In der Selbstwelt
Elke Erbs Versuchsbüchlein «Die Crux»

«Diese gefügten, gefügigen, Weicheres tragenden / Knochen: lesen». Es mag nach Koketterie klingen, doch wer sich mit Elke Erb beschäftigt, der muss zunächst einmal sehr viel lesen. Vielleicht mag sich sogar ein Gefühl der Überforderung einstellen, wenn man vor dem Stapel zwar meist schmaler, aber in sich ungemein verzweigter Bändchen sitzt, die im Laufe eines Schreiblebens entstanden sind. Doch schon nach kurzer Zeit kann man von diesem «Allegro des Lesens» nicht mehr lassen, ja, man scheint in eine Art Suchbewegung geraten zu sein, die Elke Erbs Bücher von Beginn an durchzieht.


Kurzvers und Klangpartitur

Was beim Wandern durch all die Bändchen auffallen mag, durch «Einer schreit: Nicht!» oder den «Faden der Geduld», durch die «Kastanienallee» oder die «Winkelzüge», ist zweierlei: zum einen, wie viele scheinbar gegensätzliche Sprachmöglichkeiten hier aufgefächert werden, vom kargen Kurzvers bis zur wortspielerischen Klangpartitur. Zum anderen, wie schon sehr früh Text und Kommentar zusammentreffen, und zwar so, dass der Kommentar in die Sprachbewegung hineingezogen, ein Teil des Textkörpers wird. «In den Mund nehmen diesen Tag / auf die Zunge», heisst es einmal bei Friederike Mayröcker, «Schreiben ist geistiges Atmen», antwortet ihr die Freundin Elke Erb. In ihren Gedichten und Prosafäden gibt es ein stets spürbares Tasten und Suchen, nach den Bedeutungsfächern der Wörter, nach Rhythmen, Klängen und ihrem Nachhall in der «Selbst-Welt». Es ist ein Schreiben, das seine Kraft aus dem Impuls gewinnt, sich selber stets aufs Neue umzukrempeln.
Von der «zarten Verrücktheit in meinem Blickpunkt» hat Elke Erb einmal geschrieben. In ihrem vorletzten Buch, «Sachverstand», findet sich eine kleine Skizze, die von dieser Arbeitsweise der leichten Verschiebungen einen Eindruck geben mag: «zwischen den Pappeln ein aufrecht - Licht flirrt - verharrender Mann, Licht-flirrt-Strich, der Blick holt, unentwegt - ich komme heran, ich sage es ihm, ein alter Bauer». Wie hier der Blick die Szenerie zerlegt, wie hier der Akt des Sehens vorgeführt und zugleich reflektiert wird, bis sogar das flirrende Licht sein Zeichen im Satz gefunden hat - man könnte es mit Thomas Kling das «Abscannen von Gesichtsdaten der Welt» nennen.


Blick in den Spiegel

Der Blick als monsieur le vivisecteur spielt auch in Elke Erbs neuestem Buch, «Die Crux», die Hauptrolle. Zu vier geschickt verwobenen Kapiteln hat sie ihre Notate und Augenblicksskizzen diesmal angeordnet, die allesamt dem Wissen um die Vergänglichkeit verpflichtet sind. Etwa in der Mitte des hübsch gemachten Bandes findet sich eine Stelle, an der von einem flüchtigen Blick in den Spiegel die Rede ist, einem Blick, der beiläufig, doch zugleich taxierend ist, einem «Blitzkontrollblick», in sich gebrochen. Und aus dem sich eine Aufgabe für die Sprache ergibt: «Wie löse ich diesen Punkt, den Blitzkontrollblick, in Betrachten auf?» Oder, von der anderen Seite gefragt: «Wie bleibe ich dem Augenblickpunkt treu mit dem Textnacheinander? Wie erzeuge ich ihn?» Wie kann ich die Vibrationen des Wahrnehmens, all die Schwingungen, Wölbungen und das «Murmeln, Munkeln», in den Sätzen spielen lassen?
Vielleicht ist Elke Erbs Schreiben der fortwährende Versuch, solche Augenblickspunkte zu erzeugen, etwas Aufblitzendes, Momenthaftes, so im Ablauf des Textes einzuholen, dass der Text die Lebendigkeit eines Körpers erhält. Vielleicht deshalb die vielen Anläufe, das Flüchtige, Beiläufige nach und nach in eine Versuchsanordnung zu überführen, in ein «Ermittlungsfeld», auf dem sich schon Lektürereste, Erinnerungsbilder und zoologische Kleinigkeiten abgelagert haben. In eine Anstrengung, die nach und nach ihre eigenen Formgesetze hervorbringt und so lange durchgeführt wird, bis alle Möglichkeiten erprobt sind. Um dann wieder neu anzusetzen, zu einem neuen Versuch. Diese Versuche in ihrer Gesamtheit wären dann die mäandernde Suchbewegung all ihrer Texte. «Umherwuchernde Trostlosigkeit im Unterholz», heisst es an einer Stelle. Doch Elke Erbs genau tastende Sprache führt ein ums andere Mal ins «Nirwanageflirr» der Poesie.

Nico Bleutge

Elke Erb: Die Crux. Urs Engeler Editor, Basel 2003. 135 S

Rezension erschien zuerst in der NZZ vom 12.8.2004