Ägyptischer Bernstein
Hilda Doolittles letztes poetisches Werk


Als 1913 in Harriet Monroes kleiner, doch einflußreicher Zeitschrift Poetry drei Gedichte einer bis dahin vollkommen unbekannten Autorin erschienen, die mit „H.D., Imagiste“ zeichnete, war die Welt um eine weitere literarische Bewegung reicher – und zwar um den Imagismus, der wie das rätselhafte Namenskürzel eine Erfindung Ezra Pounds war. Er war es auch, der die drei Gedichte eingereicht hatte – anstelle seiner Freundin Hilda Doolittle, aus deren Feder sie stammten, für deren Namen die Initialen standen und, nicht immer zu ihrer Freude, bis an ihr Lebensende stehen sollten.
Tatsächlich gelang es Doolittle nie, sich ganz von ihren imagistischen Anfängen zu lösen, jedenfalls nicht in den Augen der Öffentlichkeit. Auch wer sie nicht bloß als ungewöhnliche und eigenwillige Begleitdame der literarischen Moderne betrachtete (sie war mit W.C. Williams, Lawrence, Eliot, Marianne Moore und Gertrude Stein befreundet, um nur einige zu nennen), wußte doch zumeist nur von den frühen imagistischen Gedichten, nicht aber von den Romanen oder gar den epischen Großgedichten Trilogy oder Helen in Egypt. Ähnlich unbekannt sind bis heute Doolittles späte lyrische Werke, deren letztes nun erstmals in einer einfühlsamen deutschen Nachdichtung zu lesen ist, die nur an wenigen Stellen (aus „faint,/ faint,/ faint“ wird bei Ulrike Draesner das fraglos unwiderstehliche „schwach,/ wach,/ ach“) über das Original hinausgeht.
„Warum kamst du, störst/ meinen Lebensabend auf?“, lauten die Auftaktzeilen, mit denen das Thema auch schon angerissen ist: Hermetic Definition ist die poetische Auseinandersetzung Doolittles mit der letzten Liebe ihres Lebens – der zu einem dreißig Jahre jüngeren Mann, den sie kennenlernte, als die American Academy of Arts and Letters sie 1960, ein Jahr vor ihrem Tod also, als erste Frau überhaupt mit ihrer Goldmedaille auszeichnete. Gleich das erste Gedicht, das wie die Gedichte aller drei Teile und wie viele der späteren Texte Doolittles in dreizeiliegen Strophen gehalten ist, führt das Bild der sich entfaltenden Rose ein, insistiert gleichsam auf ihm, während die Widerstände in Klammern verbannt werden:

die roteste Rose entfaltet sich
(dem müssen sie Rechnung tragen)

Es ist eines von vielen Motiven, die kunstvoll miteinander verwoben werden, wobei der Titel des zweiten Teils des Buches, Hain der Gelehrten, ein deutlicher Hinweis ist: Nicht nur auf die Vielsprachigkeit des Poems – neben dem Englischen Deutsch, Altgriechisch und vor allem Französisch –, sondern auch auf die Tiefe und Bandbreite der Motive, auf die Vorlieben Doolittles, die sich gleichermaßen für die Kabbala, Tarot und Psychoanalyse (in den dreißiger Jahren war sie eine von Freuds Patientinnen) wie für Astrologie und Numerologie interessierte. Daß sie, wie Pound auch, eine Kennerin der griechischen, auch der ägyptischen Mythologie und Literatur war, wird ebenfalls schnell deutlich. Der gewichtige kulturgeschichtliche Bezug wird jedoch immer wieder austariert durch Zeilen von treffsicherer Einfachheit – ich bin alt,/ (ich war alt, bis du kamst) – und durch die sehr persönliche, anrührende Art, in der sich H.D. ihren Zweifeln und Wünschen, der Liebe, der Kunst und dem Alter zu stellen versucht:

Ich sage, ich weiß nicht, was er denkt,
ich sage, es ist mir egal,
aber auch das ist nicht wahr,

aber war es recht und billig vom Schicksal,
mir Bernstein zu schicken,
ägyptischer Augen Bernstein

im Gesicht eines gewöhnlichen Mannes?


Jan Wagner


H.D./ Hilda Doolittle: “Hermetic Definition. Heimliche Deutung”. Übersetzt von Ulrike Draesner. Urs Engeler Editor 2006, Wien