Kieferrohrbruch

Nachträglicher Vorspann


Am 15. und 16. April 2016 fanden unter dem Titel Materie: Poesie im Literaturforum im Brecht-Haus zu Berlin eine Konferenz und im Literaturhaus Berlin in der Fasanenstraße eine Ausstellung zu meinem Werk statt. Unter den Vortragenden war auch der Literatur-und Musikwissenschaftler Sebastian Kiefer, von dem es mit Das unsichtbare Genie – Herzenseinfalt und Artistik in der Verskunst Joseph von Eichendorffs ein in der Tat außerordentliches Buch über Eichendorff gibt.

Kiefers Vortrag bei der »Falkner-Konferenz« war angekündigt unter dem Titel Musikalität und Form. Anmerkungen zur Lyrik, aber seine Alarmglocken, die schrillen, wenn jemand es unternimmt, sich mit Hölderlin zu befassen (blindlings hatte er das zusammengefasst unter »dessen Hohen Ton zu imitieren«) hatten ihn davon abgehalten, meine Hölderlin Reparatur, die sein Vortragsthema sein sollte, auch nur einmal aufzuschlagen, geschweige denn zu lesen.

Da hatte der von mir ebenfalls geliebte Eichendorff es natürlich besser. Vielleicht ist auch gerade deshalb ein wirklich gutes Buch daraus geworden. Es soll ja vorkommen, dass Kenntnis etwas mit dem Ergebnis einer Arbeit zu tun hat.
So aber kam es, dass Falkner in dem Vortrag über Falkner nicht mit einem Wort Erwähnung fand, dafür aber Beethoven und Hölderlin die ganze Schlagseite der Kieferschen Anverwandlung abbekamen. Eine derart kühne Konstruktion lasse ich nicht gerne unbeantwortet, zumal mein Buch Hölderlin Reparatur, unausgesprochen im Raum stehend, alles andere ist als das, was Kiefer »im Rahmen einer wissenschaftlichen Konferenz« (!) dazu vermutet hat.

(Übrigens: Immer, wenn ich »Kieferschen« eintippe, kennt mein leider nicht totzukriegendes Rechtschreibprogramm den Namen nicht und schlägt mir »Lieferschein« vor. Auch das hat etwas.)

Gerade Sebastian Kiefers vom statuarischen Brustton des Verkünders der eigenen Eminenz durchdrungene Ton im Sinne einer Unterweisung hat mich, geheimnisvolle Verwandtschaften preisgebend, an Martin Mosebach erinnert. Nun muss man Mosebach, im Gegensatz zu Kiefer, wirklich nicht vorstellen. Die Klugen kennen ihn alle, auch wenn nicht alle Klugen ihn lieben.

Beide sind sie, Kiefer und Mosebach, Klassensprecher, die zu kleinen Klassen sprechen, beide sind sie nicht gerade das, was man als cool bezeichnen würde. Aber dies ist ja auch nicht die wirklich einzige Wahl, die man im Leben hat.

Und nun schwanken wir erneut zwischen dem, was man voraussetzen darf, und dem, was nicht. Martin Mosebach, der Georg-Büchner-Preisträger, hat dem Verlagskollegen Franz Josef Czernin ein hymnisches Vorwort zu dessen Band staub.gefässe: gesammelte gedichte geliefert, wo ich mich fragte, hat der Mann denn noch wirklich alle Tassen im Schrank?

Will schreiben und duften wie Goethe und auftreten wie Thomas Gottschalk beim Taubstummentreffen in Linz, gesponsert von »Brot für die Welt«.

Czernins Gedichtband liegt aber bereits Jahre zurück und überfordert das Kurzzeitgedächtnis der nicht mehr der Literatur, sondern dem Literaturbetrieb folgenden Leselemminge. Außerdem ist auch Czernin außerhalb des kleinen »avantgardistischen« Brandherds erklärungsbedürftig, um wie viel mehr noch Ferdinand Schmatz, dem Sebastian Kiefer mit »Dichte ich in Worten, wenn ich denke?«: Ferdinand Schmatz oder: Nur der »Avantgardist« kann Romantiker sein volle 608 Seiten Anbetung zur Last legt.

Beide, Mosebach und Kiefer, bauen sich kritische Karossen, in die sie sich selbst hineinsetzen und literarische Ansichten steuern, ohne zu merken, dass um sie herum inzwischen vollkommen veränderte Fahrzeuge unterwegs sind. Beide tüfteln sie bis hinauf ins Sublime über Dinge, die sie sich selbst nie durchgehen ließen, sprachliche und grammatikalische Fehlpässe, über die ihnen bei Studenten oder unverdächtigen Kollegen die Haare zu Berge stünden. Beide wühlen sie im inzwischen vollkommen Unbeseelten, nur beseelt vom (Kinder-)Wunsch, mal so richtig über die Stränge zu schlagen.

Deswegen geistern die Avantgarden und Manifeste noch immer durch die Köpfe der Allerbravsten, der Gedichteschreiber und Steuerzahler, der Performer und Nießnutzer, die den ausgedienten Avantgarden nicht die unermüdliche Bürde ihres Beispringens aus den ewig falschen Lagern ersparen.

Die Absicht dieses kleinen Essays besteht daher darin, aus gegebenem Anlass über die Differenz von Avantgarde und Experiment nachzudenken.


Hauptfilm


Um zu einer so betörenden Eloquenz zu gelangen, wie sie Sebastian Kiefer zumindest in der ersten Hälfte seines Vortrags, zwar nicht über das angekündigte Thema, aber über seine Ansichten zu dessen Referenzpunkten aufgeführt hat, bedarf es eines in der Tat knallharten Rahmens von Beschränktheit.

Kiefer hat an dieser Chinesischen Mauer um sein Denken zeit seines Lebens beharrlich gearbeitet. Die Details sind oft verblüffend, das Ergebnis, durchs Knopfloch der Überzeugungskraft betrachtet, häufig äußerst fadenscheinig. Kern der Rede, von der hier die Rede ist, war der von ihm postulierte Grundirrtum des 19. Jahrhunderts, Beethoven und Hölderlin als jene beiden Genies misszuverstehen, die unter den Augen des selbsternannten Hohen Priesters eines »god knows what« nun zu den Arrangeuren ihrer Insuffizienzen (mithin Klischees) reduziert werden sollten.

Beethoven kriegt in der »Fünften« kein richtiges Thema hin, Hölderlin verrennt sich in Hälfte des Lebens in tönende Klischees etc. Sebastian Kiefer hat offenbar bis jetzt noch niemand begreiflich zu machen vermocht, dass kulturelle Erdzeitalter nicht in seine Entwertungsbefugnis bzw. Umdeutungskompetenz fallen. Die Wirkung, die sie gehabt haben, und auf geeignete Empfänger immer noch haben, entziehen sie der feindlichen Übernahme durch Randfiguren des akademischen Gürtels.

Unter dem tönenden Geröll zu Hölderlins von Kiefer pharisäerhaft vom Tisch gewischten Hohen Ton war herauszuhören, dass Hölderlin das sich aus diesem für ihn und besagten Ton Ergebende final zu Ende gebracht, mithin also die eigene Leistung selbst dekonstruiert habe. Mit anderen Worten: Wo bei Hölderlin kein Hoher Ton mehr ist, muss auch keiner kommen, um diesen zu reparieren. Die Perioden der Hölderlinschen Sprache mit ihren mechanistischen Inversionen waren kontingent, also von kontingenter Beschaffenheit, und verbitten es sich, im Status ihrer Abgeschlossenheit unterbrochen oder neu aufgemischt zu werden.

Wenn man nun weiß, wie sehr der sich stets peinlich gelehrt gebende Technolekt-Automat Kiefer um die österreichischen Schlachtenbummler des fünften Aufgusses der europäischen »Avantgarden« buhlt (modalisierende Anführungszeichen genügen schwerlich, um diesen Begriff auch nur einigermaßen in Schach oder in angemessenen Grenzen zu halten), fragt man sich, wieso ihn da nie der Gedanke erreicht hat, die oben dargestellte Überlegung einmal auf die modernen Avantgarden zwischen 1850 und 1930 anzuwenden.

Wenn je sich etwas ein für alle Male erledigt hat, dann sind es Avantgardismen, die in die Hände der Nachhut gefallen sind. Sie sind Gefechte hinter den Linien, an denen alle Entscheidungen längst gefallen sind. Die Avantgarde besitzt ihren Sinn in ihrer historisch rechtzeitigen Einmaligkeit, an Vorhuten zeitlich verschoben anzuschließen, beraubt ein solches Unterfangen des Begriffsanspruchs!

Ich will hier an zwei Beispielen, Sebastian Kiefer und Martin Mosebach, ein paar Gründe für dieses Missverständnis aufzeigen und damit ein weiteres Mal meinem immer noch nicht abgeschlossenen Essay Avantgardismus als Retardiertheit vorgreifen.

Bereits in Über den Unwert des Gedichts und an anderen Stellen habe ich schon vor einem Vierteljahrhundert darauf hingewiesen, dass die Grundidee der Moderne das Pathos der Überschreitung gewesen ist, das etwa ab 1960 abgelöst wurde vom Pathos der Verknüpfung. In den Theoriediskursen ist man da inzwischen auch angekommen. So schreibt Sven Hillenkamp in seinem soeben erschienenen Buch Negative Moderne: »Anything goes ist gerade keine Formel für Unendlichkeit, sondern eine Formel der Begrenzung. Alles darf kombiniert werden aus dem ›Fundus der Vergangenheit‹. Postmoderne ist Aufhebung von Grenzen innerhalb der Grenzen des Gehabten und Gewesenen, eine Art, sich zu erinnern, keine Art, sich zu überschreiten. Die Freiheit der Postmoderne ist die Wahlfreiheit im Reich des schon Fertigen.«
Wie es aussieht, wenn man da noch nicht angekommen ist, möchte ich an beiden Beispielen mit selbstverpasster Schuhgröße 78 bis 92 zeigen. Zwei literarischen Nerds, die immer noch mit verschwollenen Augen auf die ausrangierten Avantgarden blicken, weil ihnen die gute (strenge) Erziehung und das gute (strenge) Deutsch eine abenteuerlose Jugend und eine abgeriegelte Sprache (von oft großer Eindrücklichkeit) aufgebürdet oder beschert hat, auf die sie mit grammatischen Versündigungsphantasien und enthemmten Projektionen reagieren.

Sie finden in den vermeintlichen »Ausbrechern« ihr verkörpertes Sehnsucht-Ich, ohne erkennen zu können, dass diese Trödler mit einem Jugendstil handeln, der längst zur Antiquität geworden ist und für den keine gesellschaftliche, soziokulturelle Relevanz mehr besteht.

Die Avantgarden waren die Geburtswehen der unterschiedlichsten Gestalten und Ausgestaltungen der Moderne, die durch die Bank ab 1960 pensioniert wurden.

Man kann auf sie zurückgreifen, wie auf die Romantik oder den Minnesang, wenn man etwas daraus macht, sie durchmisst, sie gegenkaschiert, sie zu stemmen vermag, aber man kann sich nicht in ihnen einnisten.

Von Franz Josef Czernin ist beim Hanser Verlag ein Band Gesammelte Gedichte mit dem sprechenden Titel staub.gefässe erschienen, der zumindest keinen Zweifel daran lässt, womit diese Gefäße befüllt sind. Dem Band ist ein Essay von Martin Mosebach hintangestellt, der streckenweise wirklich starke Nerven verlangt. So verwahre ich mich zum Beispiel mit Entschiedenheit gegen die von Mosebach bereits eingangs seines Ausatzes vorgetragene Unterstellung: »Es ist unser aller ureigene Sprache, die in Czernins Gedichten redet«.

Meine ist es nicht und die von keinem mir bekannten Menschen, der etwas zu sagen hat!

Czernin ist lediglich ein weiterer Spätableger, der aus dem geistig zerbröckelten Barock der Wiener Gruppe hervorging. Einer der nirgends die erquickende poetische Fabulierkunst vor allem des frühen Oskar Pastiors auch nur von unten berührt, jenes ebenfalls aus den alten Avantgarden vor allem dadaistischer Prägung zehrenden Rumäniendeutschen, der schließlich auch in der Übermüdung des eigenen Sprachspiels sein Leben aushauchte.

Trotz meiner großen Verehrung für H. C. Artmann und Oswald Wiener war ja die Wiener Gruppe bereits zu Lebzeiten in ihrer Peripherie ein entsaftetes Derivat des Dadaismus und des späten Expressionismus. Ganz im Unterschied zum Wiener Aktionismus eines Günter Brus oder Rudolf Schwarzkoglers, oder auch zu Teilen der Fluxus-Bewegung, da allerdings zur bildenden Kunst gehörig.

Die Radikalität der manifestgeschwängerten Avantgarden, die bei aller auch reichlich vorhandenen Borniertheit in Zürich, Berlin und Paris echte Revolte und Provokation darstellte, war bereits aufgebraucht. Hieraus erklärt sich auch, wie Ernst Jandl zum Sportsfreund aller zeitgeistigen Deutschlehrer werden konnte. Man kam sich toll vor, im Reich Goethes und Kleists sich »vom Fauste befreit« zu wissen und Spaß daran zu haben, zu intonieren, wie der Mops kotzt.
Immerhin war diese erste Nachhut von Dada und Oulipo ja in gewisser Weise nachvollziehbar durch die Stunde Null, und das sinnleere Kombinieren der Hunderte von Kilometern weit in lustigen Buchstaben watenden Konkreten Poesie konnte immerhin als Ausdruck des Bewusstseinsstands nach dem Schock der Auslöschung des alten Europas gelesen werden.
Thomas Kling kommt dann, noch eine Generation später, ebenfalls aus dieser avantgardistischen Rückständigkeit, die sich aus bereits entwurzelten und pittoresk antiquierten Mayröckerschen Schreibweisen gespeist hat, gemixt mit dieser Melange aus der Kölner Dos-Equis- und Künstler-Szene, die durch die Oehlens und Kippenbergers gerade neue Töne der Respektlosigkeit erprobte, die bei Kling später immer weiter in die postfaschistische Dröhnung ausklingen.
Ich werde versuchen, anhand einiger Beispiele zu zeigen, was Mosebach mit Kiefer in ihrer oft hochintelligenten, dennoch im speziellen Falle indoktrinierenden Betrachtungsweise von Dichtung, und da in ihrer immer wieder schwer erträglichen Verpeiltheit, verbindet.

Beide tragen sie das Cilicium, das Büßergewand des Strebers, des Musterschülers. Die Beliebigkeit der Konstruktion und die verschrobene grammatikalische Bauweise mit dem beiläufigen Mangel jeglicher Stringenz, auch der metaphorischen, öffnet unendliche Räume für die eigene Anliegen entsorgenden Höhenflüge. Bei Mosebach die katholischen, universalistischen, bei Kiefer die terminologischen.

»Kommt die Sprache zu sich, kommen wir auch zu ihr, und sie mit uns zu allen anderen Dingen und also zur Welt.«
Superverquastes leeres Gebimmel Martin Mosebachs als Antwort auf Zeilen wie: »an diese wand mir schatten spielen dunkle stücke«.

Angesichts solcher Beispiele verstehe ich, dass der Bildungsbürger sich weigerte, weiter zu existieren, und dass uns keine Mediziner mehr lesen, keine Juristen, keine Industriellen, keine Wissenschaftler, keine Politiker, sondern nur noch dieses Häuflein Elend selbst Schreibender, denen man einredet, dass es kühn ist, keinen Gedanken mehr an den Text und den Ton zu verschwenden, sondern beide im avantgardistischen Spastizismus zu versenken.

Während Mosebach im schwankenden Gebälk seiner Lyrik-Belehrung noch nach trittfestem Boden sucht, und ich möchte hier nochmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass er da, wo er zuhause ist, sehr kluge Sachen geschrieben hat, geht Kiefer gemäß der inneren Ausrichtung steilere Wege.

Er ist bis an die Grenzen des Idiotismus germanistisch befangen und aus seiner fanatischen Veranlagung heraus fähig zu luzidester Ausbaldowerung des Absonderlichen und Abseitigen. Er fragt Gott erst gar nicht, ob der ihn auf den richtigen Wegen führt, sondern er schlägt sie ein und bestätigt damit ihre Richtigkeit, – und wo er sie nicht findet, baut er sie, er konstruiert und errichtet sie geradezu.

Kiefer hat sich einen noch schmächtigeren Nachkommen aus dem Nachkommensfundus der Wiener Gruppe erkoren. Ebenfalls einen österreichischen Avantgardistenhändler, persönlich übrigens höchst sympathisch. Und diesen beschickt oder beschießt er mit 608 Seiten Hardcore-Kiefer. Allein das Inhaltsverzeichnis von »Dichte ich in Worten, wenn ich denke?«: Ferdinand Schmatz oder: Nur der »Avantgardist« kann Romantiker sein lässt die Wucht des Dekalogs oder der fünf Bücher Mose verblassen. So zum Beispiel der Titel von Kapitel III: Die Aufhebung der christlichen Sprachschöpfungsmystik im phänomenalen Gedicht: »das große babel,n«.

Kiefer verzichtet in seinem Mammutwerk darauf, sich viele Gedichte in den Weg zu legen. Eines der wenigen heißt KAFFEE und geht so: »mildumwöhnt / lächelnd / auf trieben / wildversöhnt / zuckend / zu spiegeln / dienstag / bohnung / ausgelöst / wachsend / als / fliessgestört / schauerndes Schwappen / rege / entblösst«

Damit ist Hegels Phänomenologie des Geistes auf alle Zeiten deklassiert.

Auch bei Kiefer ist die Hohlheit der »avantgardistischen« (Re-)Konstruktion der Freiraum für einen alle Zügel schießen lassenden Traum von der Raserei, der Übertretung, der Subjektsetzung, der Regelverletzung. Eine Form von Raumfahrt, die sich nicht an Galaxien stößt. Nichts auch nur einigermaßen Substantielles stellt sich ihm in den Weg. Keine Zeile mausert sich zur Gegendarstellung. Schmatz lässt alles mit sich machen. Schließlich ist er Avantgardist. Zehn Jahre älter als sein Urgroßvater.

Kiefer baut sich auf über 600 Seiten einen Nürburgring, an dem er seine Ansichten wie Rennautos an den Start bringt, untangiert von Academia oder Einspruch. Er berauscht sich an der Sinn- und Auslegungsumgarnung, weil er das Glück des vom eigenen Gehirn Gefundenen beerben, das Anschließen an die avantgardistische Kettung feiern möchte. Wie Mosebach stößt er ständig auf Lyrikklischees und anderen kalten Kaffee, von denen beide ihren Mandanten dann aber freisprechen, indem zum Beispiel behauptet wird, dass die Klischees in ihrer Reihung sich selbst destruieren.
In diese Richtung ging auch sein an Hölderlin und Beethoven verübter Vortrag anlässlich der »Falkner-Konferenz« im Literaturforum im Brecht-Haus. Kiefers Einstieg war »fulminant«, und es amüsierte mich auch, Thema eines Vortrags zu sein, in dem ich nicht vorkam. Das knüpfte wunderbar an das Referat von Jan Wilm an: Gerhard Falkners Poetik einer andauernden Abwesenheit. Ich fühlte mich geschmeichelt, die dünne Luft zwischen Hölderlin und Beethoven spielen zu dürfen. Diese dünne Luft trübte allerdings nicht meinen Blick auf das Gesagte. Und da gab es dann doch Dellen, Läsuren und schiefe Ebenen zuhauf.

Als ich Sebastian Kiefer nach seinem Vortrag ansprach und ihm mit obligatorischer Freundlichkeit erklärte, dass es sich bei meiner Hölderlin Reparatur um keine Reparatur des Hohen Tons Hölderlins handeln würde, sondern um die Reparatur einer Beziehung zu dessen Sprache, und dass ich außerdem genau diese Arbeitsweisen, die er klug, aber mit falschen Rückschlüssen referiert hatte, in ganz ähnlicher Weise angewandt hätte, und ihn schließlich an meinen unverblümten Umgang mit verbrauchten Sprachen erinnerte, die auch das Kernstück meines Opernlibrettos von A Lady Dies bilden würden, erklärte er mir schlicht, dass er mein Buch, dem er den Umgang mit Hölderlin verübelte, leider nicht besitzen, deutscher gesagt, gar nicht kennen würde, und dass er Teilnehmer der Konferenz vorher um Gedichte der Hölderlin Reparatur oder Links zu ihnen im Netz gebeten hätte – leider ohne Erfolg.

So aberwitzig diese Konstellation ist, denn er hätte ja auch mich oder den Verlag um ein Exemplar des Buches bitten oder, noch einfacher, auf einen Sprung in der Bibliothek vorbeischauen können, so viel Sinn macht sie dennoch bei Kiefer.
Er hätte nämlich auch das Buch über Ferdinand Schmatz schreiben können, ohne dass er diesen gelesen hätte, ja sogar, wenn es diesen gar nicht geben würde (er wird im Buch ja auch oft genug von Reinhard Priessnitz oder anderen verdeckt) – und die Sätze gingen ungerührt gleichen Tons und gleichen Inhalts weiter. Allein der Untertitel Nur der »Avantgardist« kann Romantiker sein, hätte genügt, die Kiefersche Maschine anzuwerfen.

Sowohl Mosebach als auch Kiefer weisen fortwährend darauf hin, warum so vieles nicht so platt oder doof oder verschroben wäre, wie es auf den ersten Blick scheint, und merken gar nicht, dass sie diesen ersten Blick oder diese mangelnde Durchdringung damit den »anderen« unterstellen, während SIE SELBST mittels vorausgesetzter überlegener Kompetenz aus dem avantgardistischen Knäuel den goldenen Faden zu ziehen wissen.
Das Ganze fußt also auf einer larvierten Selbstbewunderung, überhöht vom Trugschluss, durch Eingreifen in die Kontexte selbst in die Höhen der Avantgarden emporgehoben zu werden. Abenteuer pur. Der Schwache, der davon träumt, den Riesen zu ohrfeigen.

Gutes Beispiel, wenn Kiefer dem »poesietechnisch unbedarften« Paul Celan im »Schmatzbuch« den poesietechnisch schwer bedarften Sebastian Kiefer gegenüberstellt. Dialektisch entwächst dem die gruselige Frage, wäre ein poesietechnisch weniger unbedarfter Celan dann eventuell auch so spannend wie Schmatz oder Czernin? Nicht auszudenken!

Nun hat Kiefer nach seinem anfangs tatsächlich betörenden Exkurs zu Beethoven und Hölderlin etwa ab der Mitte seines Vortrags zum Tiefflug angesetzt, in dem er durch Wiederholungen versuchte, Minuten zu schinden, um seine Vortragszeit von 30 Minuten abzustottern. Dafür hat er sich ausgerechnet Friedrich Hölderlins Hälfte des Lebens ausgesucht und immer wieder darauf hingewiesen, dass die Birnen gelb, die Rosen wild, die Schwäne hold, die Küsse trunken und das Schwanenhaupt getunkt wird, und dass das alles ausgelutscht wäre und wie von Ludwig Heinrich Christoph Hölty oder Gottfried August Bürger, deren ersterer ihm als der absolute Gegenpol zu Klopstock vorzuschweben scheint. Ich kann dazu nur sagen: na und!

Sebastian Kiefer beginnt seinen Vortrag, für den ihm ein bisschen die Vorbereitungszeit fehlte, wie er das ausdrückte, dass bei ihm sozusagen ein bisschen die Alarmglocken angehen, wenn Hölderlin rezipiert werden soll, denn der kann sozusagen eigentlich gar nicht rezipiert werden, denn wenn Sie seinen Ton imitieren, so Kiefer, imitieren Sie nicht Hölderlin, sondern Sie imitieren das, was Hölderlin sozusagen zum Material degradiert hat, er hat nämlich die ganzen Formen, die dann nachgebildet werden, die hat er als Formen genommen, um sie sozusagen in eine ganz andere Konstellation zu bringen. Ganz anders schematisiert hätte er sie dann!

Das kann, wenn man fähig ist, dies auf eine schlüssigere Art darzustellen, durchaus zur dichterischen Verfahrensweise gehören. Absolut. Ich halte mich auch mitunter an eine solche Verfahrensweise. Dennoch finde ich es ziemlich distanzlos, wenn mir jemand Denkvorschriften erteilt, der in seiner Argumentationsverdichtung nicht über ein pausenloses »sozusagen« hinaus kommt und altfränkisch schulmeisterlich das Denken anderer als völlig unhistorisch abtut, auch wenn ich mich da nicht persönlich angesprochen fühlte.

Zweitens, und hier wiederhole ich mich, imitiere ich weder Hölderlin noch dessen (Hohen) Ton, weil ich nicht auf diese Weise vermessen oder geisteskrank bin, sondern ich fahre meine eigene Sprache durch die Hallräume Hölderlins, um diese nach dem Durchmessen wieder zu verlassen, durchaus mit vergleichbaren operativen Schritten, die Kiefer auch bei Hölderlin konstatiert hat. Und nebenbei bemerkt imitiere ich niemand, weil mir dieser Vorgang einfach zu vertraulich oder übergriffig wäre.

Die defizienten Modi der Kieferschen Argumentation enden schließlich in einer aberwitzigen Kasuistik des Gedichts Hälfte des Lebens, die weder analysierbar noch parodierbar ist, sondern die man sich »sozusagen« im Wortlaut antun muss, um ihre ganze gespenstische Schattenboxerei um die sozusagen sogenannte zersplitterte Idiomatik des Tübingers zu ermessen.
Im Gegensatz zu Mosebachs oder Kiefers Avantgardisten fünften Ranges ist Hölderlin kein Resteverwerter oder Arrangist von Nullworten, wie Kiefer sozusagen postuliert, sondern seiner sich ereignenden Sprache gewiss, seiner bescheidenen Maßlosigkeit und Gestimmtheit, immer mit Respekt zur Höhe des dithyrambischen Pindar oder des klaren und scharfsichtigen Schiller aufblickend, jenes von Adorno gekillten deutschen Riesen (ihn schreckte nicht wie Mord die Tat!), dessen hoher Ton sicher ebenfalls den atonalen Allmachtsphantasien Kiefers zum Opfer fiele.

Schließlich gibt es ja Texte wie diese: »auf schleim ihm zu schwanen bezeihung / verkappend bei werben des gaumens erzogen / gereihter vor brut in erwähnen beflissen / auf biegen für holz aber wetter / zu treffen der steine / (...)«
Wenn man mir statt Zuchthaus zehn Jahre Zeit gibt, erbiete ich mich, diesen Text ohne Einbußen an Sang- und Klanglosigkeiten auf 15.000 Seiten aufzustocken und mir anschließend den goldenen Schuss zu setzen.

Mosebach hätte, wenn er das dann alles lesen und loben müsste, keine Zeit mehr, zu beten. Weder für sich, noch für Czernin. Ich kann nur wiederholen, was ich in (47) Sätze gegen die Unruhe geschrieben habe: »Wie viele Dichter würden von ihren Gedichten umgelegt werden, wenn man der Sprache das Recht auf Selbstverteidigung einräumen würde.«

Ich kann mir das angesichts der sprudelnden Quellenlage der Anthropozän-Forschung nur als die menschheitsgeschichtlich sinnvolle Demenz vor dem biologischen Tod erklären, denn der Demente merkt auch nicht, wenn es mit ihm und der Welt zu Ende geht, er begrüßt in der Tochter seine Mutter, die ihm vom Opa den selbstgebackenen Kuchen bringt, ist mit Hieronymus Bosch in die Schule gegangen, hat endlich keine Sorgen mehr und spricht bei Bedarf post- & prostata-dadaistisch. Wohl bö fümms!

Ich fasse meine Position zusammen: Die Avantgarden waren der stolze Zusammenbruch der abendländischen Kultur und sind wie Coca Cola seither in aller Munde. Sie wirkten, auch als das namensgebende Kokain nicht mehr der stimulierende Bestandteil war, als eine der großen Erfrischungen der Kulturgeschichte, denn sie hatten das richtige Maß zur richtigen Zeit. Heimlicher Kick war unter anderem eine Befreiung von der geistigen Anstrengung, denn die war nach Hegel und Tolstoi, nach der phänomenalen Blüte des deutschen Geistes im 19. Jahrhundert, sehr anspruchsvoll und kräftezehrend geworden. Die Avantgarden kann man heute besuchen wie eine Marinetti- oder eine Picabia-Ausstellung – und zwar im Museum. Man kann sich dann auch die Frage stellen, ob eine Fotocollage, egal wie witzig man sie findet, eine sinnvolle Verlängerung Leonardo da Vincis ins 20. Jahrhundert darstellt oder nur eine plakative Wiedergabe dieses »Jahrhunderts der Destruktivität«, das dem »Jahrhundert der Bildung« folgte, wie jenes dem »Jahrhundert der Aufklärung« und immer so weiter.

Baudrillard hat die Zeit nach dem Ende der Moderne die Zeit »nach der Orgie« genannt. Ich habe mich mit so gut wie allen wesentlichen »Avantgarden« einigermaßen befasst, mit ihren Manifesten, Auftritten und Auswirkungen. Vieles, wo es das schlichtweg Blöde hinter sich lässt, ist faszinierend, aber es ist längst vorbei mit dem Geist der Subversion. Die Verbiedermeierlichung der ab 1980 Geborenen hat aufgeräumt mit dem radikalen Denken.

Mit sprachlichen Experimenten ist es wieder etwas anderes. Die besitzen ihre Gültigkeit überzeitlich und haben immer einen sehr wichtigen Stellenwert in meiner Arbeit, vor allem in der Dichtung. Dabei meide ich alle Spielarten des Grunzens und der Holzbläserei oder der Trockenbauweise, sondern versuche, diese Experimente Versuchsanordnungen zu unterstellen, mit denen ich etwas herausfinden möchte, etwas erreichen und entdecken, das auch mit dem Risiko verbunden sein kann, dass es einem dann um die Ohren fliegt.

Experiment ist das, was dem Gelingen oder der Findung vorausgeht, und nicht die Heim- und Häkelveranstaltung, einen besonders verunglückten Satz aus sich herausdrangsaliert zu haben, der dann im entgeisterten Feuilleton als Arbeit an der Sprache weiterrumort.

Bereits in den 1980er Jahren habe ich mich in gebrochenes deutsch, in gloriam in expressis und vielen anderen Gedicht-Zyklen mit Sprachmontagen und experimentellen Grammatiken befasst, später in den materien und zuletzt in den Material (Schlachten) am Ende der Hölderlin Reparatur, ohne mich je als »Avantgardisten« auszugeben. Ich trage ja auch keinen Zylinder und Gehrock, wenn ich ins Kino gehe. Und ich fliege lieber mit Flugzeugen, die technisch auf dem neuesten Stand sind, als mit Propeller-Maschinen aus den 1920er oder 1930er Jahren.

Nun ist wie gesagt die »avantgardistische Dichtung« zum Beispiel von Schmatz oder Czernin ein gefundenes Fressen für den maßlosen Bewegungszwang solcher »Gehirntiere« wie Mosebach oder Kiefer, weil ihnen diese Texte keinen inneren Widerstand entgegenstellen. Sie sind nirgends bindend, man kann sie mit einem Kochrezept, einer Paragraphensammlung oder einer Reparaturanleitung besprechen. Was sich daraus erhellt, ist immer der vermeintliche unfehlbare Gigant. Er kann in diesen Texten nach Belieben abhausen, und kein Gedanke oder keine Konstruktion wird je von ihm dafür Rechenschaft fordern.

Wie es dann aussieht, wenn der Text etwas »Fassbares« transportiert, stellt sich heraus, wenn Mosebach über Heine spricht, denkt oder schreibt. Da wird dann schon gleich mal falsch zitiert, was in diesem Fall fast unerträglich ist, denn in dem berühmten Gedicht Deutschland. Ein Wintermärchen heißt es nicht »Verprassen«, sondern »Verschlemmen soll nicht der faule Bauch, / Was fleißige Hände erwarben«.

Da macht Mosebach eine in diesem Falle völlig abwegige Konstruktion einer verpönten sozialen Gerechtigkeit daraus, wo aus den Versen vorher unzweideutig klar hervorgeht, dass der Klerus und die christliche Religion gemeint sind. Die Priester und die Mönche: » (...) sie tranken heimlich Wein / Und predigten öffentlich Wasser.«

Sie sang das alte Entsagungslied,
Das Eiapopeia vom Himmel,
Womit man einlullt, wenn es greint,
Das Volk, den großen Lümmel.

Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
Ich kenn auch die Herren Verfasser;
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.

Ein neues Lied, ein besseres Lied,
O Freunde, will ich euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.

Wir wollen auf Erden glücklich sein,
Und wollen nicht mehr darben;
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,
Was fleißige Hände erwarben.

Die Umdeutung in einen antisozialen Apell dient allein Martin Mosebachs Intentionen in seinem Essay Anarchismus der Barmherzigkeit, und nur wenn er diesen Essay ganz im Stile Czernins verfasst hätte, käme Mosebach nicht mit der Wahrheit oder der Richtigkeit ins Gehege.

Und nun zu Sebastian Kiefers »Hälfte des Kapierens«.

Nach enormen, wie Hinkelsteine gesetzten Behauptungen, was alles »klanglos und angegriffen ist, nur schematisiert, schematisierte Konfigurationen aus Nullworten, Sprechfloskeln«, die jeder schreibende Mensch des 18. Jahrhunderts auf billigste Weise seinem Leser andrehte, eben »dieses einfallsloseste Minimum«, hebt Kiefer an, Originalton 16.4.2016: »Mit gelben Birnen und voll mit wilden Rosen, was passiert da? Es gibt nur einen Gegenstand, der mit gelben Birnen hänget, und das ist der Ast eines Baumes, und nur diesen gibt es, in zweierlei Sinne, die Birnen hängen an dem Ast, oder der Ast, oder und der Ast, hängt in etwas anderes. Und dieses Subjekt, was nur gemeint sein kann, das denken Sie mit, das spricht er (Hölderlin) nicht an. Die Regie über das unbewusste Denken ist ein ganz wesentliches Merkmal des hohen Sprechens, Regie über das unbewusst Mitgedachte, daher kommt das Geheimnis, das denken Sie mit, das spricht er nicht aus. Jetzt kommt der Bruch: und voll mit wilden Rosen, das können nicht mehr die Bäume sein, weil das sind Strauchrosen, wilde Rosen sind Strauchrosen, die können nur auf dem Boden sein, und wo geschieht der Bruch? Und voll mit wilden Rosen. Da kommt das Adjektiv voll drin vor, wenn etwas voll mit wilden Rosen ist, dann ... Etwas ist erfüllt oder gefüllt oder so was mit wilden Rosen, es ist vollkommen unstimmig der Idiomatik nach, das ist das Unpoetische daran. Das ist vollkommen unstimmig, unter anderem was er gemeint hat. Er tut ja so, als wäre das derselbe Gegenstand wie der Baum, der voll mit wilden Rosen ist. Ist er aber nicht, er kann das gar nicht sein. Er hat sozusagen unbewusst, unterschwellig die Objekte ausgetauscht. Aber das voll, das sozusagen zu den wilden Rosen gehört, das würde natürlich der Idiomatik nach zu den gelben Birnen passen.«

Unterbrechen wir an dieser Stelle das Trauerspiel tollkühnen Denkens in den »trunkenen« Armen von Irrtum und Aberwitz. Es ist dieselbe Unfehlbarkeitsrhetorik, die auch Mosebach in seinem Nachwort an den Tag legt, die in der Uferlosigkeit avantgardistischer Schreibweisen keine Begrenzung erfährt, die sich nirgends »hart an den (Tat)Sachen stößt«, und damit den egozentrischen, kritischen und immer auch rasenden Selbstbefriedigungsprozess unterbricht.

Das Problem mit Gedichten ist wie so oft der nicht vom poetischen Schauen-Können getrübte Verstand, deswegen habe ich auch irgendwann den Satz formuliert: »Der Intellektuelle hasst den Dichter, weil er zwar seine schwierigen, nicht aber seine einfachen Sätze versteht.«

Kiefer besitzt reichlich poetologisches Rüstzeug, aber ihm fehlt völlig die poetische Vorstellungskraft oder die poetische Ader. Hinzu kommt das inzwischen überall grassierende Unwissen bezüglich der Natur. Der Anschauung. Wenn Kiefer sich vorstellen könnte, wovon Hölderlin redet, könnte er sich seinen ganzen langen Ast sparen. Er müsste nur lesen, was dasteht. Bei den wilden Rosen Hölderlins handelt es sich mit ziemlicher Sicherheit um die Rosa canina, die Hundsrose, beim Birnbaum sehr wahrscheinlich um die Holzbirne, auch Wildbirne genannt. Beide Pflanzen brauchen viel Sonne und vertragen keine nassen Standorte. Es muss sich also um ein Böschungsufer bzw. um eine Uferböschung handeln, und zwar auf der Südseite des Sees. Also einen Hang, ein Land, das ins Wasser hängt.

Nur hier sind beide Bedingungen gegeben. Die Hundsrose, die Kiefer immer wieder eine Strauchrose nennt, obwohl man diesen Begriff im allgemeinen bei Kulturrosen verwendet und nicht bei Wildrosen, wächst überhängend. Es ist die bei wilden Rosen, auch bei der Kartoffelrose, die aber im 18. Jahrhundert noch nicht verbreitet war, die übliche Wuchsform. Dass sie auf dem Boden wächst, wie Kiefer insistiert, versteht sich von selbst. Auch die Birnen neigen zu hängenden Zweigen, besonders, wenn sie reife Früchte tragen.

Egal an welch unterschiedlichen Stellen in Hölderlins Arbeitsbüchern sich Teile dieses Gedichts finden, sind sie nicht wild zusammengefügt, sondern das ist eine ganz übliche Arbeitsweise, wenn Gedichte aus der Sprache entwickelt werden und keinen Bericht über einen Vorgang abliefern wollen, wie das bei narrativen Gedichten passiert. Nun schreibt aber Hölderlin, geistig im Vollbesitz der gelben Birnen (hier wird der Baum mitgedacht) und der wilden Rosen, »hänget (...) das Land in den See«. Das Land hängt mit den reifen Birnen und voll, also überwuchert von wilden Rosen, in den See. Das ist eben gerade poetisch und keineswegs unstimmig und wurde bisher auch verstanden, vielleicht einfach auch, weil es so da steht, was ja auch bei Hölderlin vorkommen kann. Ein Uferhang, der voll ist mit ebenfalls hängenden wilden Rosen.


Hälfte des Lebens

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.


Hölderlin setzt hier die, wie Kiefer meint, abgegriffenen Adjektive wie ästhetische Ideen, in kühner Reduktion, vollkommen abstrakt. Der schaukelnde Ton der Vokale ist unübertrefflich. Hölderlin arbeitet fast bereits wie ein Cézanne oder ein van Gogh. Das Binnenspiel von »gelben« – »wilden« – »holden« – »trunken« – »tunkt« ist wie schaukelndes Wasser, sinnlich wiedergegeben, und wird gebraucht, um den harten Karren des zweiten Verses dagegen zu fahren.

So einfach ist das – und scheinbar so schwer (zu verstehen).

Vielleicht wäre es besser, Sebastian Kiefer würde seine Alarmglocken zwischen die Beine nehmen und in die Bibliothek eilen, um die Bücher zu lesen, meine Hölderlin Reparatur zum ersten Mal, und die von Hölderlin mal etwas gelassener.


Gerhard Falkner

aus:
Gerhard Falkner: »Bekennerschreiben – Essays, Reden, Kommentare, Interviews und Polemiken«, mit Fotografien und Video-Stills von Julius von Bismarck, 600 Seiten mit zwei Farb- und fünf s/w-Abbildungen, Euro 32,00, starfruit publications, ISBN 978-3-922895-30-5