Halten-Könnens von etwas, das noch nie dage-wesen ist, transformiert die Wirklichkeit. Die Militanz des Unmöglichen ist ein performatives, kollektives Glauben. Wenn der Universalismus auch schon implizit gewesen sein mag in einigen Theore-men des Archimedes, in den politischen Praktiken der Griechen, in Sophokles‘ Tragödien, in Sapphos Gedichten, im Lied der Lieder und im Ekklesiastes, so war es doch Paulus, der das Bewusstsein der formalen Bedingungen und der unvermeidlichen Konsequenzen eines Wahr-heitsbewusstseins unabhängig von positiven Gesetzen auf den Punkt bringt. Paulus versteht, dass die Universalität nicht von der wissenschaftlichen, künstlerischen, politischen, amourösen Bestimmung der Wirklichkeit ist, sondern von der Verkündung des Unbezweifelbaren, von dem performativen Akt zu sagen: ‚Christus ist erstanden.’
Der Universalismus ist daher mehr als philosophisches Zweifeln, er ist der ursprüngli-che Sprach-Akt, ein Denken, das sich selbst effektuiert, indem es alle Anderen als Gleiche an-spricht. Der Universalismus muss „das Gleiche produzieren”, „den Anderen unter der Katego-rie des Selben subsumieren” und „die Differenzierungen ablegen”, um Gleichheit unter den materiellen Zeichen des Selben hervorzubringen. Indem es somit alle Partikularität der Errich-tung eines Gleichen subsumiert, lässt sich das Universelle als Transformation hin zu ei-ner Möglichkeit der Verständigung, als Renovation auf der Grundlage der Selbigkeit, als im-manente Ausnahme praktizieren, schließt Badiou.
Die Frage, die sich spätestens hier stellt, ist selbstverständlich, ob Badiou Recht damit hat, dass diese Elemente des Universalismus dem Christentum nicht intrinsisch sind, sondern auf das performative Realisieren des Unmöglichen in der revolutionären Militanz marxistischer Prägung angewendet werden können. Fraglich auch, ob sie, gewissermaßen zwischen Chri-stentum und revolutionärer Militanz, auch in den wissenschaftlichen Aspirationen auf Univer-salität entdeckt werden können. Fraglich auch, ob sich immer und zu jeder Zeit Individuen durch die Bindung an einem unmögliche Wahrheit zu Subjekten herausbilden können, indem sie das Zukünftige in Begriffe fassen und diese militant wirklich werden lassen.

Zu Anfang ist das Subjekt eingetaucht in eine besondere Lebensform, in die es hineingeboren wurde (Familie, lokale Gemeinschaft); die einzige Art, in der es sich aus der primordialen, organischen Besitzform herausziehen kann, ist die, seine fundamentale Zugehörigkeit zu verlegen und die Substanz seines Seins in einer anderen, sekundären Gemeinschaft anzuerkennen. Diese erweiterte Ge-meinschaft ist, wie Slavoj Zizek schreibt, „universell und zugleich ‚artifiziell‘; nicht mehr ‚spontan‘, sondern ‚vermittelt‘, aufrechterhalten durch die Aktivität unabhängiger freier Subjekte (Nation versus lokale Ge-meinschaft).“ Ist die Passage der Negation von Besitz und Eigentum vollzogen, nimmt die universelle Gemeinschaft freier Subjekte das Individuum in Besitz. Die primäre Identifikation beginnt als eine Erscheinungsform der universellen sekundären Identifikation zu funktionieren. Die Aktivität des Subjektes wird nun Teil der Vermittlung von Gemeinschaft.
Die Universalität der freien Assoziation der Bürger wird nur konkret in der künstlichen Vereinigung reproduziert. Diese Ereignisse markieren die Passage zwischen der „positiven Universalität als bloß impassivem/neutralem Medium der Koexistenz ihres Partikularinhalts (die ‚stumme Universalität‘ einer Spezies, die durch das definiert ist, was allen Mitgliedern der Spezies gemein ist), und der Universalität in ihrer tatsächlichen Exi-stenz, womit die Individualität gemeint ist, also die Behauptung des Subjekts als einzigartig und irreduzibel auf die besondere konkrete Totalität, in die es eingefügt ist.“ Die Idee einer freien Assoziation inseriert sich in das Werden, indem sie eine konkrete Erscheinungsform an-nimmt. Sie wird dann „das Universelle als die Macht des Negativen, die die Festigkeit jeder Partikularkonstellation unterminiert,“ das in den Subjekten als Negation alles bestimmten Inhalts wirkt. Die Universalität kann aber nur dann im Subjekt konkret werden, wenn dieses aufhört, ein Medium der Zugehörigkeit zu sein und sich selbst in Besitz zu nehmen, indem es sich selbst unter seine besondere Subspezies einreiht.
Wenn das Subjekt sich selbst in Besitz nehmen soll, anstatt entweder von der Familie oder von der Nation besessen zu werden, muss es die Festigkeit der Partikulargemeinschaft, die in den Strukturen dieser oder jener Gesellschaft besteht, aufbrechen. Die Architektur der Zuge-hörigkeit zur Universalität funktioniert daher nur im Zusammenspiel mit Ereignissen, die ihre räumliche Ordnung auf den ersten Blick zu durchkreuzen scheinen. Daher übernimmt Zizek Badious Gedanken, dass die Universalität ihre Wahrheit in Ereignissen verwirklicht, die das, was unmöglich schien, zeigen. Er verwendet dies geradezu als Kriterium der Unterscheidung zwischen „Wahrheits-Ereignissen“, nämlich Revolutionen, und Simulakren, das heißt totalitä-ren Massenspektakeln. Zizek zufolge liefert Badiou ein exaktes Kriterium für diese Unter-scheidung. Es besteht in der Art,
„wie sich ein Ereignis auf seine Bedingungen bezieht, auf die ‚Situation‘, in der es auftritt: Ein wahres Ereignis erscheint aus der ‚Leere‘ der Situation heraus; es ist an sein überzähliges Element [élément surnuméraire] angeheftet, an das symptomatische Element, das in der Situation keinen eigenen Platz hat, obgleich es ihr zugehört, wohingegen das Simulakrum eines Ereignisses das Symptom wi-derruft.“
Folglich kann ein Subjekt nur dann die konkrete Universalität verwirklichen, wenn es sich beispielsweise aus der ökonomischen Ordnung in die politische Handlungssphäre hinein-bewegt; sonst blieben seine Möglichkeiten, autonom zu handeln, Illusion. Das autonome Han-deln ist allerdings eine Erfahrungsdimension, und keine Analysekategorie für außen stehende Beobachter. Für Zizek liegt der Unterschied zwischen Wahrheitsereignissen und Simulakren im Agieren oder Verdrängen des zugrunde liegenden realen Konfliktes. Die Wahrheit wird keine neutrale, aufgeklärte, öffentliche Meinung beeindrucken, weil sie nur für diejenigen er-kennbar ist, die an die vom Ereignis hervorgebrachte Gemeinschaft glauben.
Die Wahrheit ist der unmögliche Raum, der durch das Ereignis erwirkt wird, gegenüber der Architektur einer Situation. Die Wahrheit, die sich in einem revolutionären Ereignis mani-festiert, ist keine abstrakte Wahrheit oder das Zusammentreffen mit ‚dem Realen’, sondern ab-hängig von dem, was eine konkrete Situation ausschließt, um das Reale erfahrbar zu machen, aber auch von denen, die von dieser Wahrheit überzeugt sind, obschon die architektonische Gliederung sie davon ausschließt. Dieser Raum lässt die unmögliche Wahrheit einem ‚mitwirkenden Blick’ erscheinen. Dass dies geschehen kann, hängt nun aber nicht, wie Zizek nahe legt, davon ab, dass die Subjekte sich selbst in Besitz nehmen oder dass sie eine neue Ge-meinschaft der Gläubigen gründen, sondern zunächst davon, dass die Individuen sich einer Be-sitzstruktur enteignen.
Der Unterschied zwischen Wahrheitsereignissen und Simulakren liegt daher nicht daran, dass eine Revolution eine neue Gemeinschaft etabliert, die dem Trauma des Klassen-kampfes Rechnung trägt, während das Simulakrum dieses verdrängt, oder, wie im Falle der Französischen Revolution, die Feudalgesellschaft durch die Nation abgelöst wird, sondern dass die Leere im Zentrum der Situation erfahrbar wird und das Individuum sich einer Situation, einer Gemeinschaft, einem Zusammensein, entziehen kann, ohne deshalb schon seine Identität aus einer anderen festen Gemeinschaftsform ableiten zu müssen. Dieser offene Raum bietet eine Struktur der Indifferenz an, in der Eigentumsattributionen suspendiert werden und eine Öffentlichkeit, eine entwerdende Kollektivität, in dieser Disposition aktiv werden kann. Dieser offene Raum streckst sich auf eine zukünftige Gleichheit hin, er ist daher ebenso Erzählung wie Begriff, ebenso Nachvollzug wie Fiktion, er muss ins Unverständliche, ins bloß Erahnbare hinausragen, indem er wesentlich eine Abstoßung ist. Zugleich muss er mitreißen und sich allen öffnen, die, beim Anblick dieses Buches oder jenes Ereignisses, nicht rot sehen.