Anfragen an die Vegetation
«Haut und Serpentine» - Gedichte von Jürgen Nendza

Auf den ersten Blick scheint es ein guter Bekannter zu sein, der den Leser am Eingang des Bändchens erwartet. «und am Satzende das Weiss» - mit diesem Vers beschloss Jürgen Nendza eines der schönsten Gedichte seines letzten Lyrikbuches, eine leicht gefügte Skizze, in der die Vögel am Himmel nicht nur das Weiss des leeren Blattes aufsaugen, sondern auch den Blick des Schauenden: «Die Kohlezeichnung der Stare vor dem kreidigen / Himmel. Deine Spur ist dieser Augenblick, // Ordnung in die Luft zu denken. Eine / unberechenbare Landschaft auffliegender / Punkte über einem Landstrich aus Boden». Und nun fliegen gleich zu Beginn wieder die Stare auf, doch beim genauen Hinsehen ist es ein anderes Bild, unruhig, verwischt, als hätte der Autor die Szenerie in eine Schneekugel versetzt und kräftig geschüttelt. «Singende Kirschen / oder Tumulte der Stare in deiner Kopfvoliere, / durch die sich die Vogelschar fortrollt. // Ein in sich kreisendes schwarzes Loch, / saugend am Himmel, das plötzlich zerfliegt».

Auch wenn sich Jürgen Nendzas Gedichte nicht dazu eignen, sie auf allzu eingängige Begriffe festzuschreiben, so bieten sie dem Leser doch eine Lesart an. Dem Tumultartigen, Chaotischen stellen sie die Ordnung des folgerichtigen Denkens gegenüber, dem Haptischen und der «Körpermalerei» die «Vogelperspektive» des Rationalen. Zugleich wissen sie genau, dass sich die unaufhörlich anprallenden Erscheinungen der Gleichzeitigkeit des Anschauens eigentlich verweigern, die Sprache sich ihre Teilchen stets zurechtschleift: «und immer verschwindet die Vielfalt im Augenblick // einer Perspektive».
Damit sind gewissermassen die Koordinaten des Schreibens gesetzt. Weder in der strengen Ordnung noch in der gänzlichen Auflösung der Konturen finden Nendzas Gedichte ihren Weg, sondern in einer Art Zwischenwelt, am Rand der Bilder und Wahrnehmungen, dort also, wo die «Grenzflächenspannung» spürbar wird. Schon in seinem letzten Band war der 1957 geborene Autor auf der Suche nach einer Balance der Sphären. Hielt er sich dort vornehmlich an die Leichtigkeit der Luft, wollen die Bilder nun körperlicher erscheinen. Was seine Wanderungen in den Zwischenräumen immer wieder aufspüren, sind kleine Risse und Furchen, Streifen und haarfeine Linien, auch das wundersame Zwielicht von Spiegelungen oder blinzelnden Augen.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass Jürgen Nendza selber im Grenzgebiet wohnt, in Aachen, wo die Schnittlinien von gleich drei Ländern verlaufen. Einen der spannendsten Zyklen dieses Bandes hat er von einem Streifzug durchs Aachener Hinterland mitgebracht. Mit feinem Gespür für historische Tiefenschichten verfolgt er dort die Geschichte eines Starkstromzaunes, den deutsche Truppen im Ersten Weltkrieg entlang der belgisch-niederländischen Grenze aufstellten. Eine Todesanlage gleichermassen wie ein hybrider technischer Albtraum, an deren Ablagerungen er die «kleine Verschiebung // In Faltungsvorgänge» erprobt, von der einmal die Rede ist. Um die Vielfalt der Falten und Fallen nicht in der Perspektive zu verkürzen, arrangiert Nendza ineinander flimmernde Bilder und Sprachassoziationen, die er einem serpentinischen Rhythmus anvertraut. Wie eine Schlange, die sich auf ihrem Weg durchs Unterholz ein ums andere Mal häutet und kleine Sprachschuppen aufrascheln lässt, winden sich die Verse über die Seiten, beschleunigen und bremsen wieder ab, bis sie die Bilder auf einem höheren Niveau erneut streifen.

Bisweilen gerät die Nervosität der poetischen Denkbewegung für Momente ausser Kontrolle. Wo die Sprachbindung dauernd weiterspult, wo das stromernde lyrische Ich immer schon «an der nächsten Biegung» steht, beginnt der Blick des Lesers selber zu flimmern, kann er all den «Anfragen an die Vegetation» nicht mehr folgen. Solche Verse wirken überladen, manch andere, die Amsterdam-Erkundungen im letzten Kapitel etwa, bleiben an der Oberfläche haften und zeigen nicht viel mehr als dies: «Mit ein paar Versen schabst Du geschlossene Haut». Doch das sind Kleinigkeiten, denkt man zurück an das «knisternde Licht» auf der Strandpromenade oder an den Küstengeruch, der wie ein Luftschiff über das Haus zieht.


Nico Bleutge


Jürgen Nendza: Haut und Serpentine. Gedichte. Verlag Landpresse, Weilerswist 2004. 63 S., € 17.-

zuerst erschienen in der NZZ vom 8.9.2004