Bukarest – Paris
Die gesammelten Gedichte Gellu Naums
Ein Buch mit dem Format und dem Gewicht einer kleinen Schatzkiste, die nichts
als Pohesie, so der Titel, enthält – und damit zugleich das gesamte
lyrische Schaffen Gellu Naums und das übersetzerische Hauptwerk Oskar Pastiors,
der jahrzehntelang um die Vermittlung dieses rumänischen Dichters bemüht
war, der doch nie einer sein wollte, jedenfalls nichts mit der althergebrachten
„Stinkejauche süßer Verse“ und dem tristen Reimschleim
zu tun haben mochte.
Eher schon war Naum darauf aus, seine Stinke-/socken an den Ruhmestagen
vor der Pforten der Rumänischen Akademie zu hissen, wie es in einem
frühen Text heißt. Als Pastior 1968 Rumänien verließ,
nahm er Naums soeben erschienene Sammlung Athanor mit in den Westen
und begann, den Details und den Mäandern seiner Rede Wort für
Wort zu folgen, darauf bedacht, den Bizarrerien seiner Sprünge
kein metaphorisches Gehabe überzustülpen, sich in der Geduld noch
unbekannter Konsequenzen zu üben, wie Pastior in einer Nachbemerkung
schreibt.
Athanor war der erste Gedichtband, der Naum nach langem Publikationsverbot,
nach Jahren des spärlichen Broterwerbs durch literarische Übersetzungen,
gestattet worden war, und mit ihm begann sein später, langsamer Aufstieg
zu einem Klassiker der Moderne. Dabei hatte er der rumänischen Dichtung
schon drei Jahrzehnte zuvor entscheidende Impulse gegeben, als er mit Ghérasim
Luca (dessen Gedichte vor nicht allzu langer Zeit ebenfalls im Verlag Urs Engelers
erschienen sind) und anderen den Surrealismus für die rumänische Sprache
fruchtbar machte. Ende der dreißiger Jahre waren die Freunde gemeinsam
nach Paris gereist, um mit der dort agierenden französischen Avantgarde
Kontakt aufzunehmen, vor allem natürlich mit André Breton. Der,
so die Überlieferung, sah den Hauptsitz des Surrealismus nur wenige Jahre
später von Paris nach Bukarest verrückt, mit so viel Intensität
ging die Gruppe der Heimkehrer um Luca und Naum zu Werke.
Während Luca der „eingesperrten Klanglichkeit“ der Sprache
Gerechtigkeit widerfahren lassen wollte, Morpheme und Silben aus dem gewohnten
Rahmen entband und der Syntax zu Leibe rückte, geht es in Naums Gedichten
weit mehr um eine semantische Freiheit. Gerade die frühen Texte lassen
erahnen, wie wichtig das revolutionäre Konzept der écriture automatique
für ihn gewesen sein mag:
Pünktlich wird die Straße den Passanten verspeisen
der aus den Pedalen unter seiner Stirn
Glasmurmelgeräusche fahren läßt die dann
den ganzen Tag tönen und die Pfütze umarmen als ob
das eine Trauerweide sei und die Pfütze wird sich
ärgern wegen des Klaviers und auf die schma-
le Kathedrale klettern.
Welche Provokation in dieser Verweigerung von Bedeutung, von Deutbarkeit gelegen
haben muß, ist noch immer offenkundig, auch wenn sich der revolutionäre
Impuls mittlerweile verflüchtigt hat, vielen Texten etwas fast Historisches
anhaftet. Brisanter als die ganz frühen Versuche wirken nach wie vor die
Gedichte, die Naum ab den fünfziger und sechziger Jahren schrieb und die
später in Athanor eingingen.
Hier findet man Perlen wie die Gedichte Häute, Das Zimmer,
Meine große Schwester, nicht zuletzt die Hennenerscheinung
und viele mehr. Von Eingängigkeit und Routine sind sie weit entfernt, doch
ist ihr Ton entspannter, scheinen sie mit größerer Umsicht und Selbstgewißheit
umgesetzt – auch wenn die entworfenen Topographien genauso beunruhigend
sind, auch wenn der Leser nach wie vor mit Witz und Virtuosität in ein
Sprachgebilde gelockt wird, in dem vielen Wegen, vielen Fäden gefolgt werden
kann, in dem trotz des listigen und oft benutzten Wortes „gewiß“
aber kaum etwas gewiß ist.
Nicht umsonst, bemerkt man lesend, hat Naum ein ausgesprochenes Faible für
Spiegel. Die großen Themen klingen zwar alle an – die Schuld, die
Liebe, die alte Gier nach Intimität und die Traurigkeit des
Fleisches –, doch hält sich kein Gedicht länger als nötig
bei ihnen auf, schlagen sie alle, ganz im Gegenteil, rasch eine Volte und verweigern
sich dem rationalen Verstehen, dem landläufigen Sinn.
Zu skeptisch ist Naum, was die großen Worte angeht, mögen sie sich
auf die eigene Kunst beziehen, die er meist als Gedyxt, Dixtung
oder eben Pohesie bezeichnet, oder auf Konzepte wie das Jehenseits.
Unterschiedlichste Tonlagen werden mit viel Koketterie verknüpft, die pathetische
Anrufung kippt sofort um in den grotesken Vergleich:
Lassen wir o meine Ungeduld den Sichelglanz
des Unmuts auf der Stirn noch stehen
wie ein Mulattenweibchen räkelt sich im Hof die Sonne
All dies ist oft von großer Komik, gelegentlich ermüdend, manchmal
unergiebig – aber wer alle Kostbarkeiten benennen wollte, die sich in
dieser Truhe von Buch finden, fände mit dem Zitieren kein Ende. Über
das quälende Gefühl, daß ich nichts gemacht habe als Poesie,
schrieb Naum, der 2001 im Alter von 86 Jahren starb, in einem Essay, befürchtend,
daß ich nichts gefunden habe als das, was man das Schöne nennt,
daß ich nichts gelöst habe als eine dichterische Aufgabe.
Das mag sein. Für den Leser aber stellt dieses Scheitern nach wie vor eine
Bereicherung dar.
Jan Wagner
--- Gellu Naum: „Pohesie. Sämtliche Gedichte“. Aus dem Rumänischen
von Oskar Pastior und Ernest Wichner. Band 1 der deutschsprachigen Gellu Naum-Werkausgabe,
herausgegeben von Ernest Wichner. Wien 2006