Gedichte, die Fenster zum Bersten bringen
01.10.2010 · Man muss dem Zufall nur Bedeutung geben, dann sieht die Welt gleich ganz anders aus:
Neues von und über den großartigen Daniil Charms, den Samuel Beckett des Ostens.
von Sabine Berking

Sie schliefen auf einer verschlissenen Liege mit Loch. Das Zimmer, das einmal ein ganzes war, teilten sie mit einer bettnässenden Alten und ihrer altjüngferlichen Tochter. Die Angst vor Verhaftung und der Hunger waren ständige Begleiter, ebenso wie der Galgenhumor, die Eifersucht, die Affären, Sonntage in der Eremitage, Gelage mit den Künstlerfreunden und der Besuch der Matthäuspassion, die - eigentlich verboten - nur ein Mal aufgeführt wurde. Die Erinnerungen Marina Durnowos an ihre Ehe mit dem Dichtergenie Daniil Charms zeugen von der bedrohten Existenz einer avantgardistischen Boheme in den Zeiten des Stalinismus.

Der 2009 verstorbene Charms-Kenner Vladimir Glozer konnte die alte Dame, die ihre Heimat in den Wirren des Krieges verlassen hatte und über Jahrzehnte wie vom Erdboden verschluckt schien, Mitte der Neunziger in Venezuela ausfindig machen. Mit geradezu erschreckender Lakonie wird von jener wahnwitzigen, brutalen russischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts berichtet, die aus Abertausenden Schriftstellern und Intellektuellen tragische Heroen wider Willen machte. Bei Galiani sind nun neben diesen Erinnerungen die ersten zwei einer auf vier Bände angelegten Charms-

Ausgabe erschienen, neu übersetzt,

mit zahlreichen Erstveröffentlichungen und Zeichnungen des Dichters.

Im Revolutionsjahr 1905 in Petersburg als Daniil Juwatschow geboren, gilt Charms, der unter gut dreißig Pseudonymen schrieb, heute als Samuel Beckett des Ostens, als Ikone der literarischen Moderne und des ästhetischen Dissidententums. Sein Vater verbrachte als Mitglied der terroristischen Organisation "Volkswille", die 1883 ein Attentat auf den Zaren verübte, zwölf Jahre in Straflagern. Seinen Sohn schickte der nach seiner Entlassung zum Sparkassenrevisor aufgestiegene Juwatschow auf das deutsche Gymnasium in Petersburg. Charms verfasste Gedichte in deutscher Sprache. Ein Studium der Elektrotechnik wurde nie beendet.

Der junge Charms begeistert sich für den bereits vor der Revolution durch Chlebnikow, Majakowski und den Maler Malewitsch etablierten russischen Futurismus, dessen Ziel nicht die Zerstörung der bürgerlichen Kunst, sondern ihre mittels der Negation erwirkte Erneuerung sein sollte. "Dada" bedeutet im Russischen "Jaja" - ein Zufall mit Bedeutung. Der gutaussehende Charms begann mit skurrilen lautmalerischen Gedichten im Stil der russischen Futuristen (zaum'). 1927 gründete er mit den Dichtern Wwedenski und Sobolozki die "Vereinigung der realen Kunst" (Oberiu), die sich von der, wie sie selbst in ihrem Manifest schrieb, "das Wort entleerenden Schule des Zaum" distanzierte und eine Kunst propagierte, die Alltägliches grotesk verfremdete, um so das Publikum wachzurütteln. Gedichte müsse man schreiben, so Charms, dass das Glas zerspringt, wenn man sie gegen das Fenster wirft. Der stalinistische Literaturbetrieb nahm den Oberiuten jede Möglichkeit der öffentlichen Präsentation, 1931 wurden Charms und seine Mitstreiter erstmals verhaftet. An Veröffentlichungen war nicht mehr zu denken. Danach - dies ist die Zeit der Ehe mit Marina Durnowo - lebte er dank der Freundschaft mit dem Kinderbuchautor und Verlagsleiter Samuil Marschak von kärglichen Honoraren, die er mit Kindergeschichten verdiente.

Hierzulande, so der 1969 in Moskau geborene und seit 1980 in Düsseldorf lebende Herausgeber, Lyriker und Nachdichter Alexander Nitzberg, ist Charms vor allem mit seinen skurrilen Humoresken und surrealen Alltagsgeschichten bekannt geworden. Das mag auch an der vertrackten Übersetzbarkeit der Charms'schen Lyrik liegen. Peter Urban, dem das große Verdienst zukommt, Charms seit mehr als dreißig Jahren dem deutschen Publikum näherzubringen, hatte vor einigen Jahren in der Friedenauer Presse eine kleine Gedichtauswahl ediert und sich dabei, wie Nitzberg im Nachwort anmerkt, recht akribisch - aber keinesfalls pedantisch - an die Interlineare gehalten. In der neuen Ausgabe wird nicht nur versucht, die Texte thematisch zu ordnen, was der Dichter so nie vorgenommen hatte, und Metrik, Rhythmik und Sprachcouleur stärker zu beachten, sondern über den Verzicht auf die schwerfällige Transliteration hinaus "einzudeutschen". Da wird der Konnotation gerecht aus einem Bobrow Herr "Biberfell" oder aus dem Bauerntrottel Fedot ein "Kasper" während der bei Charms mit deutschem Namen auftretende Peter zu "Pawel" mutiert. Ob Nitzberg, der nach dem Tod Vladimir Glozers die Editionsarbeit übernahm, Autor und Leser damit immer gerecht wird, sei dahingestellt. Die Puristen jedenfalls haben zu schlucken.

Die Prosa freilich ist in der Übersetzung von Beate Rausch ein einziges schaurig-schönes Vergnügen. Im Alltäglichen, Banalen entdeckte Charms, den man heute als Aktionskünstler bezeichnen würde, das Mystische, im Biederen das Schaurige, im Harmlosen die widerwärtigste Brutalität. So will der Held der längsten Erzählung eine Geschichte über einen "Wundertäter" schreiben, der stirbt, ohne ein einziges Wunder vollbracht zu haben.

Charms verbiss sich ins Innere der Wörter, er suchte mit seinem den Sozialistischen Realismus karikierenden hermeneutischen Unsinn, der die scheinheilige Ratio und Gefühlsduselei ebenso verachtete wie die strengen Regeln der Sprache, nicht mehr und nicht weniger als eine neue ästhetische Weltsicht. Lange war es ihm gelungen, den Behörden Geistesgestörtheit vorzugaukeln, was vor Verhaftungen schützte. Ende der dreißiger Jahre jedoch wurde seine Lage immer prekärer.

Im Sommer 1941 wird Charms verhaftet. Wenige Monate später, im Februar 1942, während der Leningrader Blockade, verhungert der Dichter, vermutlich im Psychiatrietrakt des Gefängnisses. Sein Freund, der Philosoph Jakow Druskin, rettete kurz darauf sein OEuvre, indem er eiligst Hefte und Zettel, die der Geheimdienst für sinnlose Kritzeleien befunden hatte, in einen Koffer packte, den er auf einem Schlitten durch die bitterkalte, hungernde und von deutschen Bomben gepeinigte Stadt zog. Marina Durnowo konnte Leningrad mit einem der letzten Transporte über den zugefrorenen Ladogasee verlassen. Ihr weiteres Schicksal, das sie als Zwangsarbeiterin nach Deutschland und schließlich nach Frankreich und Lateinamerika führte, ist nicht weniger dramatisch als ihre Ehe mit Charms. Wer beim Lesen der Gedichte und Miniaturen süchtig wird, dem sei ergänzend die neu aufgelegte Monographie von Gudrun Lehmann empfohlen, die nicht nur den Literaten, sondern auch den Maler und Graphiker ins Licht rückt.

Daniil Charms: "Werke 1. Trinken Sie Essig, meine Herren". Prosa. Aus dem Russischen von Beate Rausch. "Werke 2. Sieben Zehntel eines Kopfs". Gedichte. Nachgedichtet von Alexander Nitzberg. Beide Bände herausgegeben und mit einem Nachwort von Alexander Nitzberg. 260 S. bzw. 240 S., geb., je 24,95 [Euro].

Marina Durnowo: "Mein Leben mit Daniil Charms". Erinnerungen. Aus Gesprächen zusammengestellt von Vladimir Glozer. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. 176 S., geb., 16,95 [Euro]. Alle drei Bände erschienen im Galiani Verlag, Berlin 2010.

Gudrun Lehmann: "Fallen und Verschwinden. Daniil Charms. Leben und Werk". Arco Verlag, Wuppertal 2010. 736 S., 104 Abb., geb., 39,90 [Euro].

Quelle: F.A.Z.