Sinnverschiebungen in Versen
«kugelblitz»: Gedichte von Ulrike Draesner
Eine Strassenbahn rattert die Schienen entlang. Kurz vor dem Haus wird sie
langsamer, macht eine S-förmige Schleife und fährt wieder davon. Dem
Betrachter hinter dem Fenster ist dieser Rhythmus vertraut. Doch eines Tages
nimmt er ein Fernrohr zu Hilfe – und plötzlich bemerkt er etwas völlig
anderes: Der rote Wagen wird wie eine Pappschachtel zusammengedrückt, die
Wände stossen immer schräger aneinander. Dann scheint der Kasten auf
einmal hinten breiter, und während durch alle Flächen noch kurz eine
Bewegung läuft, ist die alte vertraute Schachtel wieder in Ordnung.
In seinem kleinen Text aus dem Jahr 1926 beschreibt Robert Musil den Blick durch
das Fernrohr als ein Umstülpen der Wahrnehmung. Das technisch verlängerte
Auge taucht unter den gewohnten Zusammenhang der Dinge und setzt Einzelheiten
frei. Es gibt die «romantischen Beziehungen zur Umwelt» auf zugunsten
der «richtigen optischen». In Ulrike Draesners neuen Gedichten kehrt
Musils Strassenbahn wieder, nur schlingert sie nun «kreischend / in die
kleinste kurve». Diese Lyrik kennt keine festen Hierarchien mehr. Wo bei
Musil hinter dem Gewebe aus Gewohnheit eine zwar dämonisch anmutende, aber
doch «richtige» Welt erahnbar wird, halten Draesners Gedichte zunächst
alles offen. Zwischen dem Wildwuchs der Bedeutungen und seiner Bändigung
finden sich hier die wundersamsten Mesalliancen, wird bald schon alles mit allem
vergleichbar. Die Gedichte stellen neue Zusammenhänge her, merkwürdige
Verbindungen, die keiner kausalen Logik gehorchen. So lässt sich die Strassenbahn
vom Liebesspiel zweier Hunde anregen, bis sie am Ende lustvoll davonsaust.
Fast jedes der Gedichte verfügt über eine solch kleine Versuchsapparatur.
Hier werden die überkommenen Vorstellungen vom «Subjekt» oder
vom «lyrischen Ich» erprobt. Hier forscht Ulrike Draesner einer
Sprache der Gefühle nach, die um ihre Zeichenhaftigkeit weiss und um die
Zeit, in der sie steht. Vor allem aber jener nur scheinbar sicheren Unterscheidung
zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen der Erinnerung und dem Erleben
des Moments. Oft setzen die Texte mit Bildern ein, die an Kindheits- oder Jugenderfahrungen
denken lassen. «als meine schwester den hasen / penelope nannte»,
beginnt ein Gedicht. Oder: «hätte ich mich niemals verliebt / (nährenden
bodens)». Doch schon eilen die Verse «mit / kleinen winkenden armen
durch die zeit». Bruchlos wechseln die Bild- und Sprechweisen, «feensprache»
schleust Draesner ebenso ein wie simple «ferngespräche». Irgendwann
ist aus dem «nährenden boden» ein «sich nähernder
boden» geworden. Es sind diese klangstark inszenierten Laut- und Sinnverschiebungen,
die den Leser ganz nah an die Gedichte heranholen.
Ulrike Draesners Texte, die Romane ebenso wie die Erzählungen, die Essays
oder die Gedichte, tragen den Entwicklungen ihrer Zeit Rechnung. Die einschneidenden
Veränderungen im Denken und Fühlen, die sich durch Bio- oder Computertechnologie
ereignet haben, prägen ihre Form bis in die Satzzeichen hinein. Das gewagteste
Unternehmen sind vielleicht die «Radikalübersetzungen» von
Shakespeares Sonetten. Mit einer Reihe von Sprachmutationen hat sie die Sonette
in vielzüngige Gen-Gedichte verwandelt, in «Reden von Klonen in einer
geklonten Welt». All diese Vorstellungen sind auch im neuen Gedichtband
anwesend. Aber sie werden nicht mehr ausgestellt, vielmehr schweben sie angenehm
unaufdringlich im Hintergrund.
Das heisst keineswegs, dass die Gedichte nun weniger vielschichtig wären.
Im Gegenteil, ihre treibenden Rhythmen eignen sich gleichermassen für schmale
Textfiguren wie für die Langzeile. Sie inszenieren «spreng / träume»
und ein «flixes sehen», das wie nebenbei die Fältelungen der
Liebe mit geschichtlichen Spuren verknüpft. So sind Ulrike Draesners Verse
nichts Geringeres als Erkenntniswerkzeuge. Sie verraten uns etwas über
die Verbindung von Erkennen, Fühlen und Sprechen. Musil nannte es die «unendliche
verstehende Auflockerung des Menschen».
Nico Bleutge
erschienen in der Neuen Züricher Zeitung vom 28.7.2005
Ulrike Draesner – kugelblitz, München 2005