Die Blumen zwischen Nord und Süd
Neue Gedichte von Ko Un

Wer mitten in einem längeren, der Sprache selbst gewidmeten Gedicht auf den Ausruf „Oh, Glück der Geduld!“stößt, wird dies kaum für einen rhetorischen Kniff, ein bloßes pathetisches Kolorit halten – jedenfalls dann nicht, wenn er sich bei der Lektüre an die bewegte Biographie Ko Uns erinnert, des international wohl bekanntesten zeitgenössischen Lyrikers des geteilten Korea. Ohne große Langmut und, so muß man annehmen, eine ungeheure innere Kraft hätte sich ein Leben, dessen Wendungen und Wirrungen stets so eng mit dem Geschick seines Heimatlandes verwoben waren, wohl kaum bewältigen, geschweige denn literarisch in Momente des Glücks umwandeln lassen. Ko Un, der 1933 in der damaligen japanischen Kolonie Korea geboren wurde (und der sich in der Schule mit dem Wunsch, dereinst japanischer Kaiser werden zu wollen, sogleich bei der Obrigkeit verdächtig machte), erlebte als Siebzehnjähriger den Koreakrieg, bevor er sich, auch als Konsequenz aus dieser Erfahrung, 1952 für das Wanderleben eines buddhistischen Mönches entschied. Die Jahre in den Klöstern Südkoreas verwandte er nicht nur auf intensive Meditation und ein Studium der Philosophie, er veröffentlichte zugleich auch seine ersten lyrischen Arbeiten – zunächst in einer von ihm und anderen Mönchen selbst gegründeten Zeitung, bald jedoch schon in Buchform und mit stetig wachsendem kritischen Erfolg. Der Rückzug aus dem Kloster im Jahre 1962 markierte den Beginn eines Daseins als Künstler, der stets auf Augenhöhe mit der sozialen und politischen Realität war und trotz mehrfacher Inhaftierung, Folter und existenzieller persönlicher Krisen unbeirrbar blieb. Wie bei anderen koreanischen Dichtern ist Ko Uns künstlerische Entwicklung untrennbar verbunden mit dem langjährigen politischen Engagement gegen die Militärregierungen Park Chung-Hees und später Chun Doo-Hwans – man denke etwa an Kim Chi-Ha, für den er, selbst zu jeder Zeit bedroht, ein Rettungskomitee schuf, um die Vollstreckung des verhängten Todesurteils zu verhindern. Ein beschwerlicher Weg also , der mehr als einmal, nicht nur durch die Hände der Herrschenden, auch durch Ko Uns eigene Hand abrupt hätte beendet sein können; ein weiter Weg bis zum Symbol der Demokratiebewegung und zum Mehrfachkandidaten für den Literaturnobelpreis. „Ein Dichter ist kein Lehrmeister für diese Welt, sondern ein Menschenfreund, der in sich die Wunden der Zeit trägt“, schreibt Ko Un selbst, der die scheinbaren Widersprüche seiner Person und seines Lebens auch in seinen Gedichten zu verschmelzen versteht: Die Kritik am Bestehenden und das Lob des Daseins, Widerborstigkeit und Daseinslust, Meditation und Sinnlichkeit („nachdem die strenge Kälte vorüber ist,/ hängt der pralle Milchgeruch überall“), das Politische und das Buddhistische. Noch beeindruckender als die Bildfindungen Ko Uns ist seine Fähigkeit, sich in die Dinge, und mögen sie noch so unscheinbar sein, zu versenken; noch „der Sprache einer Amöbe oder eines Bazillus“ versucht er zu lauschen und entwickelt aus dem Detail am Rande seines Blickfelds ein Tableau, das breit genug ist, um sowohl die eigenen Momente des Leidens und des Glücks wie auch die fundamentalen Fragen der Gesellschaft und der Geschichte zu umfassen: „Wenn ich beim Spazierengehen am Wegrand/ Wegerich sehe,/ ist das kein Unkraut für mich,/ sondern die Inkarnation/ meiner verstorbenen Tante und ihres Mannes“. Die Rückstände auf einer Müllhalde, ein fremder Name, der Schrei einer Wildgans, das Saiteninstrument Geomungo können ebenso zum Gedicht führen wie eine Legende von den Seelen verschollener Fischer oder die Eckdaten der koreanischen Geschichte – das Ende der japanischen Fremdherrschaft, der Tag der Einnahme Seouls durch Truppen des Nordens, der Volksaufstand von 1980.
Oft ist es eine alltägliche Beobachtung, ein Konstatieren, das den Anfang markiert, leitet nicht mehr als ein einfaches „Heute“ das Gedicht ein: „Heute war ich den ganzen Tag über traurig“, heißt es etwa einmal, oder: „An einem grundlos traurigen Tag/ Schlage ich einen Atlas auf“. Mit einer Tagesnotiz, nicht zuletzt auch mit der Erinnerung an die Träume der vergangenen Nacht, beginnt es – und endet mitunter bei so schönen Gedichten wie dem „Traum zum Neujahrstag“ oder auch den Versen über „Eine Gasse“, deren „widerlicher Geruch nach Fisch“ dem Leser noch lange nachweht. Stellenweise kann das große Einfühlungsvermögen des Dichters nicht verhindern, daß die gewählten Bilder den Dingen, die seine Aufmerksamkeit erregen, nicht wirklich nahekommen, sie nur wie für die große Emotion instrumentalisiert erscheinen – beispielsweise wenn er Blumenblätter „mit zerbrochenem Herzen“ fallen läßt oder die morgendlichen Tautropfen als „Tränen an den Grasspitzen“ erscheinen. Und obwohl Ko Un ausdrücklich verneint, daß dem Dichter die Rolle eines „Lehrmeisters für diese Welt“ zukomme, neigt er mitunter doch selbst zu der griffigen Sentenz („letztlich steckt im Mensch das Tier!“), zu der bündig formulierten Weisheit. Selbst die Untergattung des poetischen Leitartikels wird bedient, wenn über die Nationalflaggen bei der Eröffnungszeremonie der olympischen Spiele räsoniert wird, doch sind solche direkten, ja auffallend um Mitteilung bemühten Passagen eher selten – gerade wenn man bedenkt, daß ein Grundthema dieser Auswahl, die nach Die Sterne über dem Land der Väter die zweiten in deutscher Übersetzung ist, das Verhältnis zwischen Nord- und Südkorea und die Annäherung der beiden verfeindeten Landesteile ist: „An Frühlingstagen gibt es nichts Schöneres als Blumen,/ die Nord und Süd vereinen.“ Die Gedichte dieses neuen Buches wurden allesamt den vier Bänden Ko Uns entnommen, die im Original zwischen 1993 und 2000 erschienen, dem Jahr also, in dem der Dichter den südkoreanischen Präsidenten Kim Dae-Jung im Rahmen seiner „Sonnenscheinpolitik“ nach Pjöngjang begleitete, stammen folglich alle aus einer Zeit, in der sich Ko Un für die Aussöhnung so stark machte wie zuvor für die demokratische Bewegung des Südens. Es ist beeindruckend, mit welcher Selbstverständlichkeit Ko Un die so oft getrennten Bereiche des Politischen und des Poetischen miteinander zu verknüpfen versteht – und bei aller Aufmerksamkeit, die er den bestehenden Grenzen, den vorhandenen Karten schenkt, an den notwendigen dichterischen Entwürfen arbeitet, die noch in keinem Atlas zu finden sind: „Armer Tropf,/ eine neue Karte sollst du zeichnen [...] Eine Landkarte nicht für Gestern, sondern für Morgen./ Weder Amerika noch Asien sind hier zu finden.“


Jan Wagner


--- Ko Un: „Beim Erwachen aus dem Schlaf“. Gedichte. Aus dem Koreanischen von Kim Miy-He und Sylvia Bräsel. Mit einem Vorwort des Autors und einem Nachwort von Sylvia Bräsel. Göttingen 2007