Geste oder Mission?
Spuren politischer Lyrik in den Gedichten jüngerer deutschsprachiger AutorInnen
Als der damals 31-jährige Christian Schloyer 2007 den Leonce-und-Lena-Preis
gewann, wurde er mit der Aussage konfrontiert, die Jury störe sich an der
mangelnden Politisierung der eingereichten Gedichte. Es sei dieser Generation,
so hieß es, der Gegner verloren gegangen, weshalb sie sich aus den Städten
wieder in die Natur flüchten müsse.
Schloyer, nun tatsächlich kein Autor, den man nach klassischen Modellen
und zuvorderst als politischen Lyriker bezeichnen würde, antwortete mit
einem kleinen Manifest.
Ein Verfasser literarischer Texte sollte politisch sein – jeder Mensch
sollte das. […] Beim Schreiben sollte man sich aber entscheiden, ob man
einen politischen oder einen literarischen Text verfasst. Politische Statements
als Poesie zu kostümieren bringt der politischen Meinungsbildung genauso
wenig wie der Poesie. Agitatorische oder pädagogische Texte sind darüber
hinaus oft fürchterlich, sie beleidigen […] die Intelligenz […].
Das sind Texte, die entmündigen wollen. Poesie aber soll in einem ganz
eigenen Sinne sprachlich mündig machen.
Ich bin davon überzeugt, dass Poesie politisch wirken kann, wenn sie unter
anderem eines vermeidet: politisch zu sein. Die Aufgabe der Poesie ist, die
Sprache vor Beschlagnahme durch Message, Information und alltagsontologischer
Bedeutungsträgerei – also vor den Erschöpfungszuständen
ihres alltäglichen Gebrauchs – zu regenerieren. […] Poesie
darf oder muss […] vieldeutig sein. Sie widerspricht dadurch einer von
ökonomischen Interessen konstruierten Realitätssicht und ihrer vermeintlichen
Eindeutigkeit. Sie widerspricht, indem sie anders spricht, in einer anderen,
prägnanteren Sprache. Dieses poetische Widersprechen ist in einem ganz
eigentlichen Sinne politisch: es ist bewusste Weigerung, sich dem ökonomischen
Sprachcode zu unterwerfen. (Interview auf http://www.titel-magazin.de, 25.03.2007)
An anderer Stelle führt Schloyer aus:
Gesellschaftskritik ohne Sprachkritik ist Authentizitäts-Schmuckwerk für
Lyrik, die am vermeintlichen Puls der Zeit sein will. […] Politische Bezüge
kann und soll Lyrik gerne haben, eine politische Message aber bitte nicht, vor
allem nicht zu Unterhaltungszwecken. (Hermetisch offen. Poetiken. Berlin
2008)
Diesem extrem liberalen beziehungsweise stark modifizierten Konzept von politischer
Lyrik stehen eher dogmatische Auffassungen gegenüber, nach denen ein politisches
Gedicht etwas ist oder sein soll, das „einen Missstand benennt und dabei
Position bezieht.“ (Andreas Hutt, http://www.literaturkritik.de, Oktober
2009)
Diese Position versteht das „Gedicht als Beitrag zur Erkenntnis der Notwendigkeit
von Veränderungen“. (Begleittext einer Anthologie politischer Gedichte
aus fünf Jahrhunderten, Frankfurt 1960)
Eines der Probleme, das politische Literatur immer wieder zu einer Totgeburt
werden lässt, ist das der Erwartbarkeit. Wenn man Kunst als Medium der
Kommunikation von einem mündigen Bewusstsein diesseits eines Kunstwerks
zu einem mündigen Bewusstsein jenseits eines Kunstwerks auffasst, dann
haben Prophetie und Propaganda in jeglicher Abmischung hier nichts zu suchen.
Worum es aber gehen kann und sollte, ist die Problematisierung von Fatalitäten
und Desideraten innerhalb unserer Lebenswelt.
Daniel Falb, auf den noch zurückzukommen sein wird, definiert den Raum
einer problembewussten Literatur sehr plausibel: „Meinem Empfinden nach
beziehen sich lyrische Texte auf nichts anderes als mögliche Weisen ihres
Gebrauchs. Demnach ist das ‘Lebensglück’ des Gedichts vor allem
die Erfahrbarkeit seiner Ästhetik: Im besten Fall verspricht es nichts
(formuliert keine Kritik und postuliert keinen Mangel), sondern erfüllt
nur (bildet selbst ein faszinierendes Objekt).“In seiner Beschaffenheit
als etwas Ästhetisches kann ein Gedicht gleichwohl politische Dimension
haben. Günstigenfalls, um es mit Falb zu sagen, als eine von verschiedenen
Möglichkeiten seines Gebrauchs.
Die Erfahrung zeigt, dass das meistens gelingt, wo ein Text irritiert, ohne
vom Autor als irritationistische Großkaliberwaffe auf ein zu überzeugendes
Bewusstsein des Rezipienten gerichtet zu werden.Vor einiger Zeit (F.A.Z. vom
03.01.2005) ließ sich Michael Lentz mit dem blasiert-unzufriedenen, vielleicht
auch nur strategisch provokativen Anwurf vernehmen, es gebe „kein Arschloch
der Jahrtausendwende.“ Womit er wohl dahingehend verstanden werden wollte,
dass es der zeitgenössischen Lyrik an Revolutionsberserkern und Umsturzapologetinnen
mangele. Ähnlich der Autor und Verleger Enno Stahl, der hartnäckig
eine „sozial-realistische“ Literatur einfordert: „Was mir
fehlt“, schreibt er in BELLA triste, „ist eine Lyrik, die aus heftigem
Leben oder Erleben heraus entsteht, [diese] muss nicht hard mouthed poetry sein,
aber unmittelbares Sprechen, Intensität, Dylan Thomas […] die junge
Lyrik dagegen formuliert immer durch den Filter der Poetik.“
Tatsächlich sind sie rar, die Enfants terribles mit (Selbst-)Ansage.
Wir haben keine Brinkmannnauten, die ein Schiff mehrspurigen Lärms durch
„miese“, vorwiegend zynisch geratene Gefilde steuern. Ein semantisches
Haudrauf hat Grenzen, und vielen AutorInnen ist heute zudem die Vergänglichkeit
von Moralismus und Attitüde sehr bewusst. Das schulterklopferische Vor-Exerzieren
von Mainstream-Moral hat zu wenig Kunst hervorgebracht.
Peter Geist nimmt in der jüngeren Lyrik gleichwohl eine „Wiederkehr
des Politischen“ wahr. Er meint bei vielen AutorInnen erkennen zu können,
dass sie die „Konsequenzen des Aufgehens in der Simulacrenkultur erforschen“,
oder aber ästhetische Kriterien „entschiedener rück[zu]binden
an gesellschaftliche Widersprüche, an Lebensfragen, die von immer uniformer
und aggressiver gewordenen Herrschaftsdiskursen in den kapitalistischen Gesellschaften
verschwiegen, umgelogen, umgewertet werden“.
Zu den jungen Dichtern, an die man im Kontext politischer Poesie in erster Linie
denkt, gehört Björn Kuhligk. Aber auch in seinen Texten findet sich
keine Denunziation des Offenbaren. Hingegen entfaltet er eine Poetik, die die
oft subtile, zugleich permanente Virilität (innerhalb) menschlicher Gesellschaft
zeigt. Respektive eine Wut angesichts „der Gefahr des Verlusts der persönlichen
Integrität“ (Walter Fabian Schmid). Seine Texte umspielen Themen
wie Utopieverlust, Aufgerüstetheit, Überwachungsstaat und Armut, mit
all ihrer das Leben einschnürenden Zynik. Diese Gedichte öffnen sich
in den Raum der Skepsis, sind wunde und feinfühlige Inspektionen einer
beschädigten Lebenswelt. Im Blick auf die Gesellschaft ist das Sein immer
ein limitiertes – beziehungsweise ein Behelfskonstrukt weit unterhalb
des Ideals.
Kuhligk folgt in seinem poetischen Modell dem Es gibt kein schönes
und reines Leben im falschen. Gewissermaßen stellen seine Gedichte
– unter anderem! – die Normalität des Zynisch-Absurden dar.
So heißt es beispielsweise im Gedicht „Während des Freitagsgebetes“
in bitterer Lakonik: „abends / stellen sich Sprenger an“.Seine
Gedichte sind Indizien der Penetration von Meta-Miseren in die Kleinteiligkeit
des Alltags hinein.
Mutti macht / noch schnell den Abwasch // als im Süden die ersten Turnschuhe
/ angespült wurden, später zwei, drei / Zweibeiner gefischt wurden,
es muß / es darf zurückgefeuert werden
Bei Gerald Fiebig mündet der frei flottierende zivilisatorische Irrsinn,
der uns umgibt, häufig in kaskadenartigen Texten aus Schlaglichtern mutmaßlicher
Degeneriertheit. Ein Zitat aus „stellenbeschreibung“:
es ist ein gitter aus abtaststrahlen in dei- / nem kopf […] ein gitter
aus wohlklang es liegt eine CD aus / cuba in deinem player mach dir nichts
vor der straßenstrich / in havanna ist nicht anders als der in taipeh
wo das / CD-presswerk steht. mach dir nichts vor. es ist eine ordnung aus
/ seattle in deinem kopf das blaue leuchten des bildschirms / in deinen
ideen. es sieht jeder was ist nicht an sich selbst.
In viele Richtungen aufgewühlt ist diese Lyrik und vielleicht von genau
jener Wildheit, von der John Ashbery meint, sie „wird eine Hilfe sein.“
Neue Tendenzen politischer Interessiertheit im Gedicht lassen sich in der kürzlich
von Tom Schulz herausgegebenen Sammlung „alles außer Tiernahrung“
entdecken. Der Raum für politische Lyrik sei wieder größer geworden,
schreibt der Herausgeber in seiner Anthologie neuer politischer Gedichte. Themen
wie Globalisierung, Gender, sozialer Abstieg, Entmenschlichung der Arbeitsprozesse
sowie Ausbeutung der Dritten Welt seien präsenter geworden und mündeten
zusammen mit einer Suche nach Heimat und Identität in einer prägnanten
Verlusterfahrung.
Die neue Qualität der nunmehr entstehenden Texte sei „ihr Hang zu
komplexer Durchdringung einer mindestens parallelweltenen Wirklichkeit, der
scharfgestellte entideologisierte Blick und das Vermögen zu kritischer
Reflexion ohne Beschwörung einer trügerischen Hoffnung“.
Beziehungsweise: Die junge Lyrik dieser Tage scheint von größerer
Haltungs-Ambivalenz geprägt. Oft stoßen wir auf Uneindeutigkeit und
Ironie, auf seltsame Formen von postutopischer Utopie oder para-utopischer Dystopierung.
Für viele DichterInnen gilt, was ich im Hinblick auf junge Lyrik aus den
USA schrieb: „Die Eskapaden ins Absurde, die alienistischen Tableaus,
lapidaren Einwürfe und neckischen Pietätlosigkeiten“ sind mehr
als nur „versponnene Don-Quijoterien. An vielen Stellen ist der Sex auf
den Trümmern des ?I have a dream’ durchaus partisanisch. Viele Texte
sind nicht nur poetische Evokationen und Elixiere frappanter Schönheit,
sondern en passant sozial sehr resonante Gebilde.“
Mindestens diese ein kritisches Bewusstsein schärfende soziale Resonanz
auf unsere Lebenswelt findet sich bei den meisten AutorInnen dieser Anthologie.
Die in ihren Gedichten politischeren unter ihnen halten uns die hierarchistische
und kapital-hedonistische Ausrichtung des politisch-sozialen Komplexes vor Augen.
Ihre Texte vitalisieren das Gebot zur Änderung der Lage, ohne ein Angebot
zu dessen direkter Verwirklichung zu sein. Man hat verinnerlicht, dass die Emission
von Lamento und Revolteabsicht leicht als Eli, Eli, lama sabachthani
der Hilflosigkeit rüberkommt. Die Schlussfolgerungen werden vernünftigerweise
den Lesern überlassen. Kaum jemand von ästhetischer Überzeugungskraft
arbeitet heute an einer manifestativen oder messianischen Matrix.
Bei René Hamann zum Beispiel muten Welt und Gesellschaft eher wie Schlösser
Kafkas an. Hindurch schimmert die Materialisiertheit des Einzelnen, seine Funktion
als Ablagerungsschicht des Außen. Die hochgradige so genannte Welthaltigkeit
politisiert diese Texte fast automatisch. Hinzu kommt häufig als Sprechhaltung
so etwas wie Sarkasmusüberdruck.
Studiert man die Gedichte Marcus Roloffs unter dem Politizitätsraster,
dann erkennt man eine ähnliche Lebenswirklichkeit wie auch bei Hamann oder
Adrian Kasnitz, nämlich eine, die maculata ist – großflächig
verdreckt, auch mit „dem ganzen Schmodder der Geschichte“ (Hendrik
Jackson).
A propos Adrian Kasnitz. Was macht er aus der, wie sie Monika Rinck nannte,
implodierten Legitimation des Großenganzen? Kasnitz „überspielt
die gegenwärtige Perspektivendelle nicht“, sondern „schreibt
uns schwarzweißstichige Ansichtskarten von Momenten unterhalb zeitgenössischer
Hochglanzprophetien: von Expeditionen in die Normalnullsoziotope, Randgebiete,
Hyposegmente der Gesellschaft. Statt leuchtender Leitsterne finden wir „Schmerzkanten“
vor, „Tollwutgefahr“ und lebensbegleitende Enttäuschungsschlacke.
In diesen nicht-elysischen Unterkammern einer zerfaserten Wirklichkeit blüht
wenig – bestenfalls einige, mit Wolfgang Weyrauch gesprochen, „Blumen
des Schlamms“. Anders gesagt: zwar huscht hier und da noch so etwas wie
Utopie durchs Blickfeld, aber generell handelt es sich bei diesem Alltag fast
um ein Gegenarkadien, eine bankrotte Situation mit absehbarem Karthagofinale.“An
dieser Stelle wäre auch Tom Schulz selbst einzuordnen, dessen Poetik Björn
Kuhligk wie folgt umreißt: „In Schulz’ Gedichten findet sich
der hohe Ton abgeklärter Lyrik, versetzt mit dem Realismus der absurden,
[…] bescheuerten, kranken, maroden Momente […], die permanent präsent
sind“.
In der Anthologie dieses Zivilisationskritikdichters finden sich aber auch weniger
erwartbare AutorInnen, so etwa die eben erwähnte Monika Rinck.
Wenn man der Rubrizierung Monika Rincks als Autorin politischer Gedichte folgt,
somit also einen politischen Impuls oder Impulse als gegeben annimmt, dann bleibt
nur die Frage, welcher Art das Politische hier ist. Abgesehen davon, dass diese
Autorin ihre Texte, Poesieprosapoesie, meist in hoch elaborierter Weise auf
eine theatrale Metaebene hebt – oder senkt.
wie hießen die mieter, / die mieter, wie hießen die mieter?
Vielleicht ist es so, dass man bei Rinck das Irrsinns-Launische des individuellen
Lebens als Grundelement einer strukturellen Doofheit der Gesamtzusammenhänge
sehen kann. Eine fatal-absurde Welt produziert gestörte Ichs, die wiederum
als Basis-Initial gestörter Ich-Netze fungieren. Ein Teufelskreis, und
darin das Individuum, in seine eigenen Ambitionen und uneinlösbaren Ansprüche
verheddert, orientierungsschwach. Das die Verhedderungen auslösende Außen
wird wie folgt kommentiert:
etwas verdammt noch mal / übergestülptes, von grund auf verbocktes.
es ist ein fiasko.
Aber wie so oft lässt sich bei Rinck das Referenz-Schmerzgebiet nicht einfach
enttarnen. Beziehungsweise es ist so, dass sich Rincks en-passant-hafter Kommentar
nicht eindeutig auf etwas bezieht. Es könnte die Welt insgesamt sein, aber
ebenso auch nur eine Einzelsache oder das Abbild eines hochgetourten überforderten
Seelchens. Tatsächlich blickt man in den Gedichten von Rinck oft auf suboptimales
Agieren und seltsame Behaviorismen. In „wem das auge tränt“
liest sich das so:
was bleibt: / hinleging, in den dämmer zurück und daraus hinaus
/ mit nichtigem gepäck, ich bringe nichts, und ich versichere, / ich habe
nichts bekommen. auf den vieren, gemeint / sind die knie, von denen jeder mensch
hat viere. vier, / die sichtbar sind und vier in der eigenen demut versteckt.
/ und die demut dann wieder versteckt.
In „was machen die frauen am sonntag?“ illustriert uns Rinck auf
sublime Weise und mit wie immer viel Ablenkungsmaterial die soziale Kategorie
Frau.
Ist das politisch? Die Antwort, würde ich sagen, liegt bei Ja bis Jein.Die
Exposition des Suboptimalen scheint überhaupt vielen DichterInnen als möglicher
Modus eines politisch ausgerichteten Schreibens sehr probat zu sein. Man klinkt
sich ein in eine Umgebung aus ethischen, moralischen und auch ästhetischen
Verwerfungen, Deformationen.
Dichter wie Adrian Kasnitz, René Hamann, André Schinkel, Marcus
Roloff, Stefan Schmitzer und Gerald Fiebig spiegel eine Vita Passiva wider:
ein allgemeines internalisiertes Hinnehmen bis hin zur Ignoranz. In ihren Gedichten
scheint die utopische Bewegungslosigkeit sowohl des Einzelnen als auch der Gesamtheit
und ihrer systemischen Strukturen auf.
Lassen wir kurz Stefan Schmitzer zu Wort kommen, mit einer Sequenz aus „so
ein pfaffen-stream. & kommentar debord“:
unterm himmel / kein unterschied zwischen dorf und / stadt und metropole,
/ bloss die innenausstattung ver- / ändert sich, und deine sehnsucht be-
/ ruht auf ner illusionären kategorie, auch / trifft sie nicht die sache,
weil die sache, das / sagst du ihr dann auch, / die besteht im neuen / pfaffentum,
in der unmöglichkeit, geld / abzulehnen, wissen / im dienste der blödheit,
coolness / im dienste der monstrositäten, in der vollständig / verkehrten
welt / ist das wahre ein moment / des falschen
Hier sehen wir das uneingelöste Gute als unlösbar mit der Gegenwart
verbunden. Das heißt, das Gedicht ist kein in einen ästhetischen
Raum hineinabstrahierter Ort, sondern Teil einer kritischen Energie. Eines der
zugrunde liegenden Motive könnte sein, einer Welt voller Scheinbarkeiten
nicht noch mit poetischen Scheinbarkeiten zu begegnen, sondern mehr oder weniger
mit Wahrnehmungsabbildung (Diegesis).
Die Gefahr eines überwiegend rezipierenden Zugriffs auf Welt jedoch besteht
darin, dass Offensichtlichkeiten mehr oder weniger reibungsarm abgebildet werden
– und dass man sich auf artistische Missständeaufzählungen oder
eine isolierte Konfrontativität verlässt oder in gutmenschhaftes Lamento
verfällt, mithin eine Resignatio sine qua non, die so wenig politisch wäre
wie ein enthusiastisches Naturgedicht.Die Justierung auf eine wenigstens gelegentliche
Politizität der Poesie scheint als Modus kein Einzelphänomen zu sein.
Immer wieder stößt man auf Poetiken, deren Ästhetik sich aus
dem Konflikt zwischen dem Erhabenen und dem Unangenehmen speist.
Da die multiple Problemhaftigkeit unserer Zivilisationslandschaften offensichtlich
ist, muss man sie in der Kunst nicht mehr eigens in pädagogischer Absicht
ansteuern, sondern kann einfach, indem man sich dort aufhält, politisch
sein.Das gilt insbesondere für Daniel Falb und seine Kariesbilder sozialer
Realitäten, anhand derer man auf äußerst unaufdringliche Weise
die „Determiniertheit des Individuums“ (Hendrik Jackson) detektieren
kann – gilt aber gleichermaßen für eine Dichterin wie Marion
Poschmann, deren Gedichte eben nicht nur innovative Reprisen des Naturlyrischen
sind, sondern mindestens gleichwertig „Expeditionsberichte aus der Gegenwart,
die das Verstörende im Vertrauten, das Abgründige im Seichten, das
Unheimliche im Gemütlichen aufspüren“ (Kurt Darsow).So wie die
Schönheit im Auge des Betrachters liegt, so ist auch der Grad an Politischheit
immer an den Rezipienten und seine Konkretionskompetenz gebunden. Es gibt kein
absolut politisches Gedicht. Man kann innerhalb einer flexiblen Poetik durchaus
neben der poetischen Form das nötige Wahrnehmen von Strukturen und Strukturenbrüchen
mitkommunizieren. Und diese missionierungsfreie, wach haltende Lyrik wird tatsächlich
geschrieben, heute und von vielen jungen AutorInnen. Bei Gelegenheit.
Ron Winkler
Quelle: Worttreffen. Poesie und Positionen zur zeitgenössischen Lyrik. Hrsg. von der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e. V. Edition kunst & dichtung, Leipzig 2011. S. 98-107